Patrick Modiano : Place de l'Étoile

Place de l’Étoile
Originalausgabe: La Place de l'Étoile Gallimard, Paris 1968 Place de l'Étoile Übersetzung: Elisabeth Edl Carl Hanser Verlag, München 2010 ISBN: 978-3-446-23399-7, 189 Seiten eBook: 978-3-446-24878-6 dtv, München 2012 ISBN: 978-3-423-14100-0, 189 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Patrick Modiano wirbelt uns in "Place de l'Étoile" durch die fiktive Biografie des französischen Juden Raphaël Schlemilovitch, der Orte und Zeiten von einem Augenblick zum anderen wechselt als wäre er der "ewige Jude". Ein Großteil der kaleidoskop­artigen Handlung spielt während der Besatzung Frankreichs. Schlemilovitch ist Dandy und Milliardenerbe, Kollaborateur der Nationalsozialisten, Zuhälter und Mädchen­händler, Häftling in einem israelischen Straf­kibbuz und mit Hitlers Billigung Geliebter von Eva Braun auf dem Obersalzberg ...
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Kritik

"Place de l'Étoile" ist sarkastische Parodie, tolldreiste Persiflage und facettenreiche Travestie, ein furioser, expressionistischer, einfallsreicher und virtuoser Roman, den Patrick Modiano mit Anspielungen gespickt hat.
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Raphaël Schlemilovitch

Raphaël Schlemilovitch ist der Sohn einer aus Osteuropa stammenden französisch-jüdischen Boulevard-Schauspielerin.

Die Carinthy-Tourneen, waschechtes Boulevard-Theater. Da sie Französisch mit Balkanakzent sprach, spielte sie russische Fürstinnen, polnische Gräfinnnen und ungarische Amazonen.

Der Vater stammt aus einer Familie sephardischer Juden und wuchs in Caracas auf. Nachdem er die Tochter des Diktators der Galapagosinseln verführt hatte, floh er mit falschen Papieren auf den Namen Jean Cassis de Coudray-Macouard nach Europa und wurde Sekretär des französischen Hochstaplers, Betrügers und Finanzjongleurs Serge Alexandre Stavisky. In Paris wohnt er in der Rue des Saussaies gegenüber der Gestapo. Im Juli 1944 gelingt es ihm, den Wald von Fontainebleau an die Deutschen zu verkaufen. Danach emigriert er in die USA und gründet Kaleidoscope Ltd in New York.

Weil die Mutter viel auf Tournee ist, wird Raphaël von englischen Gouvernanten erzogen, bis er alt genug ist, von Jesuiten geführte Schweizer Privatschulen zu besuchen. Geld schickt ihm regelmäßig sein venezolanischen Onkel Vidal, und als dieser ihm zum 18. Geburtstag einen Duesenberg für 14 000 Pfund Sterling schenkt, fährt er damit eine Weile bei den Villen vor, in denen er mit seinen kosmopolitischen Freunden Partys nach dem Vorbild von Zelda und F. Scott Fitzgerald feiert. Man nennt Schlemilovitch den jungen Gatsby. Vergeblich kämpft er dagegen an.

Alles, was vor Gesundheit und Glück strotzt, verursacht mir Übelkeit.

[…] verkündete ich unermüdlich mein Judentum. Außerdem stand mein Tun und Treiben im Gegensatz zu jenen Tugenden, die man bei den Franzosen pflegt: Zurückhaltung, Sparsamkeit, Arbeit. Von meinen orientalischen Vorfahren habe ich die schwarzen Augen, den Hang zu Exhibitionismus und Pomp, die chronische Faulheit. Ich bin kein Kind dieses Landes. Marmelade kochende Großmütter, Familienportraits oder Religionsstunden habe ich nie gekannt.

Während Gesellschaftskolumnisten Lobeshymnen über Schlemilovitch schreiben, werfen ihm antisemitische Journalisten wie Léon Rabatête und Dr. Louis-Ferdinand Bardamu vor, er führe „mit Hilfe von Sexpartys und Millionen die jüdische Weltverschwörung“.

Jean-François Des Essarts (1)

Nach einer Weile verkauft Schlemilovitch den Duesenberg an den Sammler Lord Allahabad. Von dem Erlös kann er mit seinem gleichaltrigen Freund Jean-François Des Essarts zusammen ein Jahr lang gut leben. Bei Des Essarts handelt es sich um einen Aristokraten aus der Touraine, der als Sportredakteur bei einer Gazette in Lausanne gearbeitet hatte, bevor er Schlemilovitch kennenlernte.

Ich fragte ihn, warum er Frankreich verlassen habe:
„Der Militärdienst“, erklärte er mir, „war nichts für meine zarte Konstitution. Darum bin ich desertiert.“
„Da lässt sich was machen“, sagte ich ihm; „ich verspreche Ihnen, dass ich in Genf einen geschickten Handwerker finde, der Ihnen falsche Papiere herstellt: dann können Sie unbesorgt nach Frankreich zurückkehren, wann immer Sie wollen.“
Der klandestine Drucker, mit dem wir in Verbindung traten, fertigte uns eine Schweizer Geburtsurkunde aus und einen Schweizer Pass auf den Namen Jean-François Lévy, geboren in Genf […].

Sie verlassen Lausanne und ziehen ins Hôtel des Bergues in Genf.

Schlemilovitch macht sich einen Spaß daraus, linken Tageszeitungen in Paris ein mit „Jacob X“ unterschriebenes „Bekenntnis“ zu schicken. Darin heißt es, er sei fahnenflüchtig, weil die Armee, die Hauptmann Dreyfus‘ Dienste verschmäht hat ohne die seinen auskommen müsse.

Die französische Linke stürzte sich mit Feuereifer auf den Gewissenskonflikt des Jacob X, wie ich es mir gewünscht hatte. Das war Frankreichs dritte Judenaffäre nach der Dreyfus-Affäre und der Finaly-Affäre. […]
Die Linke verteidigte den jungen Deserteur voller Leidenschaft. Sartres Artikel Saint Jacob X, Komödiant und Märtyrer eröffnete die Offensive.

