Marie NDiaye : Ladivine

Ladivine

Marie NDiaye

Ladivine

Ladivine Originalausgabe: Éditions Gallimard, Paris 2013 Ladivine Übersetzung: Claudia Kalscheuer Suhrkamp Verlag, Berlin 2014 ISBN: 978-3-518-42426-1, 444 Seiten, 22.95 € (D)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Die Afrikanerin Ladivine lebt mit ihrer Tochter in Frankreich, verrät Malinka aber nichts über ihre Herkunft. Das hellhäutige Mädchen schämt sich seiner schwarzen Mutter und beginnt unter dem Namen Clarisse ein neues Leben. Später verleugnet sie die Mutter sogar gegenüber ihrem Mann, nennt ihre Tochter jedoch Ladivine. Als Richard sich von ihr trennt, beginnt sie eine Affäre mit einem alkoholkranken Arbeits­losen. Ihre Tochter Ladivine, die in Berlin geheiratet und zwei Kinder geboren hat, verschwindet während eines grauenhaften Familienurlaubs in Afrika ...
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Kritik

In ihrem Roman "Ladivine" erzählt Marie NDiaye eine vier Generationen überspannende Familientragödie über vier Frauen. Dabei verschmilzt die zunächst realistische Geschichte immer stärker mit einem animistischen Hintergrund.

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An jedem ersten Dienstag im Monat fährt Clarisse Rivière mit dem Zug von Langon nach Bordeaux und besucht dort ihre aus Afrika stammende Mutter Ladivine Sylla, die ihre Tochter nur unter deren Namen Malinka kennt, nichts von deren Leben als Clarisse weiß und weder von ihrem Schwiegersohn Richard Rivière noch von ihrer Enkelin Ladivine jemals etwas erfahren hat. Andererseits verheimlicht Clarisse sogar ihrer Familie, dass ihre Mutter noch lebt. Dass sie von einer Schwarzen geboren wurde, ahnt in ihrem anderen Leben niemand. Weil die Bezahlung, die Ladivine als Putzhilfe erhält, nicht reichen würde, bringt die Tochter jeden Monat etwas Geld mit.

Clarisse kann sich an die Zeit, als sie nur Malinka hieß und in einer Stadt im Großraum Paris aufwuchs, kaum noch erinnern. Ihren Vater hat sie nie kennengelernt, und andere Verwandte scheint es zumindest in Frankreich keine zu geben. Ladivine hat ihrer Tochter nie etwas über ihre Herkunft verraten. Malinka schämte sich, die Tochter einer Afrikanerin zu sein, das Kind einer missachteten Frau. Als sie von Mitschülerinnen mit Ladivine gesehen wurde und diese sich nach der Frau erkundigten, behauptete sie, es sei ihre Dienerin. Mit 15 fing sie an, die natürliche Blässe ihres Gesichts durch Schminke zu betonen. Im Jahr darauf brach sie die Schule ab, und ihrer Mutter blieb nichts anderes übrig, als diese Entscheidung hinzunehmen. Ladivine vermittelte Malinka eine Stelle als Kinderbetreuerin bei einer gutbürgerlichen Familie. Wenn Malinka abends auf dem Heimweg zufällig im selben Bus wie ihre Mutter saß, tat sie, als würde sie die Frau nicht kennen, und Ladivine unternahm nichts dagegen.

Malinka begleitete die Familie auch in die Sommerferien. Als sie sich zum zweiten Mal in der Bucht von Arcachon aufhielten, kündigte Malinka drei Tage vor der Rückfahrt, nahm den Zug nach Bordeaux und fand dort einen Job als Kellnerin, wobei sie Clarisse als Namen angab. Sie strengte sich an, sprang für erkrankte Kolleginnen ein und wurde von der Chefin als vorbildliche Arbeitskraft geschätzt.

