Sten Nadolny : Weitlings Sommerfrische

Weitlings Sommerfrische
Weitlings Sommerfrische Originalausgabe: Piper Verlag, München 2012 ISBN: 978-3-492-0450-8, 221 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der 68 Jahre alte Wilhelm Weitling wird durch einen Unfall aus der Gegenwart (Sommer 2010) katapultiert und beobachtet nun sein früheres Ich, den 16-Jährigen Willy Weitling, der 1958 mit einer Plätte auf dem Chiemsee kentert. Als er ins Jahr 2010 zurückkehrt, stellt er fest, dass sich seine Identität verschoben hat: Er ist kein pensionierter Richter mehr, sondern ein Schriftsteller ...
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Kritik

Sten Nadolny spielt in "Weitlings Sommerfrische" mit Zeit- und Identitätsverschiebungen. Ein raffinierter Aufbau des Romans und viele originelle Einfälle sorgen für ein besonderes Lesevergnügen auf hohem Niveau.
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Jeden Sommer mietet Wilhelm Weitling ein Ferienhaus in Chieming-Stöttham am Ostufer des Chiemsees. Das Haus war 1932 von den aus Estland stammenden Eltern seiner Mutter gebaut worden. Sie wohnten darin mit ihrer Tochter Desirée, dem Schwiegersohn Hansjörg Weitling und dem 1942 in Berlin geborenen Enkel Wilhelm („Willy“). Bis auf drei Monate im Jahr 1946, die Willy in einem Kinderheim in Schlederloh im Isartal verbringen musste, wuchs er hier auf, und er verließ die Gegend erst 1961 nach dem Abitur am Humanistischen Gymnasium. Im Kinderheim war er unglücklich, denn er fühlte sich abgeschoben. Er verstand noch nicht, dass seine Mutter nach der Geburt seines Bruders Alexander und dem Tod des Säuglings krank war und sich erholen musste.

Seinen Namen bekam Wilhelm wohl in Erinnerung an den Schneidergesellen Wilhelm Weitling (1808 – 1871), einen Frühsozialisten, der sich mit Karl Marx überworfen hatte. Übrigens: Als Weitling bezeichnen die Österreicher eine Rührschüssel.

Die Weitlings stammten aus Ostpreußen. Hansjörg Weitling, der zwölf Jahre älter als seine Frau war, schrieb mit mäßigem Erfolg Romane, Hörspiele und Bücher über historische Kriminalfälle und Justizirrtümer. Er misstraute der Rechtsprechung seit er 1945 von einem Schnellrichter wegen Fahnenflucht verurteilt worden war und der Hinrichtung nur entgangen war, weil eine Bombe das Gerichtsgebäude getroffen hatte. Um sich von seinem Vater abzugrenzen, studierte Wilhelm Weitling nach dem Wehrdienst Jura in München und Berlin. Seine Dissertation trug den Titel „Gemeines Recht gegen Gewohnheitsrecht. Zur Rechtsprechung des Reichskammergerichts von 1495 bis 1806“. Er wurde Staatsanwalt, später Richter und ging 2007, vor drei Jahren, in den Ruhestand.

Seine Mutter starb 1983 im Alter von 66 Jahren. Der Vater war im Jahr davor ins Altersheim gekommen und wurde 92 Jahre alt.

Wilhelm Weitling wohnt seit Jahrzehnten mit seiner Ehefrau Astrid in Berlin-Charlottenburg. Astrid Weitling betreibt am Prenzlauer Berg einen kleinen Laden für Geschenkkartons. Kinder haben sie keine.

Im Sommer 2010 fährt Wilhelm Weitling bereits vor seiner Frau ins Ferienhaus am Chiemsee. Am Tag, bevor Astrid nachkommen und er sie in Traunstein vom Zug abholen will, segelt er noch einmal mit der Chiemseeplätte, die er sich unlängst ebenso kaufte wie die alte Bootshütte unterhalb des Ferienhauses. Er nimmt Kurs auf die Fraueninsel. Plötzlich ziehen dunkle Wolken auf. Sturmwarnung wird gegeben. Weitling erinnert sich daran, dass er im September 1958 als 16-Jähriger eine ähnliche Situation erlebte: Damals geriet er mit einer von Franz Peteranderl geliehenen Plätte in einen Sturm und kenterte. In der Flaute vor dem Sturm kann er nur noch rudern, aber es ist unwahrscheinlich, dass er es bis ans Ufer schafft. Mit seinem Handy setzt er einen Notruf ab. Bald darauf sieht er einen Rettungskreuzer auf sich zukommen. Aber da kracht und blitzt es unmittelbar neben ihm. Als Weitling die Augen wieder öffnet, ist der Rettungskreuzer verschwunden. Er spürt weder seine Rückenschmerzen, noch die Arthrose in den Knien, Hüftgelenken und Schultern; Gicht, Rheuma, Kurzatmigkeit, Muskelkrämpfe – alles weg.

