Haruki Murakami : Gefährliche Geliebte

Gefährliche Geliebte
Originalausgabe: Kokkyo No Minami, Taiyo No Nishi Kodansha, Tokio 1992 Gefährliche Geliebte Übersetzung der englischsprachigen Ausgabe (Alfred A. Knopf, New York 1998) durch Giovanni Bandini und Ditte Bandini DuMont Buchverlag, Köln 2000 Südlich der Grenze, westlich der Sonne Neuübersetzung: Ursula Gräfe DuMont, Köln 2013 ISBN 978-3-8321-9707-0, 223 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Hajime ist noch keine vierzig, hat eine Familie und führt einen erfolgreichen Jazzclub in Tokio. Trotzdem trauert er verpassten Gelegenheiten nach und erinnert sich wehmütig an seine Jugendliebe Shimamoto – die eines Tages wie eine Halluzination in seiner Bar auftaucht ...
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Kritik

Die chronologisch erzählte Geschichte hält sich zunächst an Fakten und konkrete Ereignisse. Erst wenn die zur Ikone stilisierte schöne und geheimnisvolle Frau im Buch eine Rolle zu spielen beginnt, bekommt die Handlung ihren Reiz und wird spannend: "Gefährliche Geliebte".
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Hajime (das heißt „der Beginn“ auf japanisch) wächst in einer gutbürgerlichen Vorortsiedlung verhätschelt als Einzelkind auf. „Ich war tatsächlich verzogen, schwach und egozentrisch.“ (Seite 9) Da seine Mitschüler alle Geschwister haben, „Musterfamilien“ sind, kommt er sich immer vor, als sei er „kein ganz vollständiger Mensch“. (Seite 8)

In Hajimes Klasse kommt ein neu zugezogenes Mädchen: Shimamoto. Sie zieht ihr linkes Bein nach; die Folgen einer Kinderlähmung. Der Zwölfjährige kümmert sich um die Gleichaltrige und freundet sich mit ihr an. Ihre Interessen für Musik und Bücher und die Tatsache, dass sie beide Einzelkinder sind, verbindet sie. Hajime ist von der klugen, schönen, tapferen, nie klagenden Mitschülerin hingerissen. Er vergöttert sie nahezu. Noch weiß er nicht, dass er sie immer als Vorbild für alle Frauen vor Augen haben wird.

Sie war ganz ohne Frage ein frühreifes Mädchen. … Wir hielten uns nur ein einziges Mal bei der Hand. … Unsere Hände waren, wenn’s hoch kommt, zehn Sekunden lang umeinander geschlossen, aber mir kam es eher wie dreißig Minuten vor. Als sie mich losließ, fühlte ich mich plötzlich verloren. (Seite 19ff)

Nach einem Umzug von Hajimes Eltern besuchen die beiden verschiedene Schulen und verlieren sich aus den Augen.

Mit sechzehn lernt Hajime Izumi kennen. Nach ihrer dritten Verabredung küssen sie sich und nach weiteren schüchternen, unbeholfenen Schmusereien kommen sie sich allmählich körperlich näher.

Sie legte ihre Hand flach auf mein Herz, und die Berührung ihrer Hand und das Pochen meines Herzens wurden eins. Sie ist nicht Shimamoto, sagte ich mir. Sie kann mir nicht geben, was Shimamoto mir gegeben hat. (Seite 32)

Über ein Jahr gehen sie miteinander, ohne dass es zum Koitus kommt.

Als Hajime nach Tokio aufs College geht, bleibt Izumi bei ihren Eltern zurück. Sie fürchtet, dass er sie vergessen wird – und so kommt es auch.

Das erste Mädchen, mit dem Hajime – er ist jetzt siebzehn – schläft, ist wiederum ein Einzelkind. Als er es zum ersten Mal sieht, ist es, ob er „hinterrücks von einem lautlosen Blitz getroffen“ worden sei. Die Zwanzigjährige ist die Kusine von Izumi. Das hält ihn aber nicht davon ab, sich mit ihr auf eine heftige Liebesbeziehung einzulassen.