Eines Tages tauchte überraschend ihre Mutter – der sie in Briefen von der Arbeitsstelle berichtet hatte – in der Brasserie auf. Ladivine Sylla aß ein Sandwich und begleitete ihre Tochter dann zu dem Apartment, das diese bewohnte. Dort erfuhr Malinka/Clarisse, dass ihre Mutter ebenfalls ein kleines Zimmer in Bordeaux gemietet hatte, um in ihrer Nähe zu sein. Arbeit fand Ladivine in einer Reinigungsfirma.

Clarisse kündigte in der Brasserie und wechselte die Adresse, zum einen, weil es ihr peinlich war, dass die Chefin mitbekommen hatte, dass sie die Tochter einer Afrikanerin war, vor allem aber, um Ladivine ihr eigentliches Leben verheimlichen zu können. Sie nahm sich eine Zweizimmerwohnung in Floirac.

Im Café „Rainbow“ im Stadtzentrum, in dem sie nun bediente, verliebte sie sich in einen Gast. Richard Rivière war Autoverkäufer in der Alfa-Romeo-Niederlassung in Langon, die ihn zu einer viertägigen Fortbildung nach Bordeaux geschickt hatte. Am letzten Tag seines Aufenthalts erklärt er Clarisse, dass er abreisen müsse und lud sie ein mitzukommen. Sie fuhren bei ihrer Wohnung vorbei, damit sie ein paar Sachen packen konnte und dann weiter nach Langon. Drei Monate später heirateten sie.

Erst bei der Hochzeit lernte Clarisse ihre Schwiegereltern kennen, die in Toulouse einen Schreibwarenladen besaßen. Sie versuchte sich als Verkäuferin in einer Boutique und arbeitete dann in einer neueröffneten Pizzeria wieder als Bedienung. Als sie und ihr Mann genügend Geld gespart hatten, kauften sie ein Haus am Ortsrand.

Einige Zeit später gebar Clarisse eine Tochter, der sie den Namen Ladivine gab. Um das Baby zu sehen, kamen Richards Eltern erneut zu Besuch. Sie brachten einen Wolfshund mit. Als Clarisse das Tier allein mit dem Säugling in einem Zimmer entdeckte, befürchtete sie nichts; sie war überzeugt, dass der Hund dem Kind nicht schaden wollte.

Dieser Hund mit den vornehmen Manieren hatte die Augen von Malinkas Mutter.

Aber Richard brüllte sogleich: „Schafft dieses Vieh hier raus!“ Seine Eltern verbannten den Hund daraufhin in den Garten. Als er dort unruhig wurde, begriff Clarisse, dass er sie auf das Baby aufmerksam machen wollte und fand es würgend und wimmernd in seinem Erbrochenen.

„Woher wusstest du das, guter Hund, woher wusstest du das?“, flüsterte sie.

Bald nach der Geburt vertraute Clarisse das Kind einer Nachbarin an, ging wieder arbeiten und nahm die monatlichen Besuche bei ihrer Mutter in Bordeaux wieder auf.

Nach 25 Jahren Ehe erklärt Richard Rivière seiner Frau unvermittelt, dass er sie verlassen werde. Sie hilft ihm beim Packen, und er zieht nach Annecy. Clarisse bleibt allein zurück. Ihre Tochter Ladivine lebt inzwischen mit ihrem Ehemann Marko Berger und den beiden Kindern Annika und Daniel in Berlin.

Drei Jahre später kommt Richard noch einmal zurück, um mit Clarisse zur Beerdigung seines Vaters in Toulouse zu fahren. Die verbitterte Witwe ist überzeugt, dass ihr Mann vom Hund getötet wurde. Zu ihrem Sohn sagt sie:

„Sie haben mir gesagt, dein Vater müsse einen Herzinfarkt erlitten haben und der Hund habe sich danach über die Leiche hergemacht, weil er am Verhungern war. Aber ich bin mir sicher, so war es nicht.“

Bei einer Party, die der Wirt der Pizzeria veranstaltet, in der Clarisse bedient, lernt sie Freddy Moliger kennen. Der hässliche Mann mit dem Pechvogelgesicht begleitet sie nach Hause und erzählt ihr von seinem glücklosen Leben.

