Michel Mettler : Die Spange

Die Spange
Die Spange Originalausgabe: Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 2006 ISBN 3-518-41755-X, 351 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Im Mund des Musikstudenten Anton Windl werden Überreste einer prähistorischen Anlage entdeckt. Dr. Berg bringt Anton in seiner Praxis unter, um das einmalige Phänomen genauer zu untersuchen. Mit einer neuartigen Erfindung gelingt es ihm, Antons Erinnerungsvermögen zu stimulieren, aber nun ist es schwierig, den Redefluss des Patienten zu kanalisieren ...
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Kritik

Für seinen Roman "Die Spange" hat Michel Mettler sich einen aberwitzigen, surrealen Plot ausgedacht. Man kann in "Die Spange" eine verschrobene Parodie auf den Fortschrittsglauben der Wissenschaft sehen, aber entscheidend ist weniger die "Message" als die Atmosphäre.
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Anton Windl – über sein Alter und seine Herkunft ist nichts bekannt, aber nach seinen eigenen Angaben handelt es sich bei ihm um einen Musikstudenten – wird von seinem Hausarzt Dr. Berg – Anton nennt ihn seinen „Vertrauensarzt“ – im Frühjahr 1990 an Dr. med. dent. Simeon Masoni überwiesen.

Viele von uns glauben, dass der Arzt das System verkörpert, das uns normalisieren will. (Seite 63)

In Antons Mund entdeckt der Zahnarzt so Erstaunliches, dass er seine Termine bis auf weiteres absagen lässt und den Patienten bittet, im Ruheraum der Praxis zu übernachten, damit er gleich am nächsten Morgen zusammen mit Dr. Berg und einem ortsansässigen Mundarchäologen weiterarbeiten kann. Von seinem Hausarzt erfährt Anton schließlich, um was es geht: Dr. Masoni hat in seinem Mund Reste einer 5100 Jahre alten prähistorischen Anlage gefunden, und zwar in Form einer Spange.

Am sechsten Tag setzen die Forscher schweres Räumgerät ein.

Doch davon bekam ich wenig mit, da mein Mund weiträumig eingeschläfert worden war und Planen die Grabungsstätte bedeckten. (Seite 28)

Am 13. Mai 1991 bricht eine internationale Bergungstruppe zur Fundstelle auf. Anton Windl kann die Expedition live am Praxismonitor verfolgen. Zweieinhalb Jahre später, am 9. Dezember 1993, bohrt sich vierzig Kilometer südwestlich von Mérida ein Titanmeißel in seinen Schädel.

Zuständige Regierungen und beteiligte Institute verhandeln über das weitere Vorgehen, Medienkontakte werden hergestellt, und Experten diskutieren über die Forschungsergebnisse; es gibt aber auch Störungen durch Zugeständigkeitskonflikte und unauthorisierte Veröffentlichungen.

Dr. Berg setzt durch, dass die Sensation der Öffentlichkeit zugängig gemacht wird und lässt zu diesem Zweck seine Praxis durch einen Neubau erweitern, in dem er Anton Windl dauerhaft unterbringt.

Donatoren gegenüber sprach Dr. Berg von einer „sinnvollen zivilen Nutzung“ des Patienten, mit der sich nach und nach auch ein Teil der Forschungskosten wieder einspielen ließe. Man hatte an einen rollstuhlgängigen Neubau gedacht, sodass ich auf der Liege vom klinischen zum Ausstellungstrakt gefahren werden könnte […]
Der assoziierte Pathologe Lindner entwickelte ein Konzept, wonach ich bei sechs Minusgraden und 98 Prozent Luftfeuchtigkeit hinter einem winzigen Guckloch liegen sollte. Das Glas wäre so zur Lupe geformt, dass mein Mund in nötiger Detailklarheit erschiene. Man sah vor, mich auf eine um 45 Grad geneigte, der Scheibe zugekehrte Liege zu betten, der Mund von rückseitig angebrachten Schädelklemmen eröffnet. (Seite 30)

Angereisten Koryphäen aus Stralsund, Memphis, Johannesburg und Innsbruck erläutert Dr. Berg die Entdeckung:

Es handelt sich um einen mundarchäologisch einzigartigen Fund. Erstmals können an einer Spange aus diesem Zeitraum Studien durchgeführt werden, die aus dem Bezug zum lebenden Körper Anschaulichkeit gewinnen. Sehr hinderlich ist allerdings, dass der Patient kaum erzählen kann. Seine Auskünfte beschränken sich zumeist auf das aktuelle Befinden. (Seite 64)

Auf Dr. Bergs Kritik an seiner Erinnerungsfähigkeit entgegnet Anton Windl:

Meine Erinnerung war immer bestens!
War? Wann war sie bestens?
Früher.
Wann früher?
Das weiß ich nicht mehr so genau. (Seite 35)

Anton Windl erinnert sich beispielsweise an seinen ersten Besuch bei einem gewissen Tom, mit dem er später befreundet war und auf dessen Rat hin er Dr. Berg konsultierte:

Wir betraten die Wohnung durch den Wintergarten. Er ging zur Straße, nur wenige Meter vom Tramgeleise entfernt öffnete sich knarrend die zu kleine, mit Karton geflickte Balkontür […] Als Abtreter diente ein winziges Kunstrasenstück aus dem Dekormarkt. Einige Lampions hingen an gelber Wäscheleine, in einer Ecke stand nadellos ein Weihnachtsbaum vom letzten Jahr […]
Tom stand neben dem Bett. Ich fragte mich, ob er jetzt wohl endlich mal seinen ewig ungelüfteten Hut heben würde, um zu offenbaren, was sich darunter verbarg: ein Implantat, eine aufs künstliche Schädeldach gepflanzte Spielzeugampel oder auch nur eine bescheidene Lichtung mit Blockhaus und einer Kolonie Stangenbohnen. (Seite 56f)

Als der Proband auf seine Schulzeit zu sprechen kommt, macht Dr. Berg eifrig Notizen.

Schon früher war ich durch wiederholte Emission von weicher Gammastrahlung aufgefallen. Man hatte mich deshalb der Klasse der „Soft Gamma Repeater“ zugeordnet. Es wurde kein Aufhebens darum gemacht – wir benutzten denselben Pausenhof wie die andern. Die Quelle lag im Bereich meines Bauches. Dort mussten mehrfach größere Materialmengen kollabiert sein. Das hatte schon in jungen Jahren begonnen […]
Das Phänomen wurde von verschiedenen Satelliten aufgezeichnet. Geblendet von dem grellen Blitz, versagten allerdings die meisten Detektoren im entscheidenden Moment. Sie konnten nur noch das minutenlange Abklingen verfolgen, nachdem der Spitzenwert überschritten war […] (Seite 100f)

Immer wieder versucht Dr. Berg, Antons Redefluss zu kanalisieren. Vergeblich. Der Patient lässt sich nicht kontrollieren und referiert beispielsweise über die Riten des Rhaeland-Menschen, „eines grobknochigen Abkömmlings der einst gefürchteten Humuskocher“ (Seite 107). In Rhaeland gab es so genannte Spangenkinder, Kinder, die bald nach der Geburt und auf jeden Fall vor dem Beginn des Zahnwachstums, eine Zahnspange eingesetzt bekamen. Diese Maßnahme verbesserte die Resonanzfähigkeit des Kiefers und führte dazu, dass die Spangenkinder später ungewöhnliche Rufweiten und Singhöhen erreichten. Das war für die Familie prestigeträchtig. Arsenij, das letzte Spangenkind, bleibt einer Legende zufolge ewig jung.

Allmählich findet Dr. Berg den Mund für zu „kleinteilig“ und meint: „Wir müssen den Blick weiter fassen.“ (Seite 130)

Mich interessiert dieses Krankheitsbild, sagte der Doktor – wenn es denn ein Leiden und nicht doch, wie Sie andeuten, eine Begabung noch unbekannten Ausmaßes ist. Die Spezialisten reden von „sensorieller Expansion“; die Selbstwahrnehmung dehnt sich aus, sie beginnt, immer größere Anteile der Wirklichkeit zu umfassen – bis ins Entlegenste hinaus. (Seite 133)

Nach dem Scheitern wochen- oder sogar monatelanger Experimente mit Medikamenten zur Überwindung von Antons Afabulie (Erzählschwäche) steht eines Tages ein Chromstahl-Möbel im Behandlungsraum, das wie ein Industriekühlschrank aussieht. Im Inneren ist ein Drehstuhl festgeschraubt, auf dem Anton Platz nehmen soll. Es handelt sich um den Prototyp eines so genannten Narrators, der Blockaden in Antons Insula fabulans (Erzählzentrum) lösen soll. Dr. Berg zitiert einen Neurologen:

Die Imagination des Probanden gleicht einem Schneebrett, und wir bringen kleine Sprengladungen an, um es kontrolliert abrutschen zu lassen. (Seite 162)

Obwohl Anton in seinem Aufenthaltsraum mehrere Ertüchtigunsgeräte zur Verfügung stehen, macht ihm die Bewegungsarmut zu schaffen, mehr aber noch setzt ihm die Langeweile zu. Deshalb zerlegt er eines Nachts den Narrator und sucht „die Mündung des Erzählflusses“ (Seite 196). Als er dies am nächsten Morgen Dr. Berg gesteht, wundert er sich, dass der Arzt verhältnismäßig ruhig bleibt – bis dieser ihm verrät, dass es sich bei dem Gerät um ein Placebo handelte.

Neue Hoffnungen setzt Dr. Berg inzwischen auf ein anderes Gerät, das wie eine außergewöhnlich stark verdrahtete Schreibmaschine aussieht: Es ist ein Auditor.