Er kentert und klammert sich am Boot fest, das aufs Ostufer zutreibt. Dort kommen ihm fünf oder sechs Männer zu Hilfe. Auch sein Vater ist dabei.

Wer denkt da eigentlich, der Junge oder ich? Ich! Ich bin ganz eindeutig nicht er, sondern nach wie vor der alte Mann aus Berlin, aber für andere unsichtbar, Geist ohne Physis, gekettet an einen Sechzehnjährigen aus Stöttham bei Chieming, und wir schreiben offenbar 1958.

Anders als damals ist die Hand des 16-Jährigen unverletzt geblieben.

Weitling ist dabei, als Willy am nächsten Morgen zur Schule geht. Sie treffen den Helminger Lenz. Weitling erinnert sich daran, dass dessen Frau bald sterben wird. An diesem Morgen schreibt die Klasse eine Latein-Arbeit.

Wir wurden zu kleinen Sprachwissenschaftlern gemacht, die nicht sprechen konnten, zumindest nicht Lateinisch und Griechisch, auch kaum Englisch oder Französisch. Dafür konnten wir aus dem Stand aufsagen, welche Deklinationen und Konjugationen es gab, was es mit Numerus, Genus, Tempus und Modus auf sich hatte, Prädikat, Attribut, Subjekt, Objekt, wir konnten die Fülle der Regeln ausbreiten, der Ausnahmen von den Regeln und die Ausnahmen von den Ausnahmen. Das war, womit man uns die Köpfe füllte: Sprachwissen, nicht Sprachkönnen. Dabei war längst bekannt, wie viel rascher und zuverlässiger Kinder ihre Muttersprache lernen, ohne Wortkunde, Grammatik und Aussprachetabellen, einfach weil sie Sätze mitteilen oder verstehen möchten, die mit ihnen selbst zu tun haben, und weil sie dauernd hören, dass und wie das geht. Der Schulunterricht hingegen war pure Zusammenhanglosigkeit: Sätze waren nur Beispiele für Regeln, sie sagten für sich genommen, ohne den Hintergrund eines Mitteilungszwecks, gar nichts. Die Texte interessierten kaum. Niemand übersetzte sie, weil sie etwa unterhielten, belustigten oder Erkenntnisse boten, sie waren vielmehr Teststationen für Vokabelwissen und Trainingsgeräte für Grammatikkenntnisse.

Entsetzt denkt Weitling an Astrid, die in wenigen Minuten in Traunstein ankommen und ihn auf dem Bahnsteig vermissen wird.

Ich bin in meiner Jugend eingesperrt. Wo ist der Ausgang, wo ist die Taste „ESC“ für Escape? Ich lebe jetzt wie eine Figur in einem Film, unfähig, mich aus ihm davonzumachen, und kann doch zur Handlung nichts beitragen.

Während Willy für seine Mitschülerin Roswitha schwärmt, gefällt Weitling die Referendarin Dr. Fafner, die Biologie unterrichtet. Er würde sie gern ansprechen.

Auf dem Heimweg geht Willy am Seeufer entlang und hält Ausschau nach angeschwemmten Teilen der havarierten Plätte. Weitling weiß, wo sie ans Ufer trieben, aber er kann es dem Jungen nicht mitteilen. Entrüstet beobachtet er, wie Willy raucht:

Ja, rauch nur, du Mörder! Es sind ja nur meine Gefäße, die eines Tages dem Arzt Sorgen machen werden. Hunze ruhig herum mit einem Körper, den später ein Mensch mit Verantwortung dringend brauchen wird, um sein Amt auszuüben!

Er nimmt sich vor, die seltsamen Erlebnisse aufzuschreiben, wenn er wieder zu Fleisch und Blut geworden ist. Der Titel des Buches könnte lauten: „Der Mann, der wieder alt werden wollte“.