Er und sein jüngerer Bruder Christopher wuchsen in einem Vorort von Bordeaux auf. Die Mutter war alkoholkrank, der Vater leerte beim geringsten Anlass die Schultaschen der beiden Söhne zum Fenster im 11. Stockwerk hinaus und drohte, die Jungen hinterherzuwerfen. Das Jugendamt sorgte schließlich dafür, dass die Kinder zur Großmutter kamen, aber die starb, als Freddy zwölf und sein Bruder zehn Jahre alt waren. Danach brachte man sie getrennt in Pflegefamilien unter. Christopher wurde von einem Zug totgefahren. Freddy heiratete später und zeugte eine Tochter, aber nachdem seine Frau einen anderen Mann kennengelernt hatte, verließ sie ihn mit dem Baby. Jetzt ist er 34 Jahre alt, arbeitslos und alkoholkrank wie seine Mutter.

Während Clarisses Liebe zu Richard Rivière nie frei war von Pflichtgefühl und der Angst, seine Erwartungen nicht zu erfüllen, während sie sich in der Familie verleugnete und gleichzeitig schuldig fühlte, vertraut die inzwischen 54-Jährige Freddy Moliger an, dass ihr richtiger Name Malinka lautet.

Freddy Moligers Anwesenheit forderte sie nicht heraus, irgend etwas zu beweisen, weder ihre Güte noch ihre Vollkommenheit, und sie belog ihn nicht.

Sie wollte sich diesem sonderbaren Mann nicht voll und ganz hingeben, und niemals würde sie ihn lieben, wie sie Richard Rivière noch immer liebte. Doch das war unwichtig. Diese Beziehung verschaffte ihr keine wahre Freude, keine Befriedigung, sondern bereitete ihr einen Schmerz, wie sie ihn nie erlebt hatte.

Malinka und Freddy Moliger kennen sich erst zwei Tage, als sie ihn mit zu ihrer Mutter nach Bordeaux nimmt. Die beiden gedemütigten Menschen verstehen sich gut.

Dieser Mann war dabei, den Fluch von ihnen zu nehmen, von ihr, Ladivine Sylla, und ihrer Tochter Malinka, dem einzigen realen Wesen, das sie auf der Welt liebte.

Bald darauf zieht Freddy Moliger zu Malinka.

Ihrer Tochter verheimlicht Clarisse noch immer ihren richtigen Namen. Ladivine hat inzwischen von ihrem Vater erfahren, dass ihre Mutter die Schecks ihres Ex-Mannes nicht eingelöst hat. Darauf angesprochen, bestätigt Malinka/Clarisse, dass es so war. Sie ärgerte sich darüber, dass er einen Dauerauftrag eingerichtet hatte, um nicht an sie denken zu müssen. Allerdings nehme sie das Geld inzwischen, sagt sie, und Ladivine begreift, dass ihre Mutter jetzt mit dem Geld den neuen Lebensgefährten aushält. Malinka wiederum versucht, Freddy Moliger mit Ladivines Augen zu betrachten: „seine mageren Alkoholikerbeine, seine knochigen, leicht verzogenen Hüften, sein rotes Gesicht mit der groben Haut, seine zerfressenen Zähne“. Sie versteht, warum Ladivine den Mann verabscheut.

Einige Zeit später entdeckt Ladivine Berger auf der Titelseite einer Zeitung ein Foto ihrer 54-jährigen Mutter. „Frau in ihrem Haus in Langon erstochen“, lautet die Schlagzeile. Freddy Moliger wird beschuldigt, seine Lebensgefährtin ermordet zu haben.

Während er im Gefängnis auf den Prozess wartet, bereiten sich die Bergers auf ihre erste Familienreise in ein außereuropäisches Land vor.