Zwei Monate lang trieben wir es so leidenschaftlich miteinander, dass ich befürchtete, uns würde das Hirn zerschmelzen. Keine Kinobesuche, keine Spaziergänge, kein Smalltalk über Romane, Musik, den Krieg, die Revolution. Vögeln war das Einzige, was wir taten. Ein paar Worte müssen wir wohl gewechselt haben, aber worüber, weiß ich beim besten Willen nicht mehr. … Ich stellte ihr nie eine Frage, und sie mir ebensowenig. (Seite 47ff)

Sie waren nicht ineinander verliebt und hätten sich nach ein paar Monaten wahrscheinlich sowieso getrennt. Aber Izumi hat von dem Verhältnis erfahren und ist zutiefst verletzt.

Aber nicht nur Izumi war verletzt worden. Auch mir selbst hatte ich eine tiefe Wunde zugefügt, wenngleich ich damals noch nicht wusste, wie tief. Ich hätte aus dieser Erfahrung vieles lernen müssen, aber wenn ich zurückblicke, habe ich daraus nur eine einzige, unumstößliche Erkenntnis gezogen: dass ich im Grunde ein Mensch bin, der fähig ist, Böses zu tun. (Seite 51)

Hajime absolviert lustlos ein Studium. Vier Jahre College betrachtet er als vergeudete Zeit und sieht sich an einem Tiefpunkt. Nach dem Studienabschluss findet er eine Stelle als Lektor bei einem Schulbuchverlag. Die Arbeit füllt ihn nicht aus; ein paar Freundinnen hat er, aber nichts von Dauer. Er ist höchst unzufrieden.

Ich betrachte diese Zeit als den dritten Abschnitt meines Lebens – die zwölf Jahre zwischen meinem Eintritt ins College und meinem dreißigsten Geburtstag. Jahre der Enttäuschung und der Einsamkeit. Und des Schweigens. Eine zwölfjährige Eiszeit, in der meine Gefühle tief in mir eingeschlossen blieben. (Seite 55)

Hajime ist achtundzwanzig, als er an Silvester durch die Stadt schlendert. Er entdeckt im Gedränge eine Frau, die ein Bein ebenso nachzieht wie Shimamoto. Er läuft dieser elegent gekleideten Frau hinterher, um festzustellen, ob es sich tatsächlich um seine angehimmelte Freundin aus Schultagen handelt. Aber wie sollte er sie erkennen? Es sind fast sechzehn Jahre vergangen! Die Frau fühlt sich wohl verfolgt und flüchtet in ein Café. Hajime geht ihr auch dorthin nach. Er wagt es nicht, sie anzusprechen, um sich zu vergewissern. Nach einem Telefonanruf verlässt sie hastig das Café und hält ein Taxi an. Hajime eilt ihr hinterher und will sie am Einsteigen hindern, als er von einem Mann am Arm gepackt wird. Dieser drängt ihn ins Café zurück und stellt ihn wegen der Verfolgung zur Rede.

Ich erwiderte nichts. Sie hatte gemerkt, dass ich ihr folgte, war in dieses Café gegangen und hatte diesen Mann angerufen.
„Wenn Sie nicht reden wollen – auch gut. Ich weiß, was vor sich geht, auch ohne dass Sie es mir erzählen.“ …
„Ich möchte nicht, dass es zu einem Skandal kommt. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?“ (Seite 67)

Dann legt der Mann ein Kuvert auf den Tisch.

„Kein Wort über das, was vorgefallen ist. Ihnen ist heute nichts Besonders widerfahren, und Sie haben mich nie gesehen. Verstanden? … Wir möchten sicher beide jede Unannehmlichkeit vermeiden. Richtig?“ (Seite 68)

In dem Umschlag sind Zehntausend–Yen–Scheine. Hajime kann sich auf die Motive des Mannes keinen Reim machen.

