Anne Michaels : Fluchtstücke

Fluchtstücke
Originalausgabe: Fugitive Pieces McClelland and Steward, Toronto 1996 Fluchtstücke Übersetzung: Beatrice Howeg Berlin Verlag, Berlin 1996 Taschenbuch: Berlin Verlag, Berlin 2004
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Polen, 1940. Als 7-jähriger Junge muss Jakob hilflos mit ansehen, wie die Deutschen seine Eltern erschlagen und seine Schwester verschleppen. Der griechische Geologe Athos findet ihn auf dem Gelände einer polnischen Ausgrabungsstätte und nimmt ihn mit in sein abgelegenes Haus auf der Insel Zakynthos. Athos wird für Jakob zum Vaterersatz, Lehrer und Freund. 1950 wandern die beiden nach Kanada aus. Acht Jahre nach Athos' Tod kehrt Jakob mit seiner zweiten Ehefrau nach Griechenland zurück ...
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Kritik

Die Handlung des Romans "Fluchtstücke" von Anne Michaels entfaltet sich langsam, mehr in poetischen Impressionen, als in Aktionen. Dabei gleitet die Sprache mitunter ins Schwülstige ab.
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Polen, 1940. Jakob Beer, ein siebenjähriger Junge, versteckt sich in einem Schrank. Als er wieder herauskommt, steht die Wohnung in Flammen und seine Eltern liegen in ihrem Blut am Boden. Von seiner acht Jahre älteren Schwester Bella fehlt jede Spur. Deutsche haben seine jüdischen Eltern erschlagen und seine Schwester verschleppt. Verstört rennt Jakob in den Wald.

Einige Tage später findet ihn der fünfzigjährige Geologe Athanasios („Athos“) Roussos in der archäologischen Ausgrabungsstätte Biskupin („polnisches Pompeji“) und schmuggelt ihn nach Griechenland, nimmt ihn mit in sein abgelegenes Haus auf der Insel Zakynthos. Athos wird für Jakob zum Vaterersatz, Lehrer und Freund. Während Athos ein wenig Jiddisch und Polnisch lernt, versteht Jakob bald Englisch und Griechisch. Athos erzählt seinem Schützling Geschichten und liest ihm aus Büchern vor. Die Bildung lenkt Jakob tagsüber von seinen schlimmen Erinnerungen ab.

Ich versuchte, die Bilder zu begraben, sie mit griechischen und englischen Wörtern zuzudecken, mit Athos‘ Geschichten, mit all den geologischen Epochen. (Seite 108)

Während die Deutschen auf Zakynthos sind, muss Jakob sich erneut verbergen.

Während ich mich in dem strahlenden Licht von Athos‘ Insel versteckte, erstickten Tausende im Dunkeln. Während ich im Luxus eines Zimmers Unterschlupf fand, wurden Tausende in Backöfen, Abflusskanäle und Mülltonnen gestopft. In den Kriechverschlägen doppelter Zimmerdecken, in Hühner- und Schweineställen.

Ein Junge in meinem Alter versteckte sich in einer Kiste; nach zehn Monaten war er blind und stumm, Arme und Beine waren verkümmert. Eine Frau stand anderthalb Jahre lang in einem Schrank, ohne sich jemals setzen zu können; das gestaute Blut ließ ihre Venen platzen. Während ich mit Athos auf Zakynthos lebte, Griechisch und Englisch lernte, Geologie, Geografie und Poesie, füllten Juden alle Winkel und Spalten Europas aus, jeden zugänglichen Raum. Sie vergruben sich in fremden Gräbern […] Während mich Athos über Hang- und Fallwinde belehrte, über arktischen Rauch und das Brockengespenst, wusste ich nicht, dass man Juden auf öffentlichen Plätzen an den Daumen aufhängte. Ich wusste nicht, dass man sie in offenen Gräben verbrannte, weil die Öfen nicht ausreichten, und dass die Flammen mit menschlichem Fett angefacht wurden. Während ich den Geschichten von Forschern an den weißen Flecken der Erde (schneebdeckt, salzgesättigt) lauschte und in einem weißen Bett schlief, entwirrten Männer die Glieder von Freunden in Massengräbern, von Nachbarn, von Frauen und Töchtern, und das Fleisch zerfiel ihnen unter den Händen. (Seite 55ff)

Erst als die Deutschen Zakynthos im September 1944 verlassen, kann Jakob sich frei bewegen – aber die Albträume bleiben.

Fünf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs verlassen Athos und Jakob die Insel. Athos, der nach dem Ersten Weltkrieg und dem Tod seiner Frau Helen am Scott Polar Research Institute in Cambridge studiert hatte, folgt einem Ruf an die Universität von Toronto. Zwischenstation macht er mit Jakob in Athen, bei seinem langjährigen Freund Professor Kostas Mitsialis und dessen Ehefrau Daphne.

In Toronto arbeitet Athos an einem Buch mit dem Titel „Falsches Zeugnis“, in dem er nachweisen will, wie die Nationalsozialisten die Geschichte verfälschten. Beispielsweise ließ Heinrich Himmler die Ausgrabungsstätte Biskupin zerstören, weil der Beweis einer frühen Hochkultur auf polnischem Boden nicht in sein Weltbild passte.

Jakob, der in Toronto Literatur, Geschichte und Geografie studiert und mit Übersetzungen Geld verdient, befreundet sich mit dem Kommilitonen Maurice Salman. Nach Athos‘ Tod stellt er das Buch „Falsches Zeugnis“ fertig und veröffentlicht es.

Er heiratet die Arzttochter Alexandra („Alex“) Gillian Dodson Maclean.

Sie war wie die Freiheit auf der anderen Seite der Grenze. (Seite 149)

Doch nach zwei Jahren Ehe kehren die Albträume zurück. Weil Jakob sich nicht von seiner Vergangenheit befreien kann, zerbricht die Ehe.

Acht Jahre nach Athos‘ Tod fliegt Jakob nach Griechenland. Kostas und Daphne sind ebenfalls gestorben. Athos‘ Haus auf Zakynthos wurde bei einem Erdbeben zerstört. Nachdem Jakob die Urne mit der Asche seines Freundes in der Ruine begraben hat, reist er weiter zur Insel Hydra und zieht in Athos‘ leer stehendes Elternhaus. Dort schreibt er Gedichte.

Bei einem seiner jährlichen Besuche in Toronto, bei Maurice Salman, dessen Frau Irena sowie den Söhnen Josha und Tomas, lernt Jakob Michaela kennen, die wie Maurice in einem Museum beschäftigt ist. Obwohl sie fünfundzwanzig Jahre jünger als Jakob ist, werden die beiden ein Paar. Michaela lebt mit Jakob auf Hydra und hilft ihm, sich von der Vergangenheit zu befreien.

Im Frühjahr 1993 werden Jakob und Michaela auf einem Gehsteig in Athen von einem Auto angefahren und erliegen ihren Verletzungen.

– – –

Auf einer Geburtstagsfeier von Irena hatten der Dichter und dessen Frau Ben kennen gelernt.

Bens Eltern hatten den Holocaust überlebt, waren vier Jahre vor seiner Geburt aus einem Vernichtungslager befreit worden. Danach konnte es für sie keine normale Welt mehr geben. Sie wanderten nach Kanada aus.

Erst nach dem Tod seiner Eltern, als er in ihren Sachen ein im Juni 1941 aufgenommenes Foto entdeckte, erfuhr Ben, dass er eine Schwester und einen Bruder gehabt hatte: Hannah und Paul. Und seine Frau Naomi erzählt ihm, ihre Schwiegermutter habe ihr kurz vor dem Tod anvertraut, dass sein Name nicht die Abkürzung von Benjamin ist, sondern das hebräische Wort für Sohn: Die Eltern gaben dem kleinen Jungen bewusst keinen Namen, weil sie hofften, ihn auf diese Weise vor einem frühen Tod bewahren zu können.

Auf der Suche nach Jakobs Notizbüchern reist Ben nach Hydra und durchsucht wie ein Archäologe Athos‘ Elternhaus, in dem zuletzt Jakob und Michaela gewohnt hatten. Vier Monate nach seiner Ankunft auf Hydra nimmt er die deutsche Touristin Petra, die seit drei Monaten seine Geliebte ist, mit in das Haus. Petra, die begreift, dass es sich bei dem Anwesen um eine Art Weihestätte handelt, zieht sich nackt aus, und sie lieben sich auf dem Fußboden im Schlafzimmer. Als Petra danach, immer noch nackt, Bücher aus dem Regal nimmt, aufschlägt und achtlos herumliegen lässt, protestiert er.

Ben findet nicht nur zwei Notizbücher Jakobs aus dem Jahr 1992, sondern auch einen Schal seiner Frau Naomi. Hatten Jakob und Naomi ihn betrogen?

Zurück in Toronto, wagt er Naomi nicht zu fragen, aber er verrät ihr auch nichts von seinem Seitensprung.

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„Fluchtstücke“, der Debütroman der kanadischen Lyrikerin Anne Michaels (*1958), besteht aus einem kurzen Prolog und zwei Teilen. Im ersten Teil erzählt der überlebende Sohn einer im Holocaust ermordeten Familie seine Geschichte in der Ich-Form; im zweiten kommt der Sohn von Eltern zu Wort, die aus einem Vernichtungslager befreit wurden, und auch dieser Teil steht in der ersten Person Singular. „Fluchtstücke“ kreist um die Frage, wie jemand zu leben vermag, der seine Angehörigen im Holocaust verloren hat, wie man vor allem durch die Liebe eines anderen Menschen von traumatischen Erinnerungen befreit werden kann.

Die Erinnerungen, denen wir ausweichen, folgen uns und holen uns ein wie ein Schatten. (Seite 238)

Die Handlung entfaltet sich langsam, mehr in Bildern und Impressionen, als in Aktionen. Außerdem sind viele Fakten eingestreut. Die sollen vielleicht Jakobs Bemühungen veranschaulichen, sich durch Bildung von den quälenden Erinnerungen abzulenken, aber die Passagen wirken so, als ob Anne Michaels angelesenes Wissen vorführen wollte, und bei den folgenden Sätzen sind sachliche Erläuterungen und Legenden durchmischt:

Vor dem achtzehnten Jahrhundert nahm man an, der Blitz sei eine Emanation der Erde und er entstehe durch die Reibung der Wolken […] Den Blitz kann man nicht zähmen. Er ist eine Kollision von Hitze und Kälte.
Hundertmillionen Volt sammeln sich zwischen Erde und Wolke, bis ein weißglühender Keil herunterschießt, gefolgt von einem weiteren und noch einem weiteren – das Zick-Zack der Ionen, die vom Boden aufsteigen und dem Blitz einen Tunnel bahnen –, im Bruchteil einer Sekunde. Die umliegenden Luftmoleküle glühen auf.
[…] Der Blitz hat Glas verdampfen lassen. Er schlug in Kartoffelfelder ein und kochte die Kartoffeln in der Erde, sodass die Erntemaschine sie perfekt gebacken aus dem Boden warf. Der Blitz hat Gänse im Flug geröstet, sodass sie als essbarer Braten vom Himmel fielen.
[…] Kugelblitze kommen durch ein Fenster, eine Tür, einen Kamin ins Haus. Still kreisen sie im Zimmer, sehen das Bücherregal durch, und als könnten sie sich nicht entscheiden, wo sie sich hinsetzen sollen, verschwinden sie durch denselben Luftkanal, durch den sie gekommen sind […] (Seite 307f)

Beim Lesen des Romans spürt man, dass Anne Michaels Dichterin ist. Ich schätze poetische Prosa sehr, aber „Fluchtstücke“ vermochte mich nicht richtig zu fesseln, nicht zuletzt weil die Sprache mitunter auch ins Schwülstige abgleitet und nicht alle Metaphern gelungen sind.

Sie warf den Kopf zurück. Meine Begierde war eine raue Metallkante, die unter dem grellen Lichteinschlag plötzlich glatt wurde. (Seite 309)

Als meine Mutter mit vierundzwanzig Jahren ins Ghetto gesperrt wurde, weinten ihre Brüste Milch. (Seite 286)

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2007
Textauszüge: © Berlin Verlag

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