Als Jugendliche in Langon hatte Ladivine sich von Geschäftsleuten und Bankangestellten mit nach Bordeaux nehmen lassen und dort mit ihnen geschlafen. Ihren Eltern hatte sie nichts vorgemacht, sondern ihnen sogar das durch Prostitution eingenommene Geld gezeigt, aber sie war kein einziges Mal ermahnt worden, ihr Verhalten zu überdenken. Ladivine war gewissermaßen in einem moralischen Vakuum aufwachsen. Sie lernte Marko kennen, als sie nach vier an der Universität von Bordeaux verbummelten Semestern zu einer Freundin nach Berlin zog. Er hatte gerade in der Uhrenabteilung bei Karstadt angefangen. Bis Ladivine ihr Diplom als Französischlehrerin bekam und das Einkommen aufbessern konnte, teilten sie sich sein kleines Zimmer in einer WG. Marko hatte seine Ambitionen kampflos aufgegeben. Richard Rivière kam nicht zu ihrer Hochzeit nach Berlin. Aber Clarisse nahm daran teil und sah später auch noch ihre Enkel, die sich allerdings nicht mehr an ihre Großmutter erinnern, weil sie damals noch zu klein waren. Die Ferien verbrachten Ladivine und Marko bisher stets mit den Kindern bei Markos Eltern in Lüneburg und auf einem Campingplatz in Warnemünde. Doch an der Ostsee verfielen sie in drei aufeinander folgenden Jahren der Trunksucht. Daraufhin beschlossen sie, beim nächsten Mal ins Ausland zu reisen. Weil Markos Eltern auf die Ankündigung mit großer Verärgerung reagierten, brachen er und Ladivine den Kontakt zu ihnen ab.

Ladivine spart einen Teil des Gehalts, das sie als Französischlehrerin von Migranten in Berlin verdient, und von Markos Einkommen in der Uhrenabteilung bei Karstadt in Wilmersdorf legen sie auch etwas für den geplanten Urlaub beiseite.

Nach der Landung in dem nordafrikanischen Land, das sie ausgesucht haben, fehlen die Koffer. Vermutlich wurde es vom Transportband gestohlen. Mit Ladivines Handtasche als ganzem Gepäck treffen sie abends im gebuchten Hotel ein. Um sich über das schäbige Zimmer zu ärgern, sind sie zu müde. Am nächsten Tag kaufen sie ein paar Sachen, die sie für den dreiwöchigen Aufenthalt benötigen. Eine Frau fällt ihnen auf. Sie trägt das gelbe Vichy-Kleid, das Ladivine in Bordeaux kaufte, sitzt auf einem Klappstuhl und bietet die Kleidungsstücke aus den gestohlenen Koffern zum Kauf an. Aber Ladivine hält Marko davon ab, etwas zu unternehmen, denn es wäre sinnlos.

Am Eingang des Nationalmuseums drängt sich ihnen ein freundlicher junger Einheimischer als Führer auf. Wellington, so heißt er, lädt sie anschließend in das Haus seiner Familie ein. Eine der anwesenden Frauen fragt die Besucherin über eine Hochzeitsfeier aus, an der diese ihrer Meinung nach teilnahm. Offenbar verwechselt sie Ladivine mit einer Doppelgängerin, wie bereits zuvor eine Passantin.

Nachts wacht Ladivine durch ein Geräusch auf. Marko kämpft auf dem Balkon mit Wellington. Schließlich gelingt es ihm, den Jüngeren über das Geländer zu drücken, und dann packt er dessen Beine und wirft ihn ganz über die Brüstung. Ladivine hört den Aufschlag des Körpers auf dem Pflaster sechs Etagen tiefer. Marko flüstert:

„Er ist hergekommen, um uns etwas anzutun, da bin ich mir sicher. Uns bestehlen, uns töten oder vielleicht beides, was weiß ich.“

Wie Wellington auf den Balkon klettern konnte? Vielleicht kam er aus dem Zimmer nebenan. Wie auch immer, die Bergers bleiben in ihrem Hotelzimmer und verständigen niemanden.