Es war und blieb ein Rätsel. Manchmal sagte ich mir. es müsse alles nur eine Einbildung gewesen sein … Aber es war wirklich passiert. In meiner Schublade lag ein weißer Umschlag mit Zehntausend–Yen–Scheinen – der Beweis, dass es kein Traum gewesen war. (S.69 ff)

Mit dreißig heiratet Hajime eine fünf Jahre jüngere Frau: Yukiko. Ihr Vater ist ein vermögender mittelständischer Bauunternehmer. Nachdem er von der Unzufriedenheit Hajimes mit seiner Arbeit im Schulbuchverlag gehört hat, bietet er ihm an, beim Aufbau einer neuen beruflichen Existenz behilflich zu sein. Hajime eröffnet eine elegante Jazz–Bar, und zwei Jahre später eine zweite. Er und Yukiko bekommen zwei Kinder, haben eine komfortable Wohnung, ein schickes Auto und bald auch ein Ferienhaus. Er arbeitet gerne in seinen Bars, ist ein liebevoller Vater und er liebt seine sanfte, aufmerksame Frau, die lindernd und besänftigend auf ihn einwirkt. Während der Schwangerschaften Yukikos hatte er ein paar kurze Affären, maß ihnen aber keine Bedeutung bei.

Nach der Geburt seiner ersten Tochter erhält er eine Todesanzeige: die Frau, mit der er als Student die heftige Liebesaffäre hatte, ist mit sechsunddreißig Jahren gestorben. Er kann sich denken, dass Izumi ihm die Nachricht hat zustellen lassen – und er begreift die Unversöhnlichkeit, die Izumi dazu veranlasst hat. Bald darauf erfährt er von einem ehemaligen Klassenkameraden Näheres über Izumis Lebensumstände: Sie wohnt allein in einem großen Mietshaus ohne jeglichen Kontakt zu den Nachbarn. Die Kinder im Haus haben Angst vor ihr. Nicht dass sie hässliche Sachen zu den Kindern sagte oder Narben im Gesicht hätte – was finden sie dann zum Fürchten?

„Du müsstest sie mit eigenen Augen sehen, um es zu begreifen. Wer es nicht selbst gesehen hat, kann es gar nicht verstehen.“ (Seite 85)

In einer Fachzeitschrift erscheint ein Feature über Hajimes Jazz–Bar. Das belebt das Geschäft, auch viele alte Bekannte kommen aus Neugier, und als das Interesse an dem Artikel längst abgeflaut war, betritt eine atemberaubend schöne Frau die Bar. Als Chef kümmert sich Hajime um den Barbetrieb und nimmt von ihr nur als Gast ohne Herrenbegleitung Notiz. Erst als sie von ihrem Barhocker steigt, sich neben ihn setzt und „Was für eine schöne Bar“ sagt, begreift er langsam – Shimamoto! Durch seine Verlegenheit und Überraschung bringen sie nur eine verkrampfte Unterhaltung zustande, bis sie darauf zu sprechen kommen, warum er sie damals nicht mehr besucht hat.

„Ich hatte Angst“, sagte ich [Hajime]. „Deswegen bin ich nicht gekommen.“
„Angst?“, fragte sie. „Wovor? Vor mir?“
„Nein, nicht vor dir. Vor Zurückweisung. Ich war noch ein Kind. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass du wirklich auf mich wartest. Ich hatte eine entsetzliche Angst, du würdest mich zurückweisen. Ich würde dich besuchen kommen, und du hättest keine Lust, mich zu sehen. Darum bin ich nicht mehr gekommen. Wenn schon alles vorbei sein sollte, wollte ich mir zumindest die schönen Erinnerungen an unsere gemeinsame Zeit bewahren.“
Sie legte den Kopf ein wenig zur Seite und ließ eine Cashewnuss in ihrer hohlen Hand herumrollen. „Es läuft nicht alles so, wie man es möchte, nicht?“
„Nein, wirklich nicht.“ (Seite 97ff)

Als sie dann geht und er sie zur Tür begleitet, bemerkt er, dass sie ihr Bein nicht mehr so nachzieht wie früher: Sie hat es operieren lassen.