Maurice Sachs

In der Hotelbar werden Schlemilovitch und Des Essarts von Maurice Sachs angesprochen. Der spricht von Gide, Cocteau, Coco Chanel.

Er erzählt uns von seinen Missgeschicken seit 1945, dem Datum seines angeblichen Todes. Er war nacheinander Gestapoagent, GI, Viehhändler in Bayern, Makler in Antwerpen, Bordellwirt in Barcelona, Clown in einem Mailänder Zirkus unter dem Spitznamen Lola Montès. Schließlich hat er sich in Genf niedergelassen, wo er eine kleine Buchhandlung betreibt.

Schlemilovitsch gibt Sachs seine Studie Drieu und Sachs, wohin falsche Wege führen zu lesen. Pierre Drieu la Rochelle oder das ewige Paar von SS-Mann und Jüdin lautet die Überschrift des ersten Teils, Robert Brasillach oder das Fräulein von Nürnberg die des zweiten. Als er Robert Brasillach kennenlernte, flehte er ihn um eine antisemitische Glosse in dem Hetzblatt „Je suis partout“ an, denn er fand selbst den Antisemitismus der Goijim plump und wollte es besser machen. Er sei der gute Jude der Kollaboration, beteuerte er.

Ich für mein Teil habe beschlossen, ich werde der größte jüdische Schriftsteller nach Montaigne, Marcel Proust und Louis-Ferdinand Céline.

Maurice Sachs missfällt Schlemilovitschs leidenschaftlicher Rassismus, und er warnt ihn vor der polnischen Jüdin Tania Arcisewska, die seit kurzem seine Geliebte ist. Sie habe einen schlechten Einfluss auf ihn, meint er.

Diese junge Frau zerstört sich langsam, ohne Krämpfe, ohne Geschrei, als wäre das etwas ganz Selbstverständliches. Sie verwendet eine Pravaz-Spritze und sticht sich in den linken Arm.

Mitten in der Nacht weckt sie Schlemilovitsch, zeigt ihm die am linken Unterarm eintätowierte Nummer und singt das Gebet für die Toten von Auschwitz.

Schnell versuche ich sie zu beruhigen. Ich habe hochgestellte Freunde. Ich gebe mich nicht mit den kleinen Spaßvögeln der Pariser Kollaboration zufrieden. Ich duze Göring; Heß, Goebbels und Heydrich finden mich äußerst sympathisch. […] Ich habe als einziger Jude aus Hitlers Händen das Verdienstkreuz erhalten.

Tania schneidet sich jedoch eines Morgens, als er nicht bei ihr ist, die Pulsadern auf und verblutet. Am nächsten Tag reist eigens ein Polizist aus Paris an, Inspektor La Clayette, um Schlemilovitsch zu vernehmen.

Die besagte Tania Arcisewska, meint er, werde von der französischen Polizei gesucht. Drogenhandel und Drogenkonsum. Bei diesen Ausländern muss man mit allem rechnen. Diese Juden. Diese Gauner aus Mitteleuropa. Na ja, sie ist tot, und das ist auch besser so.

Maurice Sachs setzt sich in den Orient ab.

Jean-François Des Essarts (2)

Schlemilovitsch und Des Essarts geht das Geld aus.

Wir besitzen nur noch sechzig Schweizer Franken. Aber Des Essarts‘ Großvater und mein venezolanischer Onkel Vidal sterben am selben Tag. Des Essarts erbt den Titel eines Herzogs und Pairs, ich begnüge mich mit einem kolossalen Vermögen in Bolivars. Das Testament meines Onkels Vidal überrascht mich: offenbar genügt es, mit fünf Jahren einem alten Herrn auf den Schoß zu klettern, und schon bestimmt er dich zu seinem Universalerben.

Die beiden Dandys kehren nach Frankreich zurück. Nachdem sie die Bank des Kasinos von Aix-les-Bains gesprengt haben, gibt Schlemilovitsch im Hôtel Splendid eine Pressekonferenz. In der Rolle des jungen Milliardärs gefällt er sich. Aber als er nach dem Antritt der Erbschaft auch noch an Tuberkulose erkrankt, ist er entsetzt, denn das verstärkt seine Attraktivität ungemein.

Ich muss diese lästige Krankheit verbergen, denn sie würde mir einen Popularitätsanstieg in allen Hütten Europas bescheren. Angesichts eines reichen, verzweifelten, schönen und tuberkulosekranken jungen Mannes würden die kleinen Arierinnen plötzlich eine Berufung zur heiligen Blandine in sich fühlen. Um die Wohlgesinnten zu entmutigen, wiederhole ich vor Journalisten, dass ich JUDE bin. Folglich interessieren mich nur Geld und Wollust. Man findet mich sehr photogen […].
Als letzten Ausweg kaufe ich eine Jacht, die Sanhedrin, und mache aus ihr ein Luxusbordell. Ich liege in Monte Carlo, Cannes, La Baule und Deauville vor Anker. Aus drei Lautsprechern, die auf den Mastbäumen befestigt sind, schallen die Texte von Doktor Bardamu und Rabatête, meinen bevorzugten PR-Männern: Ja, ich leite die jüdische Weltverschwörung mit Hilfe von Sexpartys und Millionen. Ja, der Krieg von 1939 ist durch meine Schuld erklärt worden.

Schon bald habe ich dieses Herumgefuchtel satt. In Gesellschaft meines treuen Des Essarts ziehe ich mich zurück ins Hôtel Trianon in Versailles, um dort Saint-Simon zu lesen. Meine Mutter macht sich Sorgen, weil ich schlecht aussehe. Ich verspreche ihr, eine Tragikomödie zu schreiben, in der sie die Hauptrolle spielt. Danach soll die Tuberkulose mich freundlicherweise dahinraffen. Oder ich könnte Selbstmord begehen. Nach reiflicher Überlegung beschließe ich, auf einen starken Abgang zu verzichten. Sie würden mich mit Napoleon oder Werther vergleichen.

Jean-François Des Essarts fordert ihn auf, mit zu einem Maskenball zu fahren, aber Raphaël Schlemilovitch mag nicht und nimmt die Arbeit an seiner Tragikomödie als Vorwand.