Richard Rivière schlug seiner Tochter bei einem Telefongespräch vor, in dem afrikanischen Land ein befreundetes Paar namens Cagnac zu besuchen, das mit seiner Unterstützung einen Autohandel betreibt. Nach dem Vorfall mit Wellington mietet Marko einen Geländewagen und fährt mit der Familie zu der angegebenen Adresse, um dort den Rest des Urlaubs zu verbringen.

Während ihres Aufenthalts kommt ein frisch verheiratetes Paar, um ein Auto zu kaufen. Die Frau glaubt, Ladivine sei auf ihrer Hochzeit gewesen.

Dann taucht Wellington wieder auf. Cagnac erklärt Ladivine auf Nachfrage, dass Wellington bei Bedarf jeweils zwei, drei Wochen für ihn arbeite. Als Ladivine ihren Mann darauf hinweist, dass der Junge lebt, stöhnt Marko:

„Diese verfluchten Ferien, es kommt mir vor, als würden sie niemals enden!“

Ladivine ist es, als ob Clarisse sie riefe. Sie verlässt das Haus.

Und die frische, glatte Straße nahm sie mit, und sie spürte zerrissen, wie sie sich ergab und wie sie, wenn auch ohne Tränen, um Marko und die Kinder weinte, die, das wusste sie, nicht am Ende dieser für sie allein neu angelegten Straße stünden. […]
Sie stand auf, begann durch den Wald zu trotten und dann zu rennen, die Brust vor Lust geschwellt, auf ihren schlanken, starken Pfoten.
Ihr war, als könnte sie ohne Rast und ohne müde zu werden, immer weiterlaufen.
Sie kam aus dem Wald heraus, als der Tag gerade anbrach.
Vor dem Haus der Cagnacs stiegen Marko, Daniel und Annika in den Mietwagen ein.
Als der Geländewagen losfuhr und die Lichtung durchquerte, um das Anwesen zu verlassen, rannte Ladivine wieder los.
In ihrer Freude, in ihrem Stolz, sie alle drei wiedergefunden zu haben und sie nun unter ihren Schutz nehmen zu können, stieß sie kleine Schreie aus, die nur sie allein hörte, die der Wind ihres wilden Galopps sofort davontrug.

Zurück in Berlin, fällt der achtjährigen Annika ein Hund auf, der jeden Morgen, wenn der Vater sie und Daniel zur Schule bringt, auf der anderen Straßenseite sitzt.

Annika versenkte ihren Blick in die schwarzen Augen des Hundes, denn sie hatte keine Angst vor ihm.

Sie fühlt sich von dem Hund beschützt. Sie weiß, dass ihre Mutter, die während der Ferien in dem afrikanischen Land verschwand, sich in das Tier verwandelt hat.

Die Müdigkeit und die Traurigkeit ihres Vaters schnürten Annika das Herz zusammen.
Aber es war besser für ihn zu glauben, dachte sie, ihre Mutter irre irgendwo durch die weite Welt, als zu denken, sie habe sich in eine Hundehaut zurückgezogen und halte vom Gehweg in der Droysenstraße aus bei ihrer aus der Bahn geworfenen, unglücklichen Restfamilie Wache. Es war besser für ihn, der so sehr litt.

Aber sie konnte ihrer Mutter nicht verzeihen, dass sie Marko in solcher Not und Verstörung zurückgelassen hatte.

Annikas Großvater Richard Rivière lebt inzwischen seit neun Jahren in Annecy, seit sechs oder sieben Jahren mit einer Frau, die zufälligerweise ebenfalls Clarisse heißt und deren Sohn Trevor. Außer Trevor hat Clarisse noch 30-jährige Zwillinge, aber die leben in Südfrankreich und lassen nur selten etwas von sich hören. Clarisse Rivière wurde vor drei Jahren ermordet; der Prozess gegen Freddy Moliger wird in Kürze beginnen.

