Patrick Modiano : Straferlass

Straferlass
Originalausgabe: Remise de peine Éditions du Seuil, Paris 1988 Straferlass Übersetzung: Andrea Spingler Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 1990 ISBN: 3-518-40234-X, 146 Seiten Suhrkamp Verlag, Berlin 2014 ISBN: 978-3-518-46619-3, 146 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Patrick ("Patoche") ist zehn Jahre alt, als er und sein jüngerer Bruder zu drei Frauen gebracht werden, die in einem Dorf bei Paris wohnen und ein Kindermädchen für die Jungen einstellen. Der Vater ist in Brazza­ville, die Mutter mit einer Theatertournee ebenfalls in Afrika unterwegs. Patoche durchschaut nicht, was seine 26-jährige Patin Annie jede Nacht in Paris zu tun hat und wer die Besucher sind, die regelmäßig zu ihr, ihrer Mutter und der früheren Zirkusartistin Hélène kommen. Die Welt der Erwachsenen bleibt für ihn ein Rätsel ...
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Kritik

Der Reiz des Romans liegt in der Perspektive eines Zehnjährigen, für den die Erwachsenen und ihr Tun rätselhaft bleiben. Patrick Modiano versucht gar nicht, die Vorgänge zu erklären, und das abrupte Ende lässt "Straferlass" beinahe wie ein Fragment wirken.
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Patrick („Patoche“) ist zehn Jahre alt, als er und sein jüngerer Bruder, dessen Namen wir nicht erfahren, zu drei Frauen in ein Dorf südwestlich von Paris gebracht werden. Der Vater ist nach Brazzaville gereist, und die Mutter kann sich nicht um ihre Kinder kümmern, denn die Schauspielerin ist mit einer Theatertournee in Afrika unterwegs. Bei den Frauen handelt es sich um Hélène („Linou“) Toch, die bis zu einem Unfall als Kunstreiterin und Akrobatin im Zirkus auftrat. Annie, die Patin der beiden vor einem Jahr in der Kirche Saint-Martin de Biarritz getauften Jungen, ist 26 Jahre alt, ihre Mutter Mathilde F. 50. Die Frauen bewohnen ein Haus mit efeubewachsener Fassade. Im Garten befindet sich das Grab von Doktor Guillotin. Männer kommen nur als Besucher in das Haus.

Die kleine Hélène musste, unter ihrer Freundlichkeit, eine stahlharte Frau sein.
Später habe ich erfahren, dass sie Annie kennengelernt hatte, als diese neunzehn Jahre alt war. Sie übte einen solchen Einfluss auf Annie und ihre Mutter Mathilde F. aus, dass die beiden Frauen Herrn F. verließen, um mit ihr zusammenzuleben.

Die Frauen stellen ein Kindermädchen für die beiden Jungen ein, das sich im Zimmer neben ihnen einrichtet. Patoche und sein Bruder nennen das Mädchen „Schneewittchen“, weil es wie die Märchengestalt aussieht.

Nachts ist Annie selten zu Hause. Sie fährt spätabends mit ihrem 4 CV nach Paris, kommt am Morgen zurück und schläft dann bis mittags. Was sie in Paris zu tun hat, bleibt für die Kinder ein Rätsel. Sie schnappen nur einmal einen offenbar darauf bezogenen Satz der Erwachsenen auf: „Annie hat die ganze Nacht im Carroll’s geweint.“ Patoche hat auch gehört, dass es sich bei Carroll’s um ein Nachtlokal in der Rue de Ponthieu handelt.

Zu den regelmäßigen Besucherinnen Annies in dem Haus gehören Zina Rachewsky und vor allem Frede, eine Frau Mitte 30. Zwei Jahrzehnte später wird Patrick in einer alten Ausgabe von „La Semaine à Paris“ vom Juli 1939 einen Hinweis auf Frede finden. Damals war sie 20 Jahre alt und trat in einem Nachtlokal auf. – Donnerstags bringt Frede meistens einen Neffen mit, der ein wenig jünger als Patoche ist.

Anders als sein Bruder geht Patoche bereits zur Schule. Annie meldete ihn am anderen Ende der Rue du Docteur-Dordaine in der Jeanne-d’Arc-Schule an und gab sich gegenüber der Direktorin als seine Mutter aus. Auf dem Heimweg erklärte sie ihm, dass die Wahrheit viel zu kompliziert gewesen wäre.