Er verließ mich mit traurigem Lächeln. Als der Wagen durch das Hoteltor gefahren war, spürte ich ein leichtes Schuldgefühl. Wenig später verunglückte mein Freund auf der Westautobahn tödlich.

(Einige Jahre nach dem Unfall wird Schlemilovitch sich daran erinnern, wie er die Bremsen am Auto seines Freundes manipulierte.)

Veränderung

Als sein Theaterstück dann in Paris aufgeführt wird, reagiert das Publikum anders als erwartet.

Der Vorhang fällt. Niemand klatscht. Alle starren auf mich mit argwöhnischen Blicken. Man hatte sich von einem Juden mehr Freundlichkeit erwartet. Ich bin wirklich undankbar. Ein richtiger Flegel. Ich habe ihnen ihre helle und klare Sprache gestohlen, um sie in hysterisches Gefurze zu verwandeln.
Sie hofften auf einen neuen Proust, auf eine Judensau, die im Umgang mit ihrer Kultur Schliff bekommen hat, auf eine sanfte Musik, doch sie wurden betäubt von bedrohlichem Getrommel.

Die Kritiken vom darauffolgenden Tag enttäuschten mich sehr. Sie waren gönnerhaft.

All diese Franzosen hegten eine maßlose Zuneigung für Huren, die ihre Erinnerungen schreiben, für päderastische Dichter, arabische Luden, koksende Neger und provozierende Juden.

Nach diesem Misserfolg beschließt Raphaël Schlemilovitch, seiner kosmopolitischen Vergangenheit abzuschwören und Paris endgültig zu verlassen.

Ich wollte meine Tuberkulose auskurieren. Ein vernünftiger und zurückhaltender junger Mann werden. Ein richtiger kleiner Arier.

Bevor er abreist, vermacht er seiner Mutter einen Teil des geerbten Vermögens und bietet seinem Vater 350 000 Dollar an. Der reist daraufhin aus Südamerika an, und sie treffen sich im osmanischen Salon des Hôtel Continental in Paris. Raphaël sieht ihn zum ersten Mal seit seiner frühen Kindheit.

Mein Vater trug einen nilblauen Alpakaanzug, ein Hemd mit grünen Streifen, eine rote Krawatte und Schuhe aus Persianerpelz.

Die New Yorker Geschäfte des Seniors stehen vor dem Bankrott. Wie kann man aber auch Kaleidoskope bauen und nicht merken, dass der Markt dafür schrumpft!

In Bordeaux will sich Raphaël Schlemilovitch an einem Gymnasium anmelden. Der Schuldirektor zögert.

Ich hatte Lust, dem Direktor zu antworten, ich sei leider Jude. Und folglich: stets Klassenbester.

Schlemilovitch schlägt eine Anthologie griechischer Redner irgendwo auf, übersetzt eine Stelle ins Lateinische und kommentiert sie.

Der Direktor staunte. Wusste er nichts von jüdischer Auffassungsgabe, Intelligenz?

Am Abend vor dem Schulbeginn wirft er seine exquisite Garderobe weg, denn er wird jetzt nur noch den schlackegrauen Schulkittel tragen. Der Vater, der es sich nicht nehmen ließ, ihn nach Bordeaux zu begleiten, lädt ihn beim Abschied zu einem Besuch in New York ein, aber Raphaël meint:

Ich werde demnächst sterben. Hab gerade mal Zeit, die Aufnahmeprüfung für die École normale supérieure zu schaffen.

Sein Französischlehrer Adrien Debigorre wird wegen seines Klumpfußes von den Schülern verspottet.

Ich beschloss, der Leibwächter dieses armen Mannes zu werden. Trotz meiner noch frischen Tuberkulose wog ich neunzig Kilo, war einen Meter achtundneunzig groß, und der Zufall hatte mich in einem Land von kleinen Arschkerlen zur Welt kommen lassen.

Nachdem Raphaël Schlemilovitch die Rädelsführer krankenhausreif geprügelt hat, wird „der jüdische Terror“ gefürchtet. Allerdings erstatten die Eltern der drei Verletzten Gerbier, Val-Suzon und La Rochepot Anzeige wegen Körperverletzung und beschweren sich beim Schuldirektor, der Schlemilovitch daraufhin von der Schule verweist. Vergeblich versucht der Missetäter sich dagegen zu wehren:

„Wenn diese Herren mich vor Gericht schleppen wollen“, antwortete ich ihm, „werde ich ein für allemal meine Meinung sagen. Das wird eine gute Werbung für mich sein. Paris ist nicht Bordeaux, wissen Sie. In Paris gibt man immer dem armen kleinen Juden recht, nie den arischen Bestien! Ich werde die Rolle des Verfolgten meisterhaft spielen. Die Linke wird Versammlungen und Demonstrationen organisieren, und glauben Sie mir, es wird zum guten Ton gehören, ein Manifest für Raphaël Schlemilovitch zu unterschreiben. Kurz und gut, dieser Skandal wird Ihrer Beförderung äußerst hinderlich sein. Überlegen Sie gut, Herr Direktor, Sie kämpfen gegen einen starken Gegner. Ich habe Routine in derlei Geschichten. Denken Sie an Hauptmann Dreyfus und, erst unlängst, an den Radau um Jacob X, diesen jungen jüdischen Deserteur …“

Debigorre ist erschüttert, sowohl seinen Beschützer als auch seinen besten Schüler zu verlieren. Kurz darauf wird er nach Arcachon in eine Nervenheilanstalt gebracht.

Charles Lévy-Vendôme

Was soll Schlemilovitch jetzt tun? Vierzehn Tage nach der Relegation wird er in einem Restaurant von einem Herrn angesprochen: Vicomte Charles Lévy-Vendôme. Auf dessen Karte steht „Animateur“, aber er vertraut Schlemilovitch an, dass er im internationalen Mädchenhandel tätig sei.

Die Französin steht zufällig hoch im Kurs. Liefern Sie mir die Ware. Ich bin zu alt, um diese Arbeit selbst zu übernehmen. 1925 lief das wie geschmiert, aber wenn ich heutzutage den Frauen gefallen will, zwinge ich sie vorher, Opium zu rauchen.

