Joyce Carol Oates : Vergewaltigt

Vergewaltigt
Originalausgabe: Niagara Falls Carroll and Graf Publishers, New York 2003 Vergewaltigt. Eine Liebesgeschichte Übersetzung: Uda Strätling S. Fischer Verlag, Frankfurt/M 2012 ISBN: 978-3-596-16707-4
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Die 35-jährige Witwe Teena Maguire und ihre zwölfjährige Tochter Bethie werden in der Nacht vom 4./5. Juli 1996 von einer Horde junger Männer im Park überfallen und in ein Bootshaus gezerrt. Während sich das Mädchen dort verstecken kann, vergewaltigen die Männer die Mutter, die dabei so schwer verletzt wird, dass sie tagelang im Koma liegt. Bethie identifiziert fünf der Verbrecher. Bei einer ersten Vernehmung im September stellt ein gerissener Anwalt Teena als Hure dar. Skrupellos arbeitete er auf für seine Mandanten günstige Deals hin ...
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Kritik

Für die Novelle "Vergewaltigt. Eine Liebesgeschichte" hat Joyce Carol Oates eine sachliche, knappe, schnörkellose Sprache gewählt. Eine Besonderheit sind die Kapitel in der zweiten Person Singular: Bethie spricht gewissermaßen mit ihrem traumatisiertes Ich der Vergangenheit.
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Am Nationalfeiertag des Jahres 1996 ist die 35-jährige Witwe Martine („Teena“) Maguire in Niagara Falls zu einer Party eingeladen. Ihr Mann Ross starb Ende 1991 an Hautkrebs. Seit einem Jahr ist sie mit dem Schweißer Raymond („Ray“) Casey zusammen, dessen Ehefrau mit den vier Kindern nach Corning gezogen ist. Teena arbeitet bei zwei Zahnärzten als Praxishelferin und wohnt mit ihrer zwölfjährigen Tochter Bethel („Bethie“) in einem Reihenhaus.

Statt bei Casey zu übernachten oder sich wenigstens von ihm heimfahren zu lassen, will Teena nach Mitternacht mit ihrer Tochter, die sie zur Party mitnahm, das kurze Stück zu Fuß nach Hause gehen. Aber sie kommen nicht weit: Im Rocky Point Park werden sie von etwa einem halben Dutzend jungen Weißen angegriffen, die betrunken sind und sich mit Crystal Meth aufgeputscht haben: „Zeig uns deine Titten, Foxy Lady!“ Die Jungs machen sich einen Spaß daraus, Bethie weglaufen zu lassen und sie dann einzufangen. Dabei kugeln sie ihr das Schultergelenk aus. Nachdem die Angreifer die Tür des nahen Bootshauses aufgebrochen haben, zerren sie ihre Opfer hinein. Teena fleht die Horde vergeblich an, wenigstens ihre Tochter in Ruhe zu lassen. Irgendwie gelingt es Bethie, ins Dunkle zu kriechen und sich hinter Gerümpel zu verstecken. Die Männer suchen auch nicht ernsthaft nach ihr, weil sie bereits merkten, dass sie noch keine Brüste hat und die Mutter deshalb viel interessanter finden. Gierig fallen die Kerle über Teena her, penetrieren gewaltsam ihre Körperöffnungen. Bethie sieht es zwar nicht, aber sie hört die Schreie und die Geräusche.

Sobald die Männer fort sind, läuft sie zur Straße und hält einen Autofahrer an, der um 0.58 Uhr die Notrufnummer wählt. Die Cops John Dromoor und Artie Zwaaf fahren zum Bootshaus. Teena liegt nackt, blutend und halb tot auf dem Boden.

Während Bethie nach zwei Tagen aus dem Krankenhaus entlassen wird und zu ihrer verwitweten Großmutter Agnes Kevecki zieht, liegt Teena fünf Tage lang im Koma. Als sie dann endlich zu sich kommt, kann sie sich zunächst an nichts erinnern. Sie geht erst einmal davon aus, dass sie einen Unfall gehabt habe. Erst allmählich tauchen Erinnerungsfetzen an die mehrfache Vergewaltigung auf.

Anhand von Fotos und bei Gegenüberstellungen hinter einem Einwegspiegel identifiziert Bethie fünf der schätzungsweise sieben Täter: die Brüder Marvin und Lloyd Pick, Jimmy DeLucca, Fritz Haaber und Joe Rickert. Über jeden von ihnen hat die Polizei bereits eine Akte. Teena kann sich auch nach zwei Wochen nur an drei der Vergewaltiger erinnern.

„Tatverdächtige“ wurden sie genannt. Als hätten sie nicht getan, was sie dir und deiner Mutter getan hatten, sondern würden bloß „verdächtigt“, es getan zu haben!