Bald stellt er fest, dass ihn Betrunkene reden hören. Auch sein altersdementer Großvater versteht, was er sagt, erkennt ihn und spricht vernünftig mit ihm. Fedor Baron von Traumleben kennt den Zustand, in dem sein Enkel sich befindet. Er nennt solche Ausflüge in die eigene Vergangenheit „Sommerfrische“.

Im April 1959 – sieben Monate lang bewegt Weitling sich nun schon an Willys Seite – beobachtet er, wie seine Mutter einen Brief erhält, mit dem die Veröffentlichung ihres Debütromans für den Herbst angekündigt wird.

Am 10. Mai feiert die Familie Fedor von Traumlebens 83. Geburtstag. Weitling weiß, dass der Greis vier Tage später sterben wird.

Plötzlich besteht er wieder aus Fleisch und Knochen. Er befindet auf seiner Plätte im Chiemsee und sieht den sich nähernden Rettungskreuzer. Da kracht der Großbaum gegen seinen Hinterkopf, und er verliert das Bewusstsein.

Als er zu sich kommt, hört er das Brummen eines Dieselmotors und schließt daraus, dass er sich an Bord des Kreuzers befindet. In Gstadt wartet ein Hubschrauber, der ihn ins Krankenhaus bringt.

Glücklicherweise hat er außer ein paar Schrammen und Hämatomen nur eine Gehirnerschütterung. Am nächsten Morgen sagt ihm jemand, Stella Weitling werde ihn gleich abholen. Eine junge attraktive Frau kommt ins Zimmer. Obwohl Weitling zahlreiche Fragen auf der Zunge brennen, gibt er sich einsilbig, um keinen Fehler zu machen. Ist das seine Ehefrau? Was ist mit Astrid? Auf dem Weg zum Auto erklärt ihm Stella, sie habe Niki zur Schule gebracht, werde ihn – Wilhelm – jetzt nach Hause fahren und dann die Mutter in Traunstein vom Zug abholen. Stella scheint also seine Tochter zu sein, Niki sein Enkel. Offenbar ist Stella unverheiratet, weil sie noch Weitling heißt. Kurz darauf begreift er, dass Niki der Kosename für ein Mädchen namens Nike ist. Er hat also keinen Enkel, sondern eine sechs Jahre alte Enkelin.

Zwei Monate lang schreibt Weitling auf, was er in der „Sommerfrische“ erlebte und danach über sich herausfand.

Auf dem Friedhof in Stöttham stellte er fest, dass sein Vater bereits seit 1971 tot ist und seine Mutter erst 2007 starb. Astrid erinnert sich an das Begräbnis ihrer Schwiegermutter.

Er war kein Richter. Das Jurastudium brach er nach dem Tod des Vaters ab. Stattdessen studierte er in München Neuere Geschichte und Politikwissenschaft. Dann wurde er Lehrer für Geschichte, Geografie und Lebenskunde in Berlin. Sehr zum Missfallen seiner Mutter beendete er diese Tätigkeit bald wieder und schlug sich als Saisonarbeiter bei einer Filmgesellschaft durch. Obwohl er nicht über ein regelmäßiges Einkommen verfügte, heiratete er Astrid. 1980 hatte er einen schweren Autounfall und musste sich danach wegen schwerer Depressionen einer Psychoanalyse unterziehen. Astrid besitzt kein Ladengeschäft, sondern arbeitet als Hauptkommissarin bei der Berliner Polizei. Und er selbst ist Schriftsteller. Einen Namen machte er sich vor langer Zeit mit einem Roman über den griechischen Staatspräsidenten Ioannis Kapodistrias (1797 – 1831). Stella wurde am Valentinstag 1981 geboren. Hans, der Vater ihrer Tochter Nike, promoviert gerade und schreibt eine Dissertation mit dem Titel „Gemeines Recht gegen Gewohnheitsrecht. Zur Rechtsprechung des Reichskammergerichts von 1495 bis 1806“. Wilhelm Weitling blättert darin, und der Inhalt kommt ihm bekannt vor.

Ende August 2012 sitzt Wilhelm Weitling, dessen 70. Geburtstag in Kürze gefeiert wird, im Garten seines Ferienhauses in Chieming-Stöttham. Astrid hat noch Dienst in Berlin; sie will am Wochenende nachkommen. Stella, die in Traunstein wohnt, kümmert sich um die Handwerker, die einiges in dem Haus renovieren. Dabei finden sie auch einen Zettel, den der Richter Wilhelm Weitling unter einer losen Bodenplatte versteckte. Auch die monatlichen Überweisungen auf sein Konto lassen sich eigentlich nur als Pension erklären. Andererseits erinnert Weitling sich inzwischen deutlich an Besprechungen mit seinem Verleger.