Lévy-Vendôme nimmt Schlemilovitch mit nach Hause und erzählt ihm, dass er bibliophil sei und zu seinem Vergnügen Apokryphen fälsche.

„Ich habe für mich allein die gesamte französische Literatur neu erfunden. Da, Pascals Liebesbriefe an Mademoiselle de La Vallière. Eine frivole Erzählung von Bossuet. Erotisches von Madame de La Fayette. Ich habe mich nicht damit begnügt, die Frauen dieses Landes zu verführen, ich wollte auch die gesamte französische Literatur prostituieren. Die Heldinnen Racines und Marivaux‘ zu Huren machen. Junie, die es aus freien Stücken mit Nero treibt, vor den entsetzten Augen des Britannicus. Andromache, die sich schon bei der ersten Begegnung Pyrrhus in die Arme wirft. Marivaux‘ Gräfinnen, die in die Kleider ihrer Kammerzofen schlüpfen und sich deren Liebhaber für eine Nacht leihen. Sie sehen, Schlemilovitch, der Mädchenhandel hindert mich nicht daran, ein kultivierter Mensch zu sein. Seit vierzig Jahren verfasse ich Apokryphen.“

Der Aristokrat hat gerade zwei Bestellungen vorliegen, eine aus Rio de Janeiro, die andere aus Beirut.

Raphaël Schlemilovitch fährt nach Savoyen und nimmt sich ein Zimmer im Hôtel des Trois Glaciers am Lac d’Annecy. Dort will er nach einem Mädchen suchen, „das es verdient, nach Brasilien exportiert zu werden“ und zugleich seine Lunge regenerieren. Um keinen Argwohn zu erregen, gibt er sich als unerfahrener Alpinist aus, der die Berge nur aus den Büchern von Roger Frison-Roche kennt. Im Café Municipal freundet er sich mit dem Bäcker Gruffaz, dem Notar Forclaz-Manigot, dem Apotheker Petit-Savarin und dem Oberst a. D. Aravis an. Aber keiner von ihnen hat eine geeignete Tochter, und als Schlemilovitch seinen Auftraggeber am Telefon fragt, ob er ihm die Frau des Notars bringen solle, erklärt ihm Vicomte Charles Lévy-Vendôme, für reife Frauen gebe es keinen Markt.

An einem der nächsten Tage kommt Schlemilovitch mit dem Dorfgeistlichen Abbé Perrache ins Gespräch, und als er ihn zum Pfarrhaus begleitet, sieht er dessen blonde Nichte Loïtia in der marineblauen Uniform der Internatsschülerinnen. Da denkt er:

Sie wird großen Erfolg haben nächsten Sommer in den Bordellen von Rio.

Kanonikus Saint-Gervais, der Superior des Internats, überredet Schlemilovitch, als Geschichtslehrer auszuhelfen.

An diesem Punkt meiner Biographie angelangt, ziehe ich vor, einen Blick in die Zeitungen zu werfen. Bin ich ins Seminar eingetreten, wie Perrache mir damals riet? Henry Bordeaux‘ Artikel „Ein neuer Pfarrer von Ars, Abbé Raphaël Schlemilovitch“ (Action française vom 23. Oktober 19..) gibt Anlass zu dieser Vermutung: Der Romancier gratuliert mir zu dem apostolischen Eifer, den ich im kleinen savoyischen Dorf T. an den Tag lege.

Während langer Spaziergänge mit Loïtia nimmt Schlemilovitch sich vor, das unschuldige Mädchen auf keinen Fall brasilianischen Zuhältern auszuliefern, sondern stattdessen selbst in T. zu bleiben und sich hier zu verheiraten. Aber dann kündigt er Lévy-Vendôme doch telegrafisch die Lieferung der Ware an. Am vereinbarten Tag holt er Loïtia von der Schule ab, lockt sie zum Busbahnhof von Annecy und fährt mit ihr nach Genf. Dort werden sie von Lévy-Vendôme erwartet.

Er rückt sein Monokel zurecht und reicht mir einen mit Dollarnoten vollgestopften Umschlag.
„Ihr Lohn! Ich kümmere mich um das Mädchen! Sie haben keine Zeit zu verlieren! Nach Savoyen, ab in die Normandie! Rufen Sie mich in Bordeaux an, sobald Sie da sind!“
Loïtia wirft mir einen entsetzten Blick zu. Ich verspreche ihr, ich sei gleich wieder zurück.

Véronique de Fougeire-Jusquiames

In dem normannischen Städtchen Fougeire-Jusquiames gibt sich Schlemilovitch als Vertreter für Kolonialwaren aus und schleicht sich bei der Schlossherrin Véronique de Fougeire-Jusquiames ein. Ihr Chauffeur heißt Gérard, und sie verrät ihrem neuen Freund, der Mann genieße einen ausgezeichneten Ruf im Milieu.

„Die Ganoven nennen ihn Pompes Funèbres oder Gestapo-Gérard. Gérard gehörte zur Bande aus der Rue Lauriston [Gestapo-Zentrale in Paris]. Er war Sekretär meines verstorbenen Vaters, sein böser Geist …“
Auch sein Vater kannte Gestapo-Gérard. Während ihres gemeinsamen Aufenthalts in Bordeaux hatte er von ihm gesprochen. Gérard hatte am 16. Juli 1942 Schlemilovitch senior in einen schwarzen 15 CV mit Frontantrieb gesetzt: „Was hältst du von einer Ausweiskontrolle in der Rue Lauriston und einem kleinen Besuch in Drancy?“

Um sich für die Behandlung seines Vaters zu rächen, steigt Raphaël Schlemilovitch eines Nachts unbemerkt aus dem Bett der Marquise und erwürgt Gérard. Er schneidet ihm die Ohren ab, schält ihm die Augen aus den Höhlen und tritt ihm die Zähne ein, bevor er ihn verscharrt.

Véronique erklärt ihm, dass das Schloss schon immer ein Luxusbordell gewesen sei.