„Shimamoto–san, werde ich dich wiedersehen?“
„Wahrscheinlich“, entgegnete sie. Ein Lächeln spielte um ihren Mund, ein Lächeln wie ein durchscheinendes Rauchwölkchen, das an einem windstillen Tag himmelwärts schwebt. „Wahrscheinlich.“ (Seite 104)

Vielleicht, sagte ich mir, hatte ich eine Halluzination. … Wenn man nur lang genug in den Regen sieht, ohne einen Gedanken im Kopf, spürt man, wie der Körper sich löst, wie er die Realität abschüttelt. Regen besitzt eine hypnotische Wirkung. (Seite 104)

Es vergehen Monate, ehe Shimamoto wiederkommt. Auch diesmal ein regnerischer Abend. Ihr geheimnisvolles Lächeln zieht ihn abermals in seinen Bann. Shimamoto fragt Hajime, ob er einen Fluss kenne, „der ziemlich schnell direkt ins Meer fließt“ (Seite 113), und ob er sie zu diesem Fluss begleiten könne. Er verspricht, mit ihr an den von ihm vorgeschlagenen Platz zu fahren. Mit dem Flugzeug könnten sie es an einem Tag hin und zurück schaffen. Natürlich muss er seine Frau wegen seiner Abwesenheit belügen. Der Grund für Shimamotos ausgefallen Wunsch erschließt sich ihm erst an Ort und Stelle. Sie hat eine kleine Urne dabei mit der Asche ihres Babys, das am Tag nach der Geburt gestorben war. Die Asche streut sie in den Fluss.

„…Wird die Asche des Kindes in die See fließen, sich mit dem Meerwasser vermischen, verdunsten, sich zu Wolken sammeln und als Regen niedergehen?“ (Seite 123)

Während der Rückfahrt im Mietauto zum Flughafen verliert Shimamoto das Bewusstsein. In Panik findet Hajime schließlich ein Medikament in ihrer Tasche. Aber ohne Flüssigkeit kann sie die Kapseln nicht schlucken. Er sammelt auf dem Parkplatz Schnee, bringt ihn in seinem Mund zum Schmelzen und lässt das Wasser aus seinem Mund in ihren rinnen. Für sie war das wohl kein unerwarteter Anfall, während Hajime völlig durcheinander ist. Wegen des Zwischenfalls sind sie nun für den Rückflug spät dran.

„Ich wusste, dass irgend so etwas passieren würde“, sagte sie wie zu sich selbst. „Sobald ich dabei bin, passiert nie etwas Gutes, man kann sich drauf verlassen. Wenn ich im Spiel bin, geht grundsätzlich etwas schief. Alles läuft glatt, dann stoße ich dazu, und bums! bricht alles auseinander.“ (Seite 128 ff)

Hajime denkt sich bereits Ausreden für seine Frau aus, sollte er am gleichen Tag nicht mehr zurückfliegen können. Das Flugzeug erreichen sie; es startet mit Verspätung und Hajime kommt deshalb erst spät am Abend nach Hause. Shimamoto lässt er in der Stadt aussteigen.

Als ich davonfuhr, dachte ich: Wenn ich sie nie wiedersehe, werde ich wahnsinnig. Kaum war sie ausgestiegen und verschwunden, war meine Welt hohl und bedeutungslos geworden. (Seite 131)

Von seinem Schwiegervater erfährt Hajime erst jetzt, dass Yukiko früher versucht hatte, sich wegen einer unglücklichen Liebe umzubringen, und er legt ihm ans Herz, sie nicht zu vernachlässigen.

Seit ihrem Ausflug an den Fluss kommt Shimamoto fast jede Woche in eine von Hajimes Bars. Immer taucht sie unvermutet mit ihrem geheimnisvollen Lächeln in Regennächten auf. Er weiß immer noch nichts von ihrem Leben, nicht einmal, wo sie wohnt, ob sie verheiratet ist oder mit jemandem zusammenlebt. Ihre Antworten sind immer vage.