Es gab keine Anzeige, aber mehrere Kabel und an deren Enden Elektroden für Hautkontakt, aber auch welche mit Krokodilstecker. Man fror meine Ohrläppchen ein und bestrich sie mit einer scharf riechenden Flüssigkeit, dann wurde eine Öse eingestanzt […] Es gab weitere Elektroden für jene Stelle, die ich nicht zu nennen brauche. Es wurden Reaktionen aller Art gemessen, es konnte also kein rein zerebrales Interesse sein […] (Seite 212)

Anton erzählt nun Dr. Berg von einer Zeit, als man an ihm Techniken zur Vollstreckung der Todesstrafe ausprobierte:

So weit man zurückdenken kann, haben die Menschen nach möglichst zuverlässigen Geräten und Verfahren gesucht, um die verhängte Todesstrafe sauber zu vollziehen […] (Seite 231)

Die erste Versuchsserie wurde im ballistischen Laboratorium von Runstadt durchgeführt und trug den Arbeitstitel „Die Tode des O“. Anton hatte jeweils einen Bericht über sein subjektives Befinden zur Todeszeit abzugeben. Schließlich brachte man ihn für weitere Experimente in eine „Fixzelle“, die einem Strandhäuschen glich, jedoch aus Metall war und in Gesichshöhe eine Luke aufwies für den Fall, dass noch kommuniziert werden musste. Um Antons Kopf millimetergenau zu arretieren, wurde er festgeschraubt. Dazu hatte man eigens an der Hinterseite seines Schädels zwei Gewinde angebracht. Eine Halskrause diente „zugleich als Blutfänger und Arretierungsvorrichtung“ (Seite 234). Während die Forscher alle möglichen Kombinationen von Geschossen und Einschussgebieten ausprobierten, erfanden sie nebenbei den später zur Schweineschlachtung verwendeten Bolzenapparat. Das war zur Zeit des Burenkriegs.

Mein Kopf war danach, wie mir immer wieder fotografisch nachgewiesen werden musste, eine blutige Masse. (Seite 237)

Auch eine Längsspaltung der Wirbelsäule wurde getestet. Schließlich schraubte man am Alamogordo Bombing Range in der Wüste von New Mexico eine Liege, in der Anton festgeschnallt war, auf einen dreißig Meter hohen Stahlturm. Während der weiteren Vorbereitungen, die sechs Monate dauerten, wurde er künstlich ernährt. Dann zündeten die Forscher an dem Stahlturm eine Atombombe. Anton war es, als ginge plötzlich die Sonne in ihm auf.

Einmal wurde Anton von einem Meteoriten getroffen.

Ein Himmelskörper von mindestens 10 Kilometern Durchmesser hatte mein Gaumenbett in Scheitelrichtung durchschlagen und die Nasen-Stirnhöhlen passiert, bis seine kinetische Energie im Hirn zur Neige ging, wo die noch nicht verdampften Teile steckenblieben, umschlossen von angeschmorter, schnell verkrustender Hirnsubstanz. (Seite 278)

Anton erinnert sich auch, dass man ihm eine Spange eingesetzte hatte, bevor die ersten Zähne kamen. Die sollten nämlich in die Spange hineinwachsen, damit man sie später nicht mehr zu korrigieren brauchte.

Wahrscheinlich hatten frühere Versuche gezeigt, dass natürliches Zahnwachstum niemals die hohen Normierungsansprüche der modernen Mundwissenschaft erfüllt. (Seite 294)

Später suchte Anton die Pädiaterin Dr. Katrin Labhart auf: Er wollte aussehen, als ob er nie eine Spange getragen hätte. Zurück zur Natur, gewissermaßen. Mühsam überzeugte ihn Dr. Labhart, dass dieses Anliegen unmöglich erfüllt werden konnte.

Schließlich teilt Dr. Berg seinem Patienten mit, dass er dabei ist, ein Buch über ihn zu schreiben und gibt ihm das noch unvollständige Manuskript: Anton soll es lesen und Kommentare am Rand notieren. In einer Pressekonferenz über Dr. Bergs Buch rät Anton Windl den Anwesenden:

Sie tun gut daran, das nicht allzu sehr zu personalisieren. Ich denke, dass es in dem Buch um die menschliche Existenz im Allgemeinen geht und erst in zweiter Linie um meine Person. Aber restlos geklärt ist das wohl noch nicht […] Suchen Sie nicht Hilfe bei mir, sondern tun Sie das Naheliegende: Lesen Sie selbst. (Seite 349)

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Für seinen ersten Roman – „Die Spange“ – hat sich der Schweizer Autor, Dramaturg und Musiker Michel Mettler (*1966) einen aberwitzigen Plot ausgedacht. Der Ich-Erzähler, ein angeblicher Musikstudent, der sich Ärzten anvertraut, wird als begehrtes Forschungsobjekt eingesperrt und absurden Experimenten unterzogen, ohne sich dagegen zu wehren. Die Ausgeliefertheit des Protagonisten, die Unbegreiflichkeit dessen, was mit ihm geschieht, die Surrealität des Geschehens und die Abstraktheit der sachlich-nüchternen Darstellung erinnern an Franz Kafka. Man kann in „Die Spange“ eine verschrobene und zuweilen ausufernde Parodie auf den Fortschrittsglauben der Wissenschaft im Allgemeinen und die menschenverachtende Apparatemedizin im Besonderen sehen, aber entscheidend ist weniger die „Message“ als die Atmosphäre des Romans.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2006
Textauszüge: © Suhrkamp Verlag

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