„Stark frequentiert unter der deutschen Besatzung! Mein seliger Vater, Charles de Fougeire-Jusquiames, spielte den Kuppler für die kollaborierenden französischen Intellektuellen.

Die folgende Woche war einfach idyllisch: Die Marquise schlüpfte von einem Kostüm ins andere, um sein Begehren zu wecken. Außer den Königinnen Frankreichs vergewaltigte er Madame de Chevreuse, die Duchesse de Berry, den Chevalier d’Éon, Bossuet, Ludwig den Heiligen, Bayard, Du Guesclin, Jeanne d’Arc, den Grafen von Toulouse und General Boulanger.

Aber der Spaß endet abrupt, denn der Emir von Samandal wartet in Beirut ungeduldig auf die Lieferung seiner Bestellung, und Vicomte Charles Lévy-Vendôme kommt deshalb persönlich mit seinen beiden Helfershelfern Mouloud und Mustapha nach Fougeire-Jusquiames, um nach dem Rechten zu sehen.

Er winkt Mouloud und Mustapha.
„Bringt diese Frau in den Buick und lasst sie nicht aus den Augen. Es tut mir leid, Madame, wenn ich hier so hereinschneie, aber wir dürfen keine Zeit verlieren! Denken Sie nur, Sie werden seit einer Woche in Beirut erwartet!“
Ein paar kräftige Ohrfeigen von Mouloud ersticken jeden Widerstand im Keim. Mustapha knebelt und fesselt meine Gefährtin.

Lévy-Vendôme entlässt Schlemilovitch und vertraut ihm zum Abschied noch an, was er mit dem Schloss vorhat:

„Wir sind die neuen Herren von Fougeire-Jusquiames. Die Marquise wird uns ihr gesamtes Hab und Gut vermachen. Freiwillig oder unfreiwillig.

Hilda Mürzzuschlag

Raphaël Schlemilovitch zieht nach Wien. Dort erfährt er, dass Albert Speer und Baldur von Schirach die Zitadelle Spandau in großen schwarzen Luxuslimousinen verlassen haben und der ehemalige Gauleiter von Wien seine Pressekonferenz im Hotel Hilton Berlin mit den Worten begann: „Tut mir leid, dass Sie so lange auf mich warten mussten.“

In Wien freundet Schlemilovitch sich mit der Deutsch-Österreicherin Hilda Mürzzuschlag an. Sie lebt vom Verkauf der Biedermeiermöbel einer verstorbenen Tante. Ihr neuer Freund spreche ein besonders reines Französisch, meint sie, und er lässt sie in dem Glauben, lügt, er komme aus der Touraine und heiße in Wirklichkeit Raphaël de Château-Chinon, sei aber inkognito in Wien. Um ihn ihre deutsch-österreichische Grobschlächtigkeit hinwegzutäuschen, redet sie von Mozart, Schubert und Hugo von Hofmannsthal, aber er unterbricht sie:

„Hofmannsthal?“ sagte ich. „Ein Jude, mein liebes Hildchen. Österreich ist eine jüdische Kolonie. Freud, Zweig, Schnitzler, Hofmannsthal, ein richtiges Ghetto.“

Als Hilda ihm ein Kaleidoskop mit dem Firmenzeichen von Schlemilovitch Ltd., New York, zeigt, hätte er sie beinahe darüber aufgeklärt, wem die Firma gehört.

Ich wollte ihr schon anvertrauen, dass mein Vater der Hersteller dieser kleinen Wunderwerke war, aber sie redete schlecht über Juden. Sie forderten Entschädigungen unter dem Vorwand, ihre Familien seien in Lagern ausgerottet worden; gnadenlos schröpften sie Deutschland. Sie fuhren Mercedesse, tranken Champagner, während die armen Deutschen für den Wiederaufbau ihres Landes rackerten und ein kümmerliches Leben führten. Ach! diese Schufte! Nachdem sie Deutschland verdorben hatten, schickten sie es auf den Strich.

Schlemilovitch bringt Hilda dazu, sich jeden Abend in der Blauen Bar des Hotels Sacher die reichsten Männer auszusuchen und ihnen ihre Gunst zu verkaufen.

Nach drei Wochen besitzen wir fünfzehnhundert Dollar. Hilda findet Gefallen an dieser Tätigkeit. Sie entdeckt darin jene Disziplin und Ernsthaftigkeit, die ihr bislang fehlten.

Als Hilda sich eng mit einer jungen, aus Istanbul stammenden Hure namens Yasmine anfreundet, ziehen sie zu dritt in die Bäckerstraße und schlafen in einem großen Himmelbett miteinander.

Yasmine machte mich mit ein paar dubiosen Gestalten bekannt: Jean-Farouk de Mérode, Paulo Hayakawa, die alte Baronin Lydia Stahl, Sophie Knout, Rachid von Rosenheim, Monsieur Igor, T. W. A. Levy, Otto da Silva und noch andere, deren Namen ich vergessen habe. Im Kreise all dieser Schlawiner trieb ich Schleichhandel mit Gold, setzte falsche Zlotys in Umlauf, verkaufte Unkraut wie Haschisch und Marihuana an jeden, der was zu knastern wollte. Schließlich heuerte ich bei der französischen Gestapo an. Nummer S 1113. Dienststelle Rue Lauriston.“

Schlemilovitch eröffnet ein Bordell in Wien.

Die deutschen Soldaten trösten sich in meinem Etablissement, bevor sie wieder an die russische Front müssen. Heydrich höchstpersönlich besucht mich hin und wieder. Er hat eine Schwäche für Tania, Loïtia und Hilda, meine allerschönsten Huren. Es ekelt ihn nicht, wenn er sich auf die Jüdin Tania wälzt. Heydrich ist sowieso Halbjude, Hitler sieht, wegen dem Eifer seines Statthalters, großzügigig darüber hinweg.

Nach einer Weile wird Schlemilovitch der Aufgabe des Zuhälters überdrüssig. Eines Abends führt er Hilda nach dem Besuch des Praters in einen Park und zieht sie dort in die Büsche.

