Juan Carlos Onetti : Das kurze Leben

Das kurze Leben
Originaltitel: La vida breve, Buenos Aires 1950 Das kurze Leben Übersetzung: Curt Meyer-Clason Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 1978 Süddeutsche Zeitung / Bibliothek, Band 11, München 2004 ISBN 3-937793-12-7, 349 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Ein mit seinem eintönigen Leben unzufriedener Angestellter gerät in eine Krise und verliert sich in Fantasiewelten: Er denkt sich in die Hauptfigur eines Drehbuchs hinein, das er schreiben will und stellt sich zugleich vor, wie er der Zuhälter der Prostituierten wird, die in die Nachbarwohnung eingezogen ist.
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Kritik

Die verschiedenen Haupt- und Nebenhandlungen in "Das kurze Leben" sind zerstückelt. Weil sich der Protagonist obendrein mit anderen Figuren identifiziert und nicht immer klar ist, welche davon er sich nur ausgedacht hat, ist es schwierig, sich als Leser in dem spröden Roman zurechtzufinden.
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Juan María Brausen, ein gut vierzig Jahre alter Angestellter einer Werbeagentur, ist allein in seiner Wohnung. Seine krebskranke Ehefrau Gertrudis liegt nach der Amputation ihrer linken Brust noch im Krankenhaus. Er lauscht auf die Geräusche und Gespräche seiner neuen Nachbarin, der Prostituierten Queca.

Mittlerweile bin ich dieser kleine, schüchterne, unveränderliche Mann, verheiratet mit der einzigen Frau, die ich verführt habe oder die mich verführt hat, außerstande, nicht nur ein anderer zu sein, sondern auch die Willenskraft zu haben, ein anderer zu sein. Das Männchen, das desto mehr Widerwillen erregt, je mehr Mitleid es weckt, das Männchen, gemischt unter die Legionen von Männchen, denen das Himmelreich verheißen war. Asket, wie [Kollege] Stein spottet, wegen meiner Unfähigkeit zur Leidenschaft und nicht wegen des unsinnigen Hinnehmens einer schließlich verstümmelten Überzeugung. Dieses Ich im Taxi, nichtexistent, bloße Verkörperung der Idee Juan María Brausen, zweibeiniges Sinnbild eines billigen Puritanismus, gemacht aus Verneinungen – ein Nein dem Alkohol, ein Nein dem Tabak, ein entsprechendes Nein den Frauen, niemand in Wahrheit […] (Seite 59)

Einmal, als Brausen mit seinem jüdischen Kollegen Julio Stein und dessen fünfzehn Jahre älteren Geliebten Miriam ausgeht, singt die Frau:

La vie est brève
un peu d’amour
un peu de rêve
et puis bonjour.
La vie est brève
un peu d’espoir
un peu de rêve
et puis bonsoir.
(Seite 173)

Gertrudis verbringt nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus zuerst einige Tage bei ihrer Mutter in Temperley, dann noch einmal zwei Wochen, und schließlich zieht sie ganz dorthin, denn seit der Operation hat ihr Mann sich zunehmend von ihr entfremdet. Vor der Trennung sprachen sie darüber:

„Der Mann namens Juanicho liebte dich, war glücklich und litt. Aber er ist tot […]
„Vielleicht war es das, Juanicho. Vielleicht war es nicht wegen meiner Brust, die sie mir wegoperiert haben, noch wegen deines Mangels an Liebe, und auch nicht wegen des unvermeidlichen Endes aller Dinge.“
„Es handelt sich nicht um einen erledigten Menschen“, sagte ich. „Nicht um Verfall. Es geht um etwas anderes, darum, dass man glaubt, zu einem Leben verurteilt zu sein bis zum Tode. Dabei ist man nur zu einer Seele verurteilt, zu einer Seinsart. Man kann viele Male leben, viele mehr oder minder lange Leben.“ (Seite 202f)

Brausen beabsichtigt, ein Drehbuch zu schreiben. Als Protagonisten denkt er sich einen gleichaltrigen Arzt aus, den er Dr. Díaz Grey nennt. Dessen Praxis befindet sich in der fiktiven uruguayischen Stadt Santa María. Er stellt sich vor, wie eine Frau – Elena Sala de Lagos – in die Sprechstunde des Provinzarztes kommt und von vagen Beschwerden redet. Hinter einer Spanischen Wand entkleidet sie sich.