Die Zeugenaussage deiner Mutter ist wichtiger als deine, haben die Detectives dir erklärt. Ohne ihre Aussage gibt es für die Schuld der Verdächtigen nur Indizien, keine Beweise.
Du weißt nicht, warum. Du verstehst nicht, warum das so ist. Sie haben deine Mutter so übel zugerichtet, haben sie geschlagen und aufgerissen und dort auf dem Boden des Bootshauses fast verbluten lassen.
Ja, aber man muss es beweisen. Vor Gericht.
Es reicht nicht, dass es passiert ist. Dass Teena Maguire fast zu Tode gekommen ist. Man muss es auch noch beweisen.

Über die Vergewaltigung wird in Niagara Falls viel geredet. Die Leute meinen: Wer weiß schon, was da wirklich geschah? Man weist darauf hin, dass die 35-Jährige abgeschnittene Jeans und ärmellose T-Shirts ohne BH darunter getragen habe, also aufreizend angezogen gewesen sei. Viele entrüsten sich darüber, dass Teena ihre zwölfjährige Tochter mit zu einer Party nahm.

Leila Pick, die Schwester von Marvin und Lloyd, versucht ihre drei Jahre jüngere Mitschülerin Bethie einzuschüchtern.

Die Älteste, ein Mädchen in Sweatshirt und Jeans und Jungensneaker, rückte dir auf den Pelz und stieß dir mit der flachen Hand auf die Schulter.
„Pass bloß auf, was du sagst, Fotze. Red bloß nicht schlecht über meine Brüder, Schlampe. Sonst bringen sie zu Ende, was sie im Park angefangen haben, verstehst du, wenn du und deine Schlampe von Momma nicht den Mund haltet.“

Im September findet vor dem Richter Schpiro eine mündliche Verhandlung über den Fall statt. Die Anklage wird von Harriet Diebenkorn vertreten. Deren Gegenspieler ist der Hauptverteidiger Jay Kilpatrick aus Buffalo, den Walt Pick für seine Söhne engagiert hat. Kilpatrick weist darauf hin, dass es sich bei der einzigen Zeugin der Anklage um ein Kind handele, das gewiss in Panik geraten sei und selbst zugegeben habe, dass es aus dem Versteck im Bootshaus nicht sehen konnte, was mit der Mutter geschah. Weil die Polizei Blut und Sperma der Beschuldigten sichergestellt hat, leugnet der Anwalt nicht, dass es zu Geschlechtsverkehr gekommen sei, aber er behauptet, Teena sei damit einverstanden gewesen und habe Geld dafür verlangt. Erst als sie im Bootshaus ihre Forderung erhöht habe, sei es zum Streit gekommen. Seine Mandanten hätten Teena allerdings nichts getan. Die Verletzungen könnten ihr von anderen Personen zugefügt worden sein, als die Beschuldigten bereits fort waren.

Nachdem Teena in der öffentlichen Verhandlung als Hure dargestellt wurde, will sie nicht noch einmal vor Gericht. Sie verliert ihren Job, kann sich jedoch nicht aufraffen, Arbeitslosenunterstützung zu beantragen.

Kilpatrick sucht nach Zeugen, die bereit sind, vor Gericht auszusagen, dass ihnen Teenas Promiskuität schon in der Highschool aufgefallen sei.

Die Boulevardpresse bietet Teena viel Geld für ein Exklusivinterview, aber sie will nichts davon wissen. Eines der Sensationsblätter druckt Interviews mit Müttern der „angeblichen Vergewaltiger“. Die Schlagzeile lautet: „Gramgebeugte Mutter kündigt Verleumdungsklage an: ‚Dieses Weibsstück hat das Leben meines Sohnes zerstört.'“

John Dromoor, einer der beiden Cops, die Teena im Bootshaus fanden, ist um die 30. Nach der Highschool war er bei der Armee, die ihn 1990 im Rahmen der Operationen „Desert Shield“ und „Desert Storm“ in den Mittleren Osten schickte. Danach ging er zur Polizei von Niagara Falls (NFPD). Er kannte die schwerverletzte Frau im Bootshaus. Sie waren sich Ende 1994 in der Gaststätte Horseshoe Bar & Grill begegnet. Teena hatte ihn aufgefordert, sie mal anzurufen, aber er hatte ihr erklärt, er sei verheiratet und seine Frau erwarte in drei Wochen ihr erstes Kind. – Inzwischen ist seine Tochter eineinhalb Jahre alt, und seine Frau erneut schwanger.

Am 11. Oktober 1996 erschießt Dromoor James („Jimmy“) DeLucca, einen der Vergewaltiger Teenas. Aus den Vernehmung von ihm und Ray Casey ergibt sich folgendes Bild: Dromoor, der nicht im Dienst war, trank am Tresen des Chippewa Grill ein Bier, während DeLucca Teenas Ex-Freund anpöbelte. Als Casey das Lokal verließ, folgte ihm DeLucca. Kurz darauf ging auch Dromoor. Draußen sah er, wie Casey am Boden lag und von DeLucca mit einem Messer bedroht wurde. Dromoor gab sich als Cop zu erkennen, hielt seine Dienstmarke hoch, zog seinen Revolver und forderte DeLucca auf, das Messer fallen zu lassen. Stattdessen ging der 24-Jährige auf ihn los. Daraufhin tötete Dromoor ihn mit zwei Schüssen in Notwehr.