„… die traurige Wahrheit ist die, dass bestimmte Dinge nicht rückgängig zu machen sind. Haben sie sich erst einmal in Bewegung gesetzt, kann man tun, was man will, aber sie werden nie wieder zu dem, was sie einmal waren. Wenn nur eine winzige Kleinigkeit schiefgeht, dann bleibt es für immer so.“ (Seite 153)

Im Frühjahr verschwindet Shimamoto erneut. Sie hinterlässt in der Bar lediglich eine Nachricht auf einem Streichholzbriefchen:

„Wahrscheinlich kann ich eine Zeit lang nicht mehr kommen“, las ich. „Ich muss jetzt heim. Leb wohl. Mach’s gut“. (Seite 156)

Hajime vertreibt sich ruhelos die Zeit: er baut seine Bars um, treibt intensiv Sport und versucht, sich mit seiner Familie im Ferienhaus abzulenken.

Nach sechs Monaten taucht eines Abends unvermittelt Shimamoto wieder in seiner Bar auf. Für ihr Wegbleiben hat sie keine konkrete Erklärung:

„… Ich hätte mich bei dir melden sollen. Aber ich wollte gewisse Dinge so belassen, wie sie sind. Konserviert, sozusagen. Entweder ich komme her, oder ich komme nicht. Wenn ich herkomme, dann bin ich da. Wenn nicht, dann … bin ich anderswo.“ (Seite 174)

Sie hat ihm diesmal ein Geschenk mitgebracht, eine Schallplatte von Nat King Cole, die sie damals beide so gerne abgespielt haben. Hajime schlägt vor, dass sie sich die Platte zusammen anhören; sein Ferienhaus hat eine Stereoanlage, sie könnten hinfahren – jetzt gleich. Er verständigt Yukiko, dass er diese Nacht nicht nach Hause komme; er brauche Zeit zum Nachdenken. Sie hatten nämlich Tags zuvor eine Meinungsverschiedenheit wegen einer aus Hajimes Sicht nicht korrekten Geldtransaktion, an der ihn sein Schwiegervater beteiligen wollte.

Im Ferienhaus entwickelt sich in entspannter Atmosphäre vor dem Kamin eine intime und innige Stimmung. Hajime gesteht Shimamoto seine Liebe und beschwört sie, dass sie ihn niemals wieder verlassen dürfe. Sie stimmt zwar zu, ihn so oft wie möglich zu besuchen, gibt aber zu bedenken, dass sie nicht jedes Mal kommen könne, wenn ihr gerade danach sei, obwohl auch sie ihn sehr liebe. Hajime ist bereit, seine Familie zu verlassen. An diesem Abend geben sie ihrer Leidenschaft nach und lieben sich die ganze Nacht über immer wieder.

Als Hajime aufwacht, ist Shimamoto nicht mehr da. Er wundert sich, wie sie in dieser verlassenen Gegend ohne Auto wegkam. Die Schallplatte, die sie ihm geschenkt hat, ist auch nicht mehr zu finden.

Zurück in Tokio, hat er Schwierigkeiten, sich zurechtzufinden, und wie soll er sich Yukiko gegenüber verhalten? Es war noch nie seine Art, sich ihr zu öffnen und seine Probleme anzusprechen. Seine Frau fragt ihn jedoch geradeheraus, ob er eine Geliebte habe und stellt ihm frei, sie, Yukiko, zu verlassen. Bis auf weiteres verändert er an seinem Familien- und Berufsleben nichts, denkt aber fortwährend verzweifelt an Shimamoto und ihre undurchschaubare Verhaltensweise.

Eines Tages fällt ihm das Kuvert mit dem Geld ein, das ihm der Mann damals im Café zugesteckt hatte. Er kann es nirgendwo finden. Einen Diebstahl schließt er aus.