Ich habe ihr drei Ohrfeigen hintereinander verpasst. Es hat mir Spaß gemacht, als ich das Blut aus ihren Mundwinkeln rinnen sah. Großen Spaß. Eine Deutsche. Zu anderen Zeiten verliebt in einen jungen SS-Totenkopf. Ich bin nachtragend.

Eva Braun

Seit 1935 ist er der Liebhaber Eva Brauns, die von Hitler auf dem Obersalzberg so viel allein gelassen wird.

Liebe auf den ersten Blick bei ihr und bei mir. Hitler kommt einmal im Monat auf den Obersalzberg. Wir verstehen uns bestens. Gern akzeptiert er meine Rolle als Evas Cavalier servente. Das alles scheint ihm so unwichtig … Abends erzählt er uns von seinen Plänen. Wir lauschen ihm wie zwei Kinder. Er hat mich zum SS-Brigadeführer h. c. ernannt. Ich muss Eva Brauns Foto wiederfinden, auf das sie geschrieben hat: „Für meinen kleinen Juden, meinen geliebten Schlemilovitch. – Seine Eva.“

Bis zum Schluss verbringe ich meine Wochenenden auf dem Obersalzberg, und die Nazi-Größen bezeugen mir ihre Hochachtung.

Meine Frauen waren mein Schutzwall. Ihnen verdanke ich, dass mir Auschwitz erspart blieb.

Schlemilovitch verlässt Wien, besucht Vettern in Triest und dann seine Cousinen Sarah, Rachel, Dinah und Blanca in Istanbul. Von dort reist er weiter nach Kairo und organisiert in Port Said einen Jahrmarkt.

Für zwanzig Dinar pro Kopf konnten die Gaffer Hitler sehen, der in einem Käfig den Hamlet-Monolog deklamierte, Göring und Rudolf Heß, die eine Trapeznummer vollführten, Himmler und seine dressierten Hunde, den Schlangenbeschwörer Goebbels, den Schwertschlucker von Schirach, den ewigen Juden Julius Streicher.

Nach einer Woche verließest du deine lieben Gespenster und nahmst die Geldkasse mit. Du überquertest das Rote Meer, gelangtest nach Palästina und starbst vor Erschöpfung. Damit warst du am Ziel deiner Reise von Paris nach Jerusalem.

Aber Raphaël Schlemilovitch ist nicht tot. Er trifft seinen Ethiklehrer Joseph Joanovici wieder und räsoniert:

Ich war unverbesserlich. Ich versuchte, mir den Tod eines anderen anzueignen, genauso wie ich mir die Füllfedern von Proust und Céline hatte aneignen wollen, die Pinsel von Modigliani und Soutine, die Grimassen von Groucho Marx und Chaplin. Meine Tuberkulose? Hatte ich die nicht Franz Kafka gestohlen.

Rebekka

In Tel Aviv wird Schlemilovitch verhaftet. General Tobias Cohen, Kommissar für Jugend und Anhebung der Moral, fragt ihn, warum er nach Israel gekommen sei. Schließlich bringt man ihn zusammen mit anderen Häftlingen in einen Strafkibbuz, dessen Leiter über die Neuankömmlinge klagt:

„Lauter Intellektuelle, natürlich!“, sagte er mit wutschnaubender Stimme. „Wie soll man aus diesem menschlichen Abfall stahlharte Kämpfer machen? Mit euren Jeremiaden und eurem kritischen Geist habt ihr uns in Europa schön in Verruf gebracht. So, meine Herren, Schluss mit der Jammerei, jetzt werden die Muskeln trainiert. Schluss mit der Krittelei, jetzt wird konstruiert. […]
„Das sind eure Aufseher“, sagte er mit honigsüßer Stimme. „Siegfried Levy, Günther Cohen, Hermann Rappoport. Diese Erzengel werden euch drillen! Der kleinste Ungehorsam wird mit dem Tod bestraft.“

Die Männer müssen Steine klopfen. Nach getaner Tagesarbeit geht Hermann Rappoport zu den drei englischen Juden, zieht seinen Revolver und erschießt sie teilnahmslos.

Eine israelische Offizierin namens Rebekka im Rang eines Oberleutnants flüstert dem Häftling Schlemilovitch zu, dass sie ihn liebe und ihm zur Flucht verhelfen werde. Wie angekündigt, lässt sie ihn um 20 Uhr rufen. Hermann Rappoport bringt ihn auf ihre Anordnung zum Verwaltungsbüro des Kibbuz. Nachdem Rebekka ihrem Untergebenen erklärt hat, sie wolle sich amüsieren, den „kleinen Juden“ mit nach Tel Aviv nehmen, ihn dort vergewaltigen und dann kalt machen, klettert sie hinters Lenkrad eines Militärlastwagen, und Schlemilovitch setzt sich neben sie. Unterwegs halten sie an, damit er sich umziehen kann: Rebekka hat die Uniform und die Papiere von Siegfried Levy gestohlen.

Weil vor dem nächsten Tag kein Schiff nach Europa ablegt, nimmt Rebekka ihren Schützling in Tel Aviv mit in ein geheimes Nachtlokal. Ausgerechnet an diesem Abend findet eine Razzia statt, und der Kommandant Elias Bloch erkennt Schlemilovitch trotz seiner Luftwaffenuniform.

„Was? Schlemilovitch? Ich dachte, man hat Sie in einen Strafkibbuz geschickt! Und obendrein noch in Luftwaffenkluft! Also, diese europäischen Juden sind unverbesserlich.“
Er zeigte auf Rebekka:
„Ihre Verlobte? Sicher eine französische Jüdin? Und als Oberleutnant der israelischen Armee verkleidet! Das wird ja immer besser!“

Übergangslos befinden sie sich in Paris, wo sie von Nachtschwärmern umringt werden:

[Schlemilovitch] erkennt die Marquise de Fougeire-Jusquiames, den Vicomte Lévy-Vendôme, Paulo Hayakawa, Sophie Knout, Jean-Farouk de Mérode, Otto da Silva, Monsieur Igor, die alte Baronin Lydia Stahl, die Fürstin Chericheff-Deborazoff, Louis-Ferdinand Céline und Jean-Jacques Rousseau.