Die Frau kam unbefangen zurück und nahm wieder ihren Platz auf dem Teppich ein; sie war ernst ohne Strenge, und wenn sie ihn auch nicht anblickte, so verbarg sie doch auch nicht ihre Augen. Ihr Oberkörper war nackt und ihre großen Brüste waren noch straff, fast starr und hatten ausnehmend große Brustwarzen. (Seite 43)

Während Dr. Grey sein Stethoskop aufnimmt und die Liege zurechtmacht, kehrt Elena hinter die Spanische Wand zurück und zieht sich wieder an, noch bevor er sie untersuchen konnte. Sie sagt:

„Es war eine Farce, ich weiß nicht, warum mir das passiert ist, es ist so dumm, so grob, so unglaublich. Ich dachte, wie lächerlich es wäre, wenn Sie meinten, ich zöge mich aus, um Sie zu verführen.“
„Das ist absurd“, sagte er und blickte sie an im Versuch zu ermessen, was an ihr hinter der Lüge glaubwürdig war. ‚Wäre sie nur nicht gekommen, hätte ich sie nur nie kennengelernt. Jetzt weiß ich, dass ich vom ersten Augenblick an Angst hatte, ich begreife, dass ich sie brauchen und bereit sein werde, jeden Preis zu bezahlen. Und sie wusste es beim ersten Blick, diese Sicherheit war schon in ihr, bevor sie es wirklich wusste.‘ „Es ist absurd“, wiederholte er […] (Seite 44)

Sie erzählt Díaz Grey, sie habe ihn auf Empfehlung eines mit ihm befreundeten Arztes namens Quinteros aufgesucht, der sie bisher mit Morphium versorgt habe, unlängst aber wegen seiner bevorstehenden Verhaftung nach Chile geflüchtet sei. Grey soll nun für ihn einspringen. Unwillig gibt er ihr ein Rezept und verlangt dafür ein unverschämtes Honoar.

„Damit Sie wissen, dass Sie ein schlechtes Geschäft gemacht haben und nicht wiederkommen.“ (Seite 49)

Elena lässt sich nicht abschrecken und besucht ihn ein-, zweimal am Tag, um sich eine Spritze geben zu lassen. Nach einiger Zeit taucht ihr Mann Horacio Lagos bei Dr. Grey auf und erzählt ihm nebenbei, seine Frau habe vor ein paar Jahren eine Affäre mit einem zwei- oder dreiundzwanzigjährigen Gigolo gehabt, einem Engländer namens Oscar Owen.

Brausen verlässt eines Tages seine Wohnung, holt den Aufzug herauf, öffnet und schließt dessen Tür und läutet dann bei seiner Nachbarin. Sie kennt ihn nicht. Er gibt vor, Arce zu heißen, aus einem anderen Stadtviertel zu kommen und ein Freund ihres Zuhälters Ricardo zu sein. Obwohl Queca ihm nicht glaubt, trinkt sie Gin mit ihm und lässt sich von ihm in die Arme nehmen.

Ich hielt sie fest, gewiss, dass nichts geschah, dass all das nichts war als eine jener Geschichten, die ich mir jeden Abend erzählte, um leichter einzuschlafen; gewiss, dass das nicht ich war, sondern Díaz Grey, der den Körper einer Frau drückte, Elena Salas Arme, Rücken und Brüste im Sprechzimmer in einer Mittagsstunde, endlich. (Seite 95)

Während Brausen alias Acre wieder einmal bei Queca in der Wohnung ist, taucht ein jüngerer Mann auf, der inzwischen ihr Zuhälter ist: Ernesto. Sie prügeln sich.