Das Gedächtnis für Jugenderlebnisse war geblieben, es wurde sogar besser. Erst ab dem Abitur wurde es hie und da schummerig, kein Wunder bei zwei Lebenslinien. Die eine, die zum Richter führte, war jetzt Konjunktiv, die andere, mit dem Ziel Schriftsteller, Indikativ. Aber auch das reale Leben entschwand ihm allmählich.

Eines Nachts wacht er auf, weil eine Frauenstimme nach ihm ruft. Es ist Nike. Sie ist 68 Jahre alt, lebt eigentlich im Jahr 2072, befindet sich jedoch seit drei Tagen im Jahr 2012.

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Wilhelm Weitling wurde 1942 in Berlin geboren, Sten Nadolny im selben Jahr, allerdings in Zehdenick nördlich von Berlin. Beide wuchsen in Oberbayern auf, studierten Geschichte und Politikwissenschaft, arbeiteten kurze Zeit als Lehrer und dann bei einer Filmgesellschaft in Berlin. Der Vater Hansjörg Weitling (1915 – 1971) stammte aus Ostpreußen und war Schriftsteller wie Burkhard Nadolny (1905 – 1968). Die Mutter Desirée Weitling (1927 – 2007), eine geborene Baroness von Traumleben veröffentlichte 1969 ihren Debütroman. Sten Nadolnys Mutter Isabella (1917 – 2004) kam aus der großbürgerlichen Familie Peltzer, war wie Desirée Weitling zwölf Jahre jünger als ihr Mann und trug ab 1951 als Schriftstellerin und Übersetzerin maßgeblich zum Familieneinkommen bei. Ihr zweiter Sohn hieß Alexander und starb kurz nach der Geburt. Weil sie darüber krank wurde, musste Sten für einige Monate in ein Kinderheim – wie Wilhelm Weitling.

Die Parallelen sind unübersehbar, aber Sten Nadolny hat keine Autobiografie geschrieben, sondern geht in „Weitlings Sommerfrische“ der Frage nach, wie sicher wir uns unserer Identitäten sein können. Das erinnert an „Mein Name sei Gantenbein“, aber Sten Nadolny wählt einen anderen Ansatz als Max Frisch.

Der 68 Jahre alte Wilhelm Weitling wird durch einen Unfall aus der Gegenwart (Sommer 2010) katapultiert und beobachtet nun sein früheres Ich, den 16-Jährigen Willy Weitling, der im September 1958 mit einer Plätte auf dem Chiemsee kentert. (Allerdings verletzt Willy sich diesmal nicht an der Hand.) Sieben Monate seines früheren Lebens sieht Weitling noch einmal vor sich, aber als er wieder zu sich kommt, sind erst wenige Minuten vergangen. Kurz darauf stellt er fest, dass sich seine Identität verschoben hat: Er ist kein pensionierter Richter mehr, sondern ein Schriftsteller. Im Sommer 2012 („Weitlings Sommerfrische“ erschien im Frühjahr 2012) erlebt der inzwischen 70-Jährige noch einmal eine Zeitreise, diesmal von der anderen Seite.

Sten Nadolny spielt in „Weitlings Sommerfrische“ mit Zeitreisen und Identitätsverschiebungen. Er wechselt zwischen dem 68-jährigen Wilhelm und dem 16-jährigen Willy Weitling ebenso wie zwischen der ersten und dritten Person Singular. Außerdem meldet sich im letzten Kapitel noch eine dritte Erzählerstimme zu Wort. Raffiniert gestaltet ist vor allem der erste der Übergänge, bei dem sich der alte Wilhelm Weitling kaum merklich in den jungen zu verwandeln scheint. Mit großer Fabulierlaune zeigt Sten Nadolny auf, was es für Wilhelm Nadolny bedeutet, (vorübergehend) in einer anderen Zeit zu sein. „Weitlings Sommerfrische“, das ist ein besonderes Lesevergnügen auf hohem Niveau.

Den Roman „Weitlings Sommerfrische“ von Sten Nadolny gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Gert Heidenreich (Hamburg 2012, 6 CDs, ISBN 978-3-86952-115-2).

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2012
Textauszüge: © Piper Verlag

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