Bloch schlägt eine Spazierfahrt in den Bois de Boulogne vor, und sie machen sich alle zusammen auf den Weg. Ob Schlemilovitch nicht gewusst habe, dass das Nachtlokal Grand-Duc den Agenten der französischen Gestapo und Schwarzmarkthändlern vorbehalten sei, fragt er.

„Mir werden Sie es verdanken, dass man Ihnen dereinst die Märtyrerkrone aufsetzt, nach der Sie seit Ihrer Geburt immerzu gestrebt haben. Ja, das schönste Geschenk, das man Ihnen machen kann, werden Sie jetzt gleich aus meinen Händen erhalten: eine Ladung Blei ins Genick! Vorher erledigen wir noch Ihre Verlobte. Sind Sie zufrieden?“

Seine Liebschaften mit Eva Braun und Hilda Mürzzuschlag, seine ersten Spaziergänge durch Paris im Sommer 1940, in der Uniform eines SS-Brigadeführers: Ein neues Zeitalter brach an, sie wollten die Welt reinigen, sie für immer befreien von der jüdischen Lepra. Sie hatten einen klaren Kopf und blondes Haar. Später zermalmt sein Panzer die Kornfelder der Ukraine. Später stapft er mit Generalfeldmarschall Rommel durch den Wüstensand. Er wird in Stalingrad verletzt. In Hamburg besorgen Phosphorbomben den Rest. Bis ans Ende ist er seinem Führer gefolgt. Soll er sich von Elias Bloch beeindrucken lassen?

Auf der Allée des Acacias halten sie an. Die Polizisten Saul und Isaak zerren Rebekka aus dem Delahaye und vergewaltigen sie vor Schlemilovitchs Augen, während Bloch dem gefesselten Häftling mehrmals den Dolch in den Oberschenkel sticht, allerdings nicht tief.

Kommandant Bloch hatte mir zuvor Handschellen angelegt, und die Türen waren verschlossen. Ich hätte sowieso keinen Finger gerührt, um meine Verlobte zu verteidigen.

Als Saul und Isaak genug haben, lassen sie Rebekka liegen. Sie fahren weiter. Auf der Place de l’Étoile werden sie von den anderen bereits erwartet.

Sigmund Freud

„Um diese Zeit ist Ausgangssperre“, sagt Jean-Farouk de Mérode zu mir, „aber wir haben Spezialausweise.“
„Sollen wir ins One-Two-Two gehen?“, schlägt Paulo Hayakawa mir vor. „Dort gibt es sensationelle Mädchen. Noch dazu gratis! Es reicht, dass ich meine Karte von der französischen Gestapo zeige.“
„Und wenn wir ein paar Haussuchungen bei den Bonzen hier im Viertel machten?“, sagt Monsieur Igor.
„Ich würde lieber einen Juwelier ausrauben“, sagt Otto da Silva.
„Oder einen Antiquitätenhändler“, sagt Lévy-Vendôme. „Ich habe Göring drei Directoire-Schreibtische versprochen.“
„Was haltet ihr von einer Razzia?“, fragt Kommandant Bloch. „Ich kenne einen Unterschlupf von ‚Widerstandskämpfern‚ in der Rue Lepic.“
„Gute Idee“, schreit die Fürstin Chericheff-Deborazoff. „Und dann foltern wir sie in meinem Palais an der Place d’léna.“
„Wir herrschen über Paris“, sagt Paulo Hayakawa.
„Unseren deutschen Freunden sei Dank“, sagt Monsieur Igor.
„Los, amüsieren wir uns!“, sagt Sophie Knout. „Abwehr und Gestapo sind unser Schutz.“
„Hoffentlich bleibt das noch lange so!“, sagt die alte Baronin Lydia Stahl.
„Nach uns die Sintflut!“, sagt die Marquise de Fougeire-Jusquiames.

Schlemilovitch wird übel. Er lehnt sich in einer Toreinfahrt an; beim Weitergehen stolpert er und fällt der Länge nach hin. Bloch bleibt allein mit ihm zurück und zieht einen Revolver aus der Tasche seines Trenchcoats. Schlemilovitch steht auf, weicht taumelnd zurück und versucht mit letzter Kraft zu lachen. Bloch nähert sich ihm.

„Du lachst? DU LACHST! Da hast du’s, kleiner Jude, da hast du’s!“
Mein Kopf platzt, aber ich weiß nicht, was schuld daran ist, die Kugeln oder mein Jauchzen.

Wo bin ich? Wien? Genf? Paris? Und die Frau, die mich am Arm festhält, heißt sie Tania, Loïtia, Hilda, Eva Braun?

Ich sinke auf die Sitzbank eines hydraulischen Fahrstuhls. Eine Tür wird geöffnet. Ein großes Zimmer mit weißen Wänden. Ein Himmelbett. Ich bin eingeschlafen.

Doktor Sigmund Freud ist bei ihm und erklärt ihm, dass er nachts am Franz-Josefs-Kai gelegen habe. Krankenpfleger brachten ihn nach Wien-Pötzleinsdorf, in die Klinik. Er gibt sich zuversichtlich, dem Patienten wieder zu einem klaren Kopf verhelfen zu können.

„Sie können ein gesunder junger Mann werden, optimistisch und sportlich, versprochen!“

Dann erwähnt Freud das Buch „Betrachtungen über die Judenfrage“ von Jean-Paul Schweitzer de la Sarthe.

„Sie müssen unbedingt eines begreifen: den JUDEN GIBT ES NICHT, wie Schweitzer de la Sarthe vollkommen richtig sagt. SIE SIND KEIN JUDE, Sie sind ein Mensch unter anderen Menschen, das ist alles. Sie sind kein Jude, ich wiederhole es noch einmal, Sie haben einfach nur halluzinatorische Delirien, Wahnvorstellungen, weiter nichts, eine ganz leichte Paranoia … Niemand will Ihnen Böses tun, mein Kleiner, alle möchten bloß nett zu Ihnen sein. Wir leben heute in einer friedlichen Welt. Himmler ist tot, wie kommt es, dass Sie sich an all das erinnern, Sie waren noch gar nicht geboren, kommen Sie, seien Sie vernünftig […]“

Aber Raphaël Schlemilovitch würde sich nur von Dr. Louis-Ferdinand Bardamu behandeln lassen, und er hört Doktor Freud nicht mehr zu.