Ich stand auf, streckte einen Arm aus und trommelte mit dem anderen gegen Ernestos Brust. Wieder spürte ich Schmerz am linken Kinnbacken, wieder stieß ich gegen ein Möbelstück. Wütender Schmerz strahlte kreisförmig von meinem Magen aus, als ich, einsam mit dem Gesicht zur Zimmerdecke wusste, dass die Welt aus meinem offenen Mund bestand und meiner verzweifelten Atemnot […] (Seite 112)

Obwohl Ernesto ihn zusammenschlug und aus Quecas Wohnung warf, besucht Acre sie kurz darauf erneut. „Sie sind verrückt“, meint sie. Wieder trinken sie Gin. Ernesto werde nicht mehr kommen, sagt sie, denn sie habe sich mit ihm entzweit. Bevor Acre mit ihr schläft, versteckt er einen unlängst besorgten Revolver unter dem Kopfkissen. Schließlich erhält er einen Wohnungsschlüssel, und nachdem ihn die Werbeagentur entlassen hat, liegt er auch tagsüber untätig bei Queca im Bett.

Ich war an dem unbestimmten Tag verschwunden, an dem meine Liebe zu Gertrudis geendet hatte; ich lebte im geheimen Doppelleben von Arce und dem Provinzarzt weiter. Täglich erstand ich wieder, wenn ich Quecas Wohnung betrat, die Hände in den Hosentaschen, im Gesicht übertrieben jugendliche, fast groteske Anmaßung, aufgeblasen von dem genießerischen Lächeln, mit dem ich bis in die haargenaue Mitte des Zimmers trat […] (Seite 152)

Einmal findet er einen unter Quecas Wohnungstür hindurchgeschobenen Zettel: „Ich rufe dich an oder komme um neun. Ernesto“. Arce legt ihn wieder zurück, versteckt seinen Revolver unter dem Kopfkissen und legt sich ins Bett. Queca kommt nach Hause, liest den Zettel heimlich im Bad, sagt aber nichts. Als ein Freier anruft, weist Arce ihn brüsk ab. Queca beschwert sich darüber und beschimpft ihn. Da schlägt er sie brutal zusammen. Er bringt sie immer wieder dazu, sich zu betrinken, nennt sie dann „besoffene Hündin“ und verprügelt sie.

Arce mietet die Hälfte eines Büros, richtet dort zum Schein die „Werbeagentur Brausen“ ein, lässt Briefbogen und Geschäftskarten drucken und sitzt nun jeden Tag am Schreibtisch. In der anderen Bürohälfte arbeitet ein „Brillenträger“ namens Onetti, den nur „grillenhafte Frauen und intime Freunde“ sympathisch finden können (Seite 220).

Eines Tages stößt Arce in der Nachbarwohnung auf Quecas Leiche.

Unter der Nachttischlampe am Kopfende des Bettes, dem einzigen brennenden Licht, lag die Queca nackt – ein aufgerolltes Laken auf ihrem Bauch –, die Hände über der Brust gefaltet, ein Bein ausgestreckt, das andere angezogen. (Seite 256)

Ernesto kommt aus der Küche. Augenscheinlich hat er Queca erwürgt. Arce nimmt ihn mit in die Nachbarwohnung, geht noch einmal zurück, legt seinen Schlüssel für Quecas Wohnung und Ernestos Zettel auf den Tisch, und versteckt sich dann mit dem Mörder in verschiedenen Hotels, zuletzt in Santa María. Immer wieder fragt Ernesto, warum Arce ihm helfe. Der bleibt worgkarg, antwortet dann aber doch einmal:

„Es erscheint mir ungerecht, dass sie dich festnehmen, weil du das getan hast, was ich selbst hätte tun können.“ (Seite 312)

Nach einigen Wochen stiehlt Ernesto sich davon. Vom Hotelfenster aus beobachtet Arce, wie er auf den Mann zugeht, der sie seit Tagen beschattet hat und von zwei weiteren mutmaßlichen Kriminalbeamten in die Mitte genommen wird.

Elena stirbt. Ihr Begleiter, Dr. Díaz Grey, wird zehn Tage lang von der Polizei festgehalten, aber Horacio Lagos bestätigt, dass der Arzt den Auftrag hatte, seine Frau zu begleiten. Oscar Owen verrät Grey, was der Witwer plant: Lagos will mit ihnen beiden nach Buenos