Nach ein paar Wochen bestellt die Direktorin Annie in die Schule. Anschließend sagt Annie:

Mein armer Patoche … Sie haben dich rausgeworfen …“

Ich glaube nicht, dass ich ein schlechterer Schüler war als andere. Die Direktorin der Jeanne-d’Arc-Schule hatte sicherlich Erkundigungen über meine Familie eingezogen.

Die kommunale Schule des Dorfes, die Patoche von da an besucht, ist etwas weiter vom Haus der Frauen entfernt als die Jeanne-d’Arc-Schule. Oft geht er den Weg mit dem Sohn des Blumenhändlers, der im Nachbarhaus wohnt. Auch der Sohn des Apothekers gehört zu seinen Klassenkameraden. Eines Morgens verbreitet sich unter den Schülern die Nachricht, dass sich der Apotheker erhängt habe.

Patoche und sein Bruder werden von ihrem Vater besucht. Zwischen zwei Reisen nach Brazzaville kommt er mehrmals aus Paris zu ihnen, und weil er kein Auto fährt, ist er jeweils in Begleitung eines anderen Freundes: Annet Badel, Sacha Cordine, Robert Fly, Jacques Boudot-Lamotte, Georges Giorgini, Geza Pellmont, der dicke Lucien P., Stioppa de D. … Der Vater lädt die Anwesenden dann zum Mittagessen ins Gasthaus Robin des Bois ein. Mathilde zieht es allerdings vor, zu Hause zu bleiben.

Geza Pellmont fragt seinen Freund einmal: „Erinnerst du dich? Wir kamen mit Eliot Salter hierher.“ Den Namen haben die Jungen bereits gehört: Es handelt sich um den früheren Besitzer des nahen Schlosses. Auf einem Zettel am Eingang der verfallenen Anlage steht, dass es von der amerikanischen Armee für den Brigadegeneral Franck Allen beschlagnahmt wurde. Nach dem Mittagessen geht der Vater mit seinen Gästen gern zum Schloss. Er sagt, er habe den Besitzer des Schlosses gekannt und erzählt seinen Söhnen von Eliot Salter, Marquis de Caussade. Der war im Ersten Weltkrieg ein Held der Luftwaffe, heiratete dann eine Argentinierin und wurde der König des Armagnac.

Bewacht das Schloss gut, Kinder, sagte mein Vater. Der Marquis wird schneller zurückkommen, als wir denken …

In der Nacht warten Patoche und sein Bruder, bis alle schlafen. Dann schleichen sie sich aus dem Haus. Eigentlich haben sie vor, das Schloss zu erkunden, aber nach 50 Metern wird es ihnen auf der Straße zu unheimlich, und sie kehren um.

Das nächste Mal würden wir, bevor wir kehrtmachten, die Rue du Docteur-Dordaine ein bisschen weiter gehen als in dieser Nacht.

Als Erwachsener wird Patrick erfahren, dass der Vater während der deutschen Besatzung in einem Restaurant in der Rue de Marignan festgenommen wurde, weil sich Juden nach 20 Uhr nicht mehr in der Öffentlichkeit aufhalten durften. Es gelang ihm dann zwar, vor dem Abtransport zu fliehen, aber im Jahr darauf wurde er in seiner Wohnung verhaftet und in eine Dependance des Lagers Drancy am Quai de la Gare in Paris gebracht. Von dort befreite ihn ein Mann, der Louis Pagnon hieß, aber „Eddy“ genannt wurde. 1932 hatte die Strafkammer von Mont-de-Marsan Louis Pagnon wegen des illegalen Betriebes eines Spielkasinos zu einer geringen Strafe verurteilt. Von 1937 bis 1939 arbeitete er in einer Autowerkstatt im 17. Arrondissement. Dabei lernte er den Karosserieschlosser Edmond Delahaye kennen und Henri, einen Vertreter der Autofirma Simca. Im Krieg organisierte Henri mit Edmond Delahaye als Sekretär und Louis Pagnon als Chauffeur einen Schwarzhandel. Pagnon konnte sich nicht nur eine Luxuswohnung in der Rue des Belles-Feuilles, sondern auch ein Rennpferd leisten, und die Frau eines Marquis war seine Geliebte.

Wann hatte mein Vater Pagnon kennengelernt? Zum Zeitpunkt der Biarritzer Socken-Affäre? Wer weiß. 1939 hatte mein Vater eines Nachmittags im 17. Arrondissement vor einer Garage angehalten, damit der Reifen seines Fords gewechselt würde, und Pagnon war da.