Weder seinen Schwiegersohn noch seine Enkelkinder hat Richard Rivière jemals gesehen. Einige Wochen nach dem Urlaub der Familie Berger in Nordafrika ruft Richard Rivière an. Annika meldet sich und reicht dann das Telefon ihrem Vater weiter, der dem Anrufer mitteilt, dass Ladivine nicht mit zurückkam und verschollen ist.

Richard Rivière verkauft auf eigene Rechnung einen Cherokee-Geländewagen. 24 Stunden, nachdem er mit einem Interessenten handelseinig geworden ist, wird der vereinbarte Kaufpreis seinem Konto gutgeschrieben. Doch als der Mann kommt, um den Wagen abzuholen, entdeckt er, dass die Seite verkratzt ist. Richard Rivière bietet ihm an, den Schaden beheben zu lassen, aber darauf will der eigens angereiste Käufer nicht warten. Stattdessen lässt er sich von Richard Rivière das ganze Bargeld geben, das dieser zu Hause hat: „Geben Sie mir, was Sie können, ich lasse es dann irgendwie reparieren.“ Ein paar Tage später erhält Richard Rivière einen Anruf von seiner Bank, die ihm mitteilt, dass sich der auf sein Konto eingereichte Scheck über 47 000 € als Fälschung erwiesen habe.

Ladivine Sylla wird von Freddy Moligers Verteidiger Bertin als Zeugin benannt und vom Gericht vorgeladen. Als sie gefragt wird, ob sie die Mutter von Clarisse Rivière sei, antwortet sie: „Meine Tochter hieß Malinka.“

Im Verhandlungssaal fällt ihr ein Mann auf. Der besucht sie noch am selben Tag. Es ist Richard Rivière, ihr Schwiegersohn, von dem Malinka ihr nie etwas erzählt hatte. Während er noch bei ihr ist, kratzt es an der Tür. Es ist ein Hund, den Ladivine Sylla schon früher bemerkte und dessen dunkler Blick sie auf unerklärliche Weise an Malinka erinnert. Dass er ihr nichts Böses will, weiß sie.

Sanft öffnete Ladivine Sylla die Tür, und der große braune Hund auf seinen zierlichen, bebenden Pfoten kam vorsichtig herein.

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In ihrem Roman „Ladivine“ erzählt Marie NDiaye eine vier Generationen überspannende Familientragödie: Ladivine verrät ihrer Tochter Malinka nichts über die Herkunft; das hellhäutige Mädchen schämt sich der schwarzafrikanischen Mutter und verleugnet sie später sogar gegenüber dem französischen Ehemann, aber der Tochter gibt sie den Namen der Mutter, Ladivine, in dem „divine“ (göttlich) anklingt. Malinkas Grausamkeit gegenüber der einsamen Mutter, Schuld, Selbstverleugnung und Doppelleben wirken lange nach und beeinflussen auch noch Annika, die gegen Ende des Romans achtjährige Tochter der jüngeren Ladivine.

Die Schriftstellerin Marie NDiaye (* 1967), Tochter einer französischen Lehrerin und eines Senegalesen, der die Familie verließ, als Marie noch klein war, bettet die zunächst realistische Geschichte immer tiefer in einen animistischen Hintergrund ein, in dem Menschen sich in Hunde verwandeln und Angehörige beschützen. Am Ende sind Vorder- und Hintergrund nicht mehr zu unterscheiden (magischer Realismus).

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2014
Textauszüge: ©

Marie NDiaye: Drei starke Frauen

Ocean Vuong - Auf Erden sind wir kurz grandios
Ocean Vuong schreibt scheinbar unangestrengt, aber der Briefroman ist sorgfältig komponiert. Gegensätze prallen aufeinander, und die Fragmentierung der Geschichte spiegelt die Zerrissenheit des Ich-Erzählers. "Auf Erden sind wir kurz grandios" ist ein rhythmisches Sprachkunstwerk mit eindringlichen poetischen Bildern.
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