In mir wuchs die Überzeugung, der Umschlag habe nie wirklich existiert, und sie verdrängte meine Überlegungen, zermalmte und verschlang gierig meine Gewissheit, dass der Umschlag real vorhanden gewesen war. (Seite 205)

Zwei Tage später, meint er auf der Straße Shimamoto zu sehen, sie ist es aber nicht. Noch ganz verwirrt steht er da und schaut in ein Taxi, in dem eine Frau sitzt. Es ist Izumi, und nun begreift er, warum die Kinder vor ihr Angst haben.

In ihrem Gesicht war nichts, was man Ausdruck hätte nennen können. Nein, das trifft es nicht ganz. Ich sollte es so beschreiben: Wie ein Zimmer, das man restlos ausgeräumt hat, war ihr Gesicht von allem entkleidet, was man als ausdrucksvoll hätte bezeichnen können, und nichts war übrig geblieben. Nicht der leiseste Anflug einer Regung streifte ihr Gesicht … Und mit diesem vollkommen ausdruckslosen Gesicht starrte sie mich an. (Seite 208)

Hajime bemüht sich, Yukiko wieder näherzukommen. Durch ihre verständnisvolle Art gelingt ihnen ein Neuanfang in ihrem Leben.

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Das Buch beginnt wie ein Entwicklungsroman. Die Thematik Einzelkind und die Angst vor Zurückweisung wird immer wieder aufgeworfen. Hajimes vorpubertäre Liebelei mit einer Gleichaltrigen, Shimamoto; die erste enge Beziehung mit einem Mädchen, Izumi, die sich ihm doch nicht ganz hingibt; die rein sexuelle Beziehung zu der Kusine Izumis und die Ehe mit Yukiko sind eigentlich nur Nebenstränge der Handlung. Hajime wird erst richtig „lebendig“, als Shimamoto als Erwachsene in sein Leben tritt. Seine bereits in der Schulzeit angehimmelte Freundin erscheint ihm nun als der Inbegriff der Schönheit, der Eleganz, ja der Frau schlechthin. Mit ihrem geheimnisvollen Lächeln gibt sie nichts von sich preis. Immer wieder verschwindet sie, man erfährt nie, wohin und was sie überhaupt für ein Leben führt. Immer wenn er mit ihr zusammen ist, verfällt er in einen Sinnentaumel. Der Autor versteht es gut, den Leser hinzuhalten und mit Hajime zittern zu lassen, wann sich die Herbeigesehnte wieder blicken lässt. Am Schluss weiß man dann eigentlich gar nicht, hat sich Hajime die Geliebte nur eingebildet oder hat es sie wirklich gegeben? Es sind einige Fährten gelegt, um Zweifel aufkommen zu lassen.

Die chronologisch erzählte Geschichte hält sich zunächst an Fakten und konkrete Ereignisse. Erst wenn die zur Ikone stilisierte schöne und geheimnisvolle Frau im Buch eine Rolle zu spielen beginnt, bekommt die Handlung ihren Reiz und wird spannend. Ich hätte gerne erfahren, wie die Übersetzung des japanischen Originaltitels ist. Das Buch ist aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt – was auch Haruki Murakami irritiert hat.

Als „hoch erotisch“, wie Marcel Reich-Ranicki den Roman eingestuft hat, würde ich das Buch nicht bezeichnen, wobei das verzweifelte Begehren in der amour fou aber unterschwellig durchaus zu spüren ist.

Bei der Besprechung des Romans „Gefährliche Geliebte“ im „Literarischen Quartett“ kam es durch die Meinungsverschiedenheit von Marcel Reich-Ranicki und Sigrid Löffler zu einem Eklat.

Unter dem Titel „Südlich der Grenze, westlich der Sonne“ erschien 2013 eine Neuübersetzung von Ursula Gräfe.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Irene Wunderlich 2004
Textauszüge: © DuMont – Die Seitenangaben beziehen sich auf die
btb-Taschenbuchausgabe (Goldmann Verlag, München 2002, 218 S.)

Das literarische Quartett

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