Patrick Modiano : Der Horizont

Der Horizont
Originalausgabe: L'horizon Éditions Gallimard, Paris 2010 Der Horizont Übersetzung: Elisabeth Edl Carl Hanser Verlag, München 2013 ISBN: 978-3-446-23951-7, 175 Seiten dtv, München 2015 ISBN: 978-3-423-14405-6, 175 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Als der Schriftsteller Jean Bosmans zufällig auf alte Notizbücher stößt, erinnert er sich bruchstückhaft an eine kurze Liebes­bezie­hung vor 40 Jahren in Paris. Margaret Le Coz hieß die Frau. Trotz des bretonischen Namens war sie in Berlin zur Welt gekom­men. Weil sie von einem Stalker verfolgt wurde, hatte sie mehrmals ihren Wohnort gewechselt. Als sie nach der Verhaftung des Paares, für das sie in Paris als Kinder­mädchen gearbeitet hatte, vernommen werden sollte, floh sie aus Frankreich, und Bosmans hörte nichts mehr von ihr ...
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Kritik

Wer sich mehr von konkreten Hand­lungen angesprochen fühlt, würde sich bei der Lektüre des poetischen Romans von Patrick Modiano lang­weilen. Für LeserInnen, die stärker auf Form und Sprache achten, bietet "Der Horizont" allerdings einn Lese­genuss auf hohem literarischen Niveau.
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Als der Schriftsteller Jean Bosmans auf zwei grüne Clairefontaine-Hefte stößt und darin blättert, dauert es eine Weile, bis er die Handschrift erkennt: Es ist seine eigene. Die 40 Jahre alten Notizen waren für einen Roman gedacht.

Es passiert, dass du einen Gegenstand, an dem dir viel liegt, nach ein paar Tagen verlierst: vierblättriges Kleeblatt, Liebesbrief, Teddybär, während andere Gegenstände dich jahrelang hartnäckig verfolgen, ohne dich um deine Meinung zu fragen. Wenn du glaubst, sie endgültig losgeworden zu sein, tauchen sie in irgendeiner Schublade wieder auf.

Bosmans erinnert sich an die Wochen, die er damals mit Margaret Le Coz in Paris verbrachte. Was ihm einfällt, ist trotz der Aufzeichnungen bruchstückhaft, und er hält die Fragmente in einem schwarzen Moleskin-Notizbuch fest.

Kennengelernt hatten sie sich im Eingang zur Metro an der Place de l’Opéra. In dem Augenblick, in dem sie ihn betraten, begann eine Einheit der Compagnies Républicaines de Sécurité oben auf dem Platz eine Demonstration aufzulösen. Im Nu quoll der Metro-Eingang von Demonstranten über, und sowohl Bosmans als auch eine junge Frau wurden gegen eine Wand gepresst. Weil die Frau dadurch an der Augenbraue verletzt wurde, begleitete Bosmans sie später zu einer Apotheke, und sie sagte ihm ihren Namen: Margaret Le Coz. Aufgrund des Namens vermutete er, dass sie aus der Bretagne stamme, erfuhr dann aber auf seine Nachfrage, dass sie in Berlin geboren worden war.

Sie verriet ihm, wo sie arbeitete, und er wartete dort nach Büroschluss auf sie. Sie kam in Begleitung von Kollegen aus dem Gebäude.

Mérovée, der Brünette mit dem Bulldoggenschädel und der Blonde mit der getönten Brille.

Der mit dem Bulldoggenschädel war der Büroleiter. Er lud Bosmans ein, sich ihrer „Fröhlichen Bande“ anzuschließen und zweimal pro Woche mit ihnen in eine Turnhalle zu gehen, aber Bosmans entgegnete:

„Wissen Sie, seit Internat und Kaserne mag ich keine Banden mehr.“

Als Mérovée an einem anderen Abend als Erster herauskam, meinte er:

„Verstehe … Sie gehen lieber mit der Boche aus …“

Bosmans reagierte nicht darauf. Durch aggressive Bemerkungen ließ er sich grundsätzlich nicht provozieren.

Weder Jean Bosmans noch Margaret Le Coz hatten studiert. Er hatte eigentlich Medizin studieren wollen, mit 18, war jedoch nicht genommen worden, weil er kein naturwissenschaftliches Abitur hatte vorweisen können. Inzwischen strebte er eine Karriere als Schriftsteller an. Margaret hatte zuletzt als Gouvernante gearbeitet und erledigte jetzt Sekretariatsarbeit in einer Firma, die sich Richelieu Interim nannte. Sie übersetze Briefe ins Deutsche, erklärt sie ihrem Begleiter.

Als Bosmans gefragt hatte, worin die Arbeit bei Richelieu Interim genau bestehe, hatte sie gesagt:
„Weißt du, Jean, sie haben Beziehungen zur Polizeipräfektur.“
Aber sie hatte sich gleich korrigiert:
„Ach, es ist eine Verwaltungsarbeit … Ungefähr so wie bei einem Zulieferer.“

Schließlich nahm sie ihn mit in den Stadtteil Auteuil, wo sie ein Zimmer gemietet hatte. Die Metrofahrt dorthin dauerte lang. Warum sie so weit draußen wohne, fragte er sie.

„Hier ist es sicherer“, hatte sie gesagt. Dann hatte sie sich schnell verbessert: „Hier ist es stiller …“

Bosmans äußerte die Vermutung, dass sie sich verstecke, und sie gab es zu.

„Da ist ein Typ, der mich seit ein paar Monaten sucht …“
Bosmans hatte gefragt, wer dieser Typ sei. Sie hatte die Schultern gezuckt. Vielleicht bereute sie schon, ihm das anvertraut zu haben.
„Ein Typ, den ich früher gekannt habe …“
„Und du hast Angst vor ihm?“
„Ja.“

Bosmans schrieb nun manchmal nachmittags in ihrem Zimmer, während sie bei Richelieu Interim Übersetzungsarbeiten erledigte.

Als sie an einem Samstagabend aus einem Kino in Auteuil kamen, fühlte Margaret sich verfolgt. Aber der Mann ging schließlich an ihnen vorbei, ohne sie zu beachten. Es war nicht der Stalker, vor dem sie sich fürchtete. Bosmans vertraute Margaret an, dass er auch verfolgt worden sei.

„Stell dir ein Paar so um die Fünfzig vor“, hatte Bosmans zu ihr gesagt. „Eine Rothaarige mit hartem Blick und ein Brünetter, der aussieht wie ein aus der Kutte gesprungener Pfarrer. Die Rothaarige ist meine Mutter, wenn ich meiner Geburtsurkunde glauben darf.“ In seiner Jugend, wenn Bosmans sich in die Rue de Seine und Umgebung wagte und ihm das Unglück widerfuhr, diesem Paar zu begegnen, dann geschah immer das gleiche: Seine Mutter kam mit aggressiv vorgerecktem Kinn auf ihn zu und verlangte Geld, im autoritären Ton von jemandem, der ein Kind zurechtweist. Der Brünette stand abseits, reglos, und musterte ihn streng, als solle er sich für sein Dasein schämen. Bosmans wusste nicht, warum diese beiden Menschen ihm so viel Verachtung entgegenbrachten. Er wühlte in seiner Tasche und hoffte, ein paar Geldscheine zu finden. Er hielt sie seiner Mutter entgegen, und diese steckte sie mit unwirscher Geste ein.

Als er noch in seinem früheren Zimmer gewohnt habe, erzählt Bosmans, sei die Mutter mehrmals zu ihm gekommen, um Geld zu fordern. Aber dann sei er umgezogen. Margaret hatte ebenfalls Ortswechsel vorgenommen und hoffte, dass der Stalker dadurch ihre Spur verloren hatte. Der Mann heiße Boyaval, sagte sie.

Alles, was man tagaus, tagein erlebt, ist gekennzeichnet von der Ungewissheit der Gegenwart. Zum Beispiel fürchtete sie, an jeder Straßenecke auf Boyaval zu stoßen, und Bosmans, auf das bedrohliche Paar, das ihn mit seiner Verachtung und seiner Feindseligkeit verfolgte – ohne dass er begriff warum.

Einmal, als sie bei einem Schuhputzer vorbeikamen, glaubte Margaret, der Kunde auf dem Sessel sei Boyaval. Bosmans ging sofort hin, legte ihm die Hand auf die Schulter und fragte: „Sind Sie Monsieur Boyaval?“ Aber er war es nicht.

Nachdem Bosmans ins 14. Arrondissement gezogen war, um seinen Verfolgern zu entkommen, fiel ihm an einem Gebäude, in dem früher einmal eine Autowerkstatt (Garage de l’Angle) gewesen war, ein verblasstes Ladenschild auf: Éditions du Sablier. Er trat ein. Es handelte sich um einen Verlag und eine Buchhandlung, beide auf okkulte Themen spezialisiert. Der Verleger Lucien Hornbacher war während des Zweiten Weltkriegs verschwunden. Seither leitete der Buchhalter Bourlagoff den Betrieb als Geschäftsführer. Zufällig suchte er gerade jemanden für vier Tage pro Woche zur Betreuung der Buchhandlung und stellte Bosmans ein.

Seine Texte ließ Bosmans damals von Simone Cordier abtippen, einer ehemaligen Chefsekretärin, die in der Rue de Belloy im 16. Arrondissement wohnte.

Fast sechs Monate lang fuhr er regelmäßig zu Simone Cordier, um ihr neue Seiten zu bringen und die getippten abzuholen. Er hatte sie gebeten, die handgeschriebenen Seiten bei sich aufzubewahren, als Vorsichtsmaßnahme.

Margaret Le Coz war in Berlin-Reinickendorf zur Welt gekommen. Ihren Vater hatte sie nie gekannt. Ihre aus Brest stammende Mutter Geneviève Le Coz zog dann mit ihr nach Lyon und heiratete einen Automechaniker. Margaret besuchte Internate in Thônes und in La Roche-sur-Foron.

Sie bricht die Brücken zu ihrer Mutter endgültig ab. In Annecy bekommt sie ihre ersten Stellen bei Zuccolo und während des Sommers im Büfett des Sporting. Sie ist als Kellnerin bei Fidèle Berger beschäftigt und arbeitet in der Librairie de la Poste.

In Annecy lernte sie Boyaval kennen. Sein Gesicht war von Pockennarben übersät, und die Hände wirkten an dem mageren Körper viel zu groß. Er war Skilehrer in La Clusaz und Mégève gewesen und hätte es beinahe in die französische Nationalmannschaft geschafft. Als Margaret ihm erstmals begegnete, arbeitete er in einem Fremdenverkehrsbüro in Annecy. Er schlug ihr einen Ski-Ausflug nach La Clusaz vor, und als sie ablehnte, wurde er aggressiv. Jedes Mal, wenn er ihr eine Verabredung vorschlug, erfand sie eine Ausrede, aber er ließ nicht locker und wurde zum Stalker. Als sie ihn nach einem Kinobesuch aufforderte, sie in Ruhe zu lassen, zog er ein Springmesser und drückte ihr die Spitze der Klinge zwischen die Brüste. Mit diesem Messer stach er in Gaststätten zwischen die gespreizten Finger seiner linken Hand, immer schneller. Dann kassierte er die Wetteinsätze der anderen am Tisch. Wenn er sich verletzte, umwickelte er die Hand mit einem Taschentuch. Gerüchten zufolge verfügte er auch über eine Schusswaffe. Margaret ging zweimal zum Polizeirevier, wurde dort jedoch nicht ernst genommen.

Weil es sich bei der Arbeit in der Librairie de la Poste in Annecy nur um eine Halbtagstätigkeit handelte, bewarb sich Margaret Le Coz im Hôtel d’Angleterre. Dort wurde sie zwar nicht genommen, aber ein Hotelgast bot ihr eine Stelle als Kindermädchen an. Michel Bagherian hieß der 35-Jährige. Er wohnte mit seinen beiden Kindern in Lausanne. Obwohl Margarets Pass seit einem Jahr abgelaufen war, kam sie unbehelligt mit dem Bus über die Grenze.

Ob es eine Madame Bagherian gab? Margaret wagte nicht zu fragen. Hin und wieder brachte Michel Bagherian abends eine Frau mit. Weil Margaret die Namen nicht kannte, nannte sie die eine „Sekretärin“, die andere „Norwegerin“. Einmal übernachteten beide gleichzeitig bei Michel Bagherian.

Seit Margaret in der Schweiz war, dachte sie kaum noch an Boyaval. Doch plötzlich tauchte er wieder auf. „Dieser Typ macht mir Angst“, sagte sie zu Michel Bagherian, der den pockennarbigen Mann im schwarzen Mantel daraufhin zum Weggehen aufforderte und ihn dann so heftig stieß, dass er der Länge nach aufs Trottoir stürzte.

An diesem Abend nahm Bagherian das Kindermädchen mit ins Schlafzimmer. Als Margaret mitten in der Nacht aus dem Fenster blickte, stand Boyaval noch immer vor dem Haus.

Sie fragte sich, ob diese schwarze Gestalt ihr das ganze Leben lang den Horizont verdecken würde.

Am nächsten Tag flüchtete Margaret mit dem Zug nach Paris. Ihren 20. Geburtstag hatte sie gerade noch in der Schweiz gefeiert. Den mit Banknoten gefüllten Umschlag, den Michel Bagherian ihr auf dem Bahnsteig in Lausanne zustecken wollte, wies sie zurück und nahm lediglich den restlichen Lohn. Der Wechsel von Lausanne nach Paris bildete eine neue Zäsur in ihrem Leben. Nie mehr würde sie in die Schweiz zurückkehren, die ihr damals, als sie von Annecy hinfuhr, wie ein Zufluchtsort vorgekommen war.

Nach der Ankunft in Paris hatte Margaret Le Coz zunächst im Hôtel Sévigné unweit der Place de l’Étoile gewohnt. Und um Arbeit zu finden, hatte sie sich bei der Agentur Stewart gemeldet. Mit Jean Bosmans zusammen ging sie später wieder hin und erhielt die Adresse einer Familie, die ein Kindermädchen suchte. Bosmans begleitete sie zum Vorstellungsgespräch bei den Fernes. Georges Ferne war Professor für Verfassungsrecht an einer Hochschule, Suzanne Ferne eine Anwältin am Pariser Schwurgericht. Margaret brauchte nur an drei Tagen in der Woche auf die beiden elf bzw. zwölf Jahre alten Kinder aufzupassen. Das Mädchen besuchte das Collège Sévigné, ihr Bruder das Lycée Montaigne. Als Margaret vorschlug, dem Jungen zum Geburtstag einen Hund zu schenken, hielt Madame Ferne das für keine gute Idee:

„Ein Hund, das würde den Kindern doch sicher Freude machen“, stotterte Margaret.
„Ich glaube nicht“, sagte die Frau des Professors. „André würde es nicht ertragen, durch einen Hund von seiner Mathematik abgelenkt zu werden.“

Vierzig Jahre später googelt der Schriftsteller Jean Bosmans in einem Internet-Café den Namen Boyaval. Es gibt nur einen in ganz Frankreich, einen Immobilienmakler Alain Boyaval in Paris-Bercy. Unter dem Vorwand, ein Zimmer mieten zu wollen, sucht Bosmans ihn auf. Freunde von ihm hätten einen Monsieur Boyaval gekannt, der vor über 40 Jahren beinahe in die französische Skinationalmannschaft aufgenommen worden wäre, erwähnt Bosmans wie nebenbei. Die pockennarbige Gesichtshaut, die zahlreichen Narben an den Fingern – es gibt keinen Zweifel: Es handelt sich um den Stalker von damals.

„Und was für Freunde hatten Sie in Annecy?“
„Ein Mädchen. Sie hieß Margaret Le Coz“, sagte Bosmans.
„Ich erinnere mich an keine Margaret Le Coz.“

Während Jean Bosmans in einem Café sitzt, führt eine junge Frau eine steife Greisin herein, die er von früher kennt: Yvonne Gaucher, eine Linkshänderin, die mit einem Osteopathen namens André Poutrel zusammengelebt hatte.

Ihretwegen hatte Margaret Paris überstürzt verlassen, ohne dass er jemals herausfand, was geschehen war.

André Poutrel kam eines Tages in die zu Éditions du Sablier gehörende Buchhandlung, stellte sich vor und erklärte: „Ich suche ein altes Buch, dessen Autor ich bin.“ Der Titel lautete: „Der Kreis der Astarte“. Im Lager fand Bosmans noch zwei Exemplare davon. Margaret war auch da, denn in der Woche zuvor hatte das Ehepaar Ferne sie ohne jegliche Erklärung fristlos entlassen. Poutrel fragte sie, ob sie auch in der Buchhandlung angestellt sei, und als sie zugab, arbeitslos zu sein, bot er ihr an, auf seinen Sohn Peter aufzupassen.

Margaret fuhr zu der angegebenen Adresse. Yvonne Gaucher öffnete. Ihr Mann, André Poutrel, hatte noch in der Arztpraxis zu tun, kam dann aber auch herüber und versicherte Margaret, Peter sei ein liebes Kind. (Jean Bosmans weiß nicht, wie alt Peter damals war, vielleicht sechs oder acht.)

Ein Exemplar des nur aus 40 Seiten bestehenden Buches „Der Kreis der Astarte“ von André Poutrel hat Bosmans aufbewahrt. Auf dem Vorsatzblatt steht die Widmung: „Für Maurice Braive und für die Freunde und Freundinnen aus der Rue Bleue.“ Bosmans erinnert sich, dass es sich bei dem Kreis der Astarte um eine Gruppe von Okkultisten handelte. Innerhalb des Kreises galt Poutrel als Wortführer der „Hautes Études Ésotériques“.

Vor 20 Jahren besichtigte Bosmans eine Wohnung in der Rue Bleue. Der Concierge, ein alter Mann, sagte:

„Wissen Sie, hier sind die seltsamsten Dinge passiert, früher mal …“

Bosmans erinnerte sich an die Widmung im Buch und fragte:

„Meinen Sie einen Monsieur Maurice Braive?“
Der andere schien erstaunt, dass ein jüngerer Mann sich so gut erinnern konnte. Er hatte ihm zwar einige Erklärungen geliefert, aber sie waren nicht sehr erhellend. Dieser Maurice Braive versammelte Männer und Frauen hier in dieser Wohnung der Nummer 27, Rue Bleue, um sich mit Magie zu beschäftigen und mit anderen, »vom sittlichen Standpunkt« noch weit tadelnswerteren Experimenten. Die Messe d’or und die eucharistische Transmission, die in Der Kreis der Astarte erwähnt wurden? Er war schließlich verhaftet worden, mitsamt den Mitgliedern seiner Gruppe. Er war Ausländer, und man hatte ihn in sein Herkunftsland abgeschoben.

Bald nachdem Margaret als Kindermädchen bei André Poutrel und Yvonne Gaucher angefangen hatte, kam sie verstört zu Bosmans in die Buchhandlung.

Sie konnte fast nicht sprechen. Kurz zuvor war sie mit Doktor Poutrel, Yvonne Gaucher und dem kleinen Peter in deren Wohnung gewesen. Sie wollte Peter gerade zur Schule begleiten. Es hatte an der Tür geläutet. Doktor Poutrel war hingegangen, um zu öffnen. Laute Stimmen. Im Vorzimmer rief Doktor Poutrel immer lauter: „Ganz gewiss nicht … Ganz gewiss nicht …“ Er war mit drei Männern in das Sprechzimmer gekommen, und er trug Handschellen. Yvonne Gaucher stand sehr aufrecht da, unbewegt. Der kleine Peter klammerte sich fest an Margarets Hand. Einer der drei Männer war auf Yvonne Gaucher zugegangen, hatte einen Ausweis aus seiner Jackentasche gezogen, ihr hingehalten und gesagt: „Würden Sie bitte mitkommen, Madame …“ Ihr legten sie keine Handschellen an. Die beiden anderen hatten Doktor Poutrel bereits aus dem Raum gezogen, Yvonne Gaucher setzte sich an den Schreibtisch, vom dritten Mann aufmerksam bewacht. Sie schrieb ein paar Worte auf ein Rezeptformular und reichte es Margaret.
„Bringen Sie Peter zu dieser Adresse.“

Weil Margaret von der Polizei aufgefordert worden war, sich am nächsten Morgen um 10 Uhr im Polizeipräsidium am Quai des Orfèvres zur Vernehmung zu melden, reiste sie Hals über Kopf aus Paris ab. Bosmans brachte sie zur Gare du Nord.

Bosmans versucht noch einmal, ihr gut zuzureden und sie davon zu überzeugen, dass sie in Paris bleibt. Nein, Jean, es geht nicht. Sie wissen Dinge über mich, die ich dir nicht erzählt habe und die in ihren Akten stehen.

Den Zettel mit der Adresse, zu der Margaret den Jungen vor ihrer Abreise gebracht hatte, besitzt der Schriftsteller noch: Suzanne Kraay, 32 Rue des Favorites. Er fährt zu der Adresse und fragt die Concierge nach Suzanne Kraay, aber die wohnt längst nicht mehr dort.

Aus einem Exemplar des Romans „Vom Winde verweht“ von Margaret Mitchell fällt eine Karteikarte, die von Margaret augenscheinlich als Lesezeichen benutzt wurde. Darauf entdeckt Bosmans einen Stempelabdruck: Argus Motoren, Graf-Roedern-Allee, Berlin-Reinickendorf. Er googelt nach Margaret Le Coz in Berlin und stößt auf eine Adresse in der Dieffenbachstraße 16. Es handelt sich um einen Buchladen mit dem Namen Ladijnikov.

Jean Bosmans reist nach Berlin. Unweit der Dieffenbachstraße setzt er sich in ein Straßencafé und fragt einen jungen Amerikaner, der in einem Buch liest, nach der Buchhandlung Ladijnikov. Als sich herausstellt, dass der Mann – er heißt Rod Miller – dort zu den Kunden zählt, stellt Bosmans ihm weitere Fragen und hört, dass der Laden unter dem Namen einer russischen Buchhandlung aus der Vorkriegszeit von einer unverheirateten Frau in Bosmans Alter geführt wird.

Der Amerikaner bietet dem Franzosen an, ihn zu der Buchhandlung zu bringen, aber Bosmans zieht es vor, allein zu gehen.

Bald würde er die Buchhandlung betreten. Er würde nicht genau wissen, wie er das Gespräch anknüpfen sollte. Vielleicht erkannte sie ihn nicht. Oder hatte ihn vergessen. Im Grunde genommen hatten sich ihre Wege nur für ganz kurze Zeit gekreuzt. Er würde sagen:
„Ich soll Ihnen schöne Grüße von Rod Miller bestellen.“

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Ein älterer französischer Schriftsteller erinnert sich in dem feinfühligen, melancho­lischen Roman „Der Horizont“ von Patrick Modiano an eine kurze Liebesbeziehung vor 40 Jahren in Paris und hält in einem Notizbuch fest, was ihm dazu einfällt. Es sind nur Bruchstücke. Vieles weiß er nicht mehr, und weil er die Erinnerungsfragmente erst einmal nur für sich aufschreibt, hält er es auch nicht für nötig, alles zu erläutern. Wir erfahren zum Beispiel nicht, warum er von seiner Mutter und ihrem Begleiter verfolgt wurde. Ein Grund für Margarets fristlose Entlassung als Kindermädchen wird auch nicht angegeben. Margaret fürchtete sich vor dem Stalker Alain Boyaval, aber in ihrer Vergangenheit muss es noch etwas gegeben haben, das ihr angst machte. Was es war, bleibt ebenso ein Geheimnis wie die Aufgabe der Firma Richelieu Interim.

Patrick Modiano entwickelt die Handlung in „Der Horizont“ nicht chronologisch, sondern reiht fiktive Erinnerungsbruchstücke scheinbar wie zufällig aneinander. Erst allmählich ergibt sich daraus ein Bild, und das bleibt nicht nur lückenhaft, sondern wirkt auch unbestimmt, poetisch-schwebend, obwohl ständig Stadtviertel, Plätze, Straßen und Metrostationen wie Fixpunkte angegeben werden.

Die Darstellung in „Der Horizont“ wechselt zwischen Gegenwart und Vergangenheit, Präsens und Imperfekt. Erzählt wird fast ausschließlich aus der subjektiven Perspektive des Protagonisten Jean Bosmans (allerdings nicht in der Ich-Form). Ein längerer Abschnitt weicht davon ab: Da schildert Patrick Modiano die Geschichte von Margaret Le Coz und überschreitet damit den Horizont der Romanfigur Bosmans.

A propos Horizont. Das Wort steht nicht nur im Romantitel, sondern taucht auch hin und wieder im Text auf:

Sie liest jeden Tag die Kleinanzeigen, und jeden Tag hofft sie auf einen Satz, der ihr neue Horizonte eröffnet.

Von einem Tag auf den anderen konnten sie Paris verlassen, auf der Suche nach neuen Horizonten.

Zum ersten Mal hatte er im Kopf das Wort: Zukunft, und ein anderes Wort: der Horizont. An jenen Abenden waren die stillen und menschenleeren Straßen Fluchtlinien, die alle hinführten auf die Zukunft und den Horizont.

Sie fragte sich, ob diese schwarze Gestalt ihr das ganze Leben lang den Horizont verdecken würde.

Es war besser, nichts Genaues zu erfahren. Mit dem Zweifel bleibt wenigstens noch eine Art Hoffnung, eine Fluchtlinie in Richtung Horizont.

Margarets Gesicht entrückte schließlich und verlor sich am Horizont.

Fazit: „Der Horizont“ ist ein stimmungsvoller Roman des Nobelpreisträgers Patrick Modiano. Wer sich mehr von konkreten Handlungen angesprochen fühlt, würde sich bei der Lektüre eher langweilen. Für Leserinnen und Leser, die stärker auf Form und Sprache achten, bietet „Der Horizont“ allerdings einen Lesegenuss auf hohem literarischen Niveau.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2014
Textauszüge: © Carl Hanser Verlag

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