Casey versöhnt sich bald darauf mit seiner Frau, aber die wiedervereinigte Familie zieht in eine andere Stadt.

Im Oktober kursiert das Gerücht, der gerissene Anwalt Jay Kilpatrick sei dabei, für seine Mandanten einen günstigen Deal auszuhandeln. Gegen ein Teilgeständnis sollen sie mit einer Anklage wegen einfacher Körperverletzung davonkommen. Kurz darauf verschwinden Marvin und Lloyd Pick spurlos. Man nimmt an, dass sie sich nach Kanada abgesetzt haben. Der Vater der beiden, der 57-jährige Schweißer Walt Pick, der nicht nur die Kautionen hinterlegte, sondern auch den teuren Anwalt aus Buffalo bezahlen muss, wird durch den Verfall der Kautionen finanziell ruiniert. Eineinhalb Jahre später stirbt er bei einem Herzinfarkt.


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Was tatsächlich geschah: Am 27. Oktober erhielten die Brüder Pick einen Anruf. Jemand erklärte ihnen, es gebe fotografisches Beweismaterial zu ihren Gunsten, das der Rechtsanwalt eigentlich zunächst dem Gericht vorlegen müsste und ihnen deshalb auf keinen Fall persönlich übergeben könne. Der Anrufer gab sich als Mittelsmann aus und verabredete sich mit Marvin und Lloyd im Fort Niagara State Park. Dort wurde dann auch Marvins Wagen gefunden.

Fritz Haabers Eltern leihen sich nach dem Verschwinden der Pick-Brüder Geld, um Jay Kilpatrick als Anwalt übernehmen zu können.

Am 23. November, drei Tage vor dem Beginn des Prozesses, wird Fritz Haaber tot aufgefunden. Die Polizei geht von einem Suizid aus.

Die Ermittler wissen nicht, dass ihn am 22. November eine unbekannte junge Frau anrief, sich als Louellen Drott vorstellte, ihm sagte, wie sympathisch sie ihn finde, dass sie an seine Unschuld glaube und ihm Belastendes über Teena erzählen könne. Sie verabredete sich mit ihm in einem Motel, in dem sie angeblich als Zimmermädchen arbeitete. Die Tür des angegebenen Apartments war unverschlossen. Erwartungsvoll ging Haaber hinein. Am nächsten Morgen wurde seine verkohlte Leiche neben einem leeren Benzinkanister in einem unwegsamen Gelände gefunden. In seinem auf der Straße abgestellten Wagen lag ein Abschiedsbrief.

Gladys Haaber klagt vor Reportern:

„Mein Sohn war sehr sensibel. Er nahm sich alles so zu Herzen. Man hat ihn in den Tod getrieben.“

Für die übrigen Vergewaltiger Teenas werden Deals ausgehandelt.

Agnes Kevecki und ihre Enkelin Bethie erhalten im April 1997 eine Karte von Teena, die mit einem Mann namens DeWitt im Camper unterwegs ist. Bald darauf heiraten die beiden.

John Dromoor avanciert zum Detective.

Bethie, die als Jugendliche in ihn verliebt war und ihn über die Situation ihrer Mutter auf dem laufenden hielt, heiratet mit 21 einen elf Jahre älteren Mann und zieht zu ihm nach New York.

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Eine Frau wird im Beisein ihrer zwölfjährigen Tochter von einem halben Dutzend Männern vergewaltigt. Auf Mitleid mit den Opfern kommt es Joyce Carol Oates allerdings in der Novelle „Vergewaltigt. Eine Liebesgeschichte“ nicht an. Sie beschäftigt sich zwar mit den Folgen des Verbrechens, aber weniger mit den physischen und psychischen Verletzungen der Opfer als mit der Frage, wie die Täter zur Rechenschaft gezogen werden. Ein gerissener Anwalt erreicht mit juristischen Tricks und skrupellosen Verdrehungen der Tatsachen, dass die Beschuldigten vor Gericht mit geringen Strafen davonkommen. Aber ein Polizist findet sich damit nicht ab: Er greift zur Selbstjustiz. Und die Tochter der mehrfach vergewaltigten Frau verliebt sich in ihn.

Dass Joyce Carol Oates der düsteren Geschichte ein Happy End aufgesetzt hat, mag man kaum glauben.

„Vergewaltigt. Eine Liebesgeschichte“ ist in viele kurze Kapitel gegliedert. Die Sprache ist sachlich, knapp, schnörkellos. Dialoge gibt es kaum. Einige Kapitel werden in der zweiten Person Singular aus Bethies Sicht erzählt; sie spricht also gewissermaßen mit sich selbst, so als sei ihr traumatisiertes Ich der Vergangenheit von ihrem gegenwärtigen zu unterscheiden.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2012
Textauszüge: © S. Fischer Verlag

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