Weil Louis Pagnon mit der Gestapo kollaboriert hatte, wurde er bei der Befreiung von Paris erschossen.

Zwei-, dreimal pro Woche empfangen Annie und Hélène Besucher.

Diejenigen, deren Bild am deutlichsten bleibt, sind Roger Vincent, Jean D. und Andrée K., von der es hieß, sie sei „die Frau eines berühmten Doktors“.

Manchmal bringt Annie den gleichaltrigen Jean D. aus Paris mit. Roger Vincent ist Mitte 40, Andrée K. zehn Jahre jünger. Nachdem Schneewittchen einmal gesagt hat, Patoche lese für sein Alter zu viel, schenkt ihm Jean D. ein Buch mit dem Titel „Touchez pas au grisbi“. (Der Roman von Albert Simonin erschien 1953. Der Titel ließe sich mit „Hände weg von der Kohle“ übersetzen, aber der deutsche Buchtitel lautet: „Wenn es Nacht wird in Paris“.)

Annie und Roger Vincent nehmen die Jungen einmal mit nach Versailles. Dort halten sie vor einem Geschäft, in dem alte Möbel verkauft werden. Nach einer Unterredung mit dem Inhaber steigt Roger Vincent mit einem Lederkoffer in der Hand wieder ins Auto. Bei einer anderen Gelegenheit hört Patoche ihn sagen: „Doch, doch … Andrée verkehrte mit der Bande von der Rue Lauriston.“ (Dort war die Gestapo-Zentrale von Paris.)

Wenn Schneewittchen nicht da ist, dürfen die Jungen mit Annie nach Paris fahren. Sie trifft sich dort mit einem Mann in ihrem Alter, den Patoche und sein Bruder nach einem Comic-Helden Buck Danny nennen. Eines Donnerstags sitzt nur Patoche neben Annie im 4 CV, weil sein Bruder mit Hélène zum Einkaufen nach Versailles gefahren ist. Annie hält bei der Île de Puteaux, um sich die schwimmenden Villen und die in Behausungen umfunktionierten Kähne auf der Seine anzuschauen, denn sie träumt davon, so zu wohnen. Dann parkt sie, wie üblich, vor dem Häuserblock ein, in dem Buck Danny wohnt. Aber dieses Mal kommt sie ohne ihn zurück. Im Auto schenkt sie dem zehnjährigen Patoche weinend ein Zigarettenetui aus Krokodilleder.

Die beiden Brüder erhalten von ihrer Mutter eine Luftaufnahme der Stadt Tunis; der Vater schreibt ihnen eine Karte aus Brazzaville, dann aus Bangui. Danach kommt nichts mehr von ihnen.

Auch die Frauen und ihre Besucher sieht Patrick nach dem mehr als ein Jahr dauernden Aufenthalt in der Rue du Docteur-Dordaine bis auf eine Ausnahme nicht mehr wieder. Im Alter von 20 Jahren bewohnt er 1965 ein Zimmer in der Rue Coustou nahe der Place Blanche in Paris und versucht, sein erstes Buch zu schreiben. Als er von einem Freund zum Essen eingeladen wird, trifft er diesen im Restaurant unerwartet mit Jean D. und dessen etwa zehn Jahre jüngerer Begleiterin an. Im Zusammenhang mit der Entführung und Ermordung des marokkanischen Politikers Ben Barka in Paris las Patrick den Namen Jean D. in der Zeitung. Jean D. war mit einem der Beteiligten befreundet, der unter mysteriösen Umständen in der Rue des Renaudes ums Leben kam, und hatte ihn sogar als Letzter lebend gesehen. Dem Zeitungsartikel entnahm Patrick auch, dass Jean D. wegen einer früheren Sache sieben Jahre Haft verbüßt hatte.

Es wurde nicht gesagt, warum, doch nach dem Datum zu schließen, hatten die Schwierigkeiten in der Zeit der Rue du Docteur-Dordaine begonnen.

Jean D. möchte nach dem Essen Patricks Bude sehen. Sie fahren mit seinem Jaguar hin. Als er feststellt, dass nicht geheizt ist, fragt er Patrick, ob er zurechtkomme. Der angehende Schriftsteller sagt „ja“, obwohl er nicht weiß, wie er am Monatsende die Miete bezahlen soll. Kurz nachdem Jean D. und dessen Begleiterin sich verabschiedet haben, findet Patrick vier gefaltete 500-Francs-Scheine. Er versucht, Jean D. ausfindig zu machen, aber es gelingt ihm nicht.

Annie, die kleine Hélène, Roger Vincent waren sicherlich im Gefängnis gelandet … Ich hatte meinen Bruder verloren.

Patrick erinnert sich daran, wie ihn das Zigarettenetui aus Krokodilleder am College in Schwierigkeiten brachte. Zwillinge aus der Großbourgeoisie hatten es darauf abgesehen, und die einzige Möglichkeit, ihnen zu entgehen, war die Relegation von der Schule. Also riss Patrick morgens aus und kehrte erst abends wieder zurück. Der Direktor schloss ihn daraufhin vom Unterricht aus, verwies ihn von der Schule, ließ ihn jedoch erst einmal in einem Zimmer einsperren, weil man seine Eltern noch nicht erreichen konnte. Der Vater war seit einigen Monaten in Kolumbien, um dort nach Gold zu suchen, und die Mutter in der Gegend von La Chaux-de-Fonds auf Tournee.

Als Patrick gerade sein erstes Buch beendet hat, spricht ihn an der Theke eines Cafés ein anderer Gast auf das Zigarettenetui an und erklärt ihm, es stamme aus einer vor 15 Jahren aus dem Lager eines großen Lederwarengeschäfts der Champs-Élysées gestohlenen Beute. Nur einige der Diebe seien gefasst worden.

Das waren Leute, die noch Schlimmeres angestellt hatten als diesen Einbruch …

Da erinnert Patrick sich wieder an das Haus der Frauen in der Rue du Docteur-Dordaine. Als Schneewittchen verschwand, ohne ein Wort zu sagen, brachte Annie die beiden Jungen zur Hausmeisterin ins Haus gegenüber. „Weil Gäste kommen, die ein paar Tage bei uns wohnen werden.“ In einer der nächsten Nächte wachte Patrick durch ein Motorengeräusch auf. Annies 4 CV und Roger Vincents Auto standen vor dem Haus; das Geräusch kam von einem Lastwagen, der in der Nähe abgestellt wurde. Jean D. und Buck Danny stiegen aus und gingen ins Haus der Frauen.

Am nächsten Morgen ging Patrick wie immer zur Schule, aber als der Unterricht zu Ende war, wartete sein Bruder auf ihn und sagte: „Bei uns ist niemand mehr.“ Als sie hinkamen, stand ein Polizist vor der Haustüre, Annies Auto wurde gerade abgeschleppt, und es fand eine Hausdurchsuchung statt. Die Polizei fragte die Jungen nach den Eltern.

Meine Mutter spielte irgendwo in Nordafrika ihr Theaterstück. Mein Vater war in Brazzaville oder in Bangui oder noch weiter weg. Es war zu kompliziert.
– Sie sind tot, sagte ich.

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In seinem Roman „Straferlass“ lässt Patrick Modiano (Nobelpreis 2014) einen Ich-Erzähler auftreten, der ebenfalls Patrick („Patoche“) heißt, Schriftsteller ist und 1945 geboren wurde wie er selbst. Was an dieser Figur authentisch und was fiktiv ist, wissen wir jedoch nicht.

Der Protagonist erinnert sich als Erwachsener an einen längeren Aufenthalt mit seinem Bruder bei drei Frauen und einem Kindermädchen in einem Dorf südwestlich von Paris. Er war damals zehn Jahre alt, sein Bruder ging noch nicht zur Schule. Irgendwo heißt es, er habe seinen Bruder später „verloren“, aber mehr erfahren wir darüber nicht. (Patrick Modianos zwei Jahre jüngerer Bruder Rudy starb im Alter von zehn Jahren an Leukämie.)

In der ersten Hälfte des Buches versetzt sich der Ich-Erzähler in die damalige Zeit. Mit zehn war er zu jung, um die Vorgänge in der Erwachsenenwelt zu begreifen. Sie bleiben für ihn rätselhaft. Die kindliche Perspektive macht den Reiz des Romans „Straferlass“ aus. Und Patrick Modiano versucht auch gar nicht, die vielen im Verlauf der Lektüre entstehenden Fragen im Nachhinein zu klären. Nachdem halbherzige Nachforschungen des erwachsenen Erzählers vergeblich geblieben sind, endet der Roman abrupt, und „Straferlass“ wirkt beinahe wie ein Fragment.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2014
Textauszüge: © Suhrkamp Verlag

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Sechs Koffer