Obwohl er sich auf die Knie wirft, mich mit ausgestreckten Armen anfleht, sich mit beiden Händen an den Kopf fasst, sich aus Verzweiflung am Boden wälzt, auf allen Vieren läuft, bellt, mich anwinselt.

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Was für ein Roman!

Im Juni 1942 tritt ein deutscher Offizier auf einen jungen Mann zu und sagt: „Pardon, monsieur, où se trouve la place de l’Étoile?“
Der junge Mann zeigt auf die linke Seite seiner Brust.

Diese „jüdische Geschichte“ stellt Patrick Modiano vor den Beginn des Romans „Place de l’Étoile“. Dann wirbelt er uns durch die fiktive Biografie des französischen Juden Raphaël Schlemilovitch.

Dabei jongliert er voll Esprit mit Figuren, von denen viele zumindest Namen von Menschen tragen, die tatsächlich lebten: Hitler, Göring, Goebbels, Himmler, Heydrich, Alfred Dreyfus, Sigmund Freud, Maurice Sachs, Joseph Joanovici, Serge Alexandre Stavisky, Paul Chack, Pierre Drieu la Rochelle, Marcel Proust, Louis-Ferdinand Céline … Ferdinand Bardamu ist der Protagonist des Romans „Reise ans Ende der Nacht“ von Louis-Ferdinand Céline. Und bei einigen anderen Personen hat Patrick Modiano nur die Namen verändert: Abel Bonnard / Abel Bonheur, Lucien Rebatet / Léon Rabatête …

Ein Großteil der kaleidoskopartig wechselnden Handlung in „Place de l’Étoile“ spielt während der deutschen Besatzung Frankreichs, aber der Protagonist ist nicht an Ort und Zeit gebunden – so als wäre er der „ewige Jude“. Während seines Aufenthalts in Wien hört Raphaël Schlemilovitch, dass Albert Speer und Baldur von Schirach aus der Zitadelle Spandau entlassen wurden (1966), begegnet aber auch Sigmund Freud (1938 emigriert). Einmal ist er in Tel Aviv und im nächsten Augenblick in Paris. So ein abrupter Ortswechsel kann sogar innerhalb eines Satzes stattfinden:

In der Mariahilfer Straße spürten wir, wie Angst in uns hochstieg. Ein paar Schritte noch, und wir würden auf der Place de la Concorde sein.

Raphaël Schlemilovitch ist Dandy und Milliardenerbe, Kollaborateur der Nationalsozialisten, Zuhälter und Mädchenhändler, Häftling in einem israelischen Strafkibbuz und mit Hitlers Billigung Geliebter von Eva Braun auf dem Obersalzberg.

Bei Schlemilovitch, der zumeist als Ich-Erzähler auftritt, zwischendurch aber auch in der dritten Person Singular, haben der jüdische Narr und Unglücksrabe Schlemihl ebenso wie die Titelfigur aus der Märchenerzählung „Peter Schlemihls wundersame Geschichte“ von Adelbert von Chamisso Pate gestanden.

Patrick Modiano jongliert in seinem ebenso furiosen wie einfallsreichen Roman „Place de l’Étoile“ auf atemraubende Weise mit antisemitischen Klischees, Karikaturen von Nazis, französischen Antisemiten und Kollaborateuren. Es wimmelt von Anspielungen. „Place de l’Étoile“ ist sarkastische Parodie, tolldreiste Persiflage und facettenreiche Travestie, ein rasendes, expressionistisches und virtuoses Buch.

„Place de l’Étoile“ war der erste Roman von Patrick Modiano (* 1945). Der Verlag Gallimard in Paris (Lektorat: Raymond Queneau) nahm das Manuskript im Juni 1967 an – ein paar Wochen vor dessen 22. Geburtstag – und veröffentlichte das Buch im Frühjahr 1968. Es ins Deutsche zu übersetzen, wagte man erst 42 Jahre später: 2010 brachte der Carl Hanser Verlag Elisabeth Edls deutschsprachige Übertragung des Romans heraus.

In seinem Roman „Dora Bruder“ erzählt Patrick Modiano, wie er als 23-Jähriger dem Psychiater Gaston Ferdière in Paris ein Exemplar von „Place de l’Etoile“ mitbrachte und dieser daraufhin das gleichnamige Theaterstück von Robert Desnos (1900 – 1945) aus seinem Bücherschrank holte.

Ich wusste nicht, dass Robert Desnos La Place de l’Etoile geschrieben hatte. Ich hatte ihm, völlig unabsichtlich, seinen Titel gestohlen. (Patrick Modiano: Dora Bruder)

Patrick Modiano wurde 2014 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2014
Textauszüge: © Carl Hanser Verlag

Patrick Modiano (Kurzbiografie / Bibliografie)

Patrick Modiano: Villa triste (Verfilmung)
Patrick Modiano: Eine Jugend
Patrick Modiano: Straferlass
Patrick Modiano: Ein so junger Hund
Patrick Modiano: Aus tiefstem Vergessen
Patrick Modiano: Dora Bruder
Patrick Modiano: Unbekannte Frauen
Patrick Modiano: Die Kleine Bijou
Patrick Modiano: Der Horizont
Patrick Modiano: Gräser der Nacht
Patrick Modiano: Damit du dich im Viertel nicht verirrst
Patrick Modiano: Unsichtbare Tinte
Patrick Modiano: Unterwegs nach Chevreuse

Ernst Weiß - Der Augenzeuge
Originell an dem ergreifenden, unsentimentalen Roman "Der Augenzeuge" ist vor allem, dass der Erzähler aus Hybris Adolf Hitler 1918 im Lazarett von seiner neurotischen Erblindung gerettet haben will. Nach der Machtergreifung versucht man im KZ aus ihm herauszuprügeln, wo er die Akten und Aufzeichnungen von damals versteckt hat.
Der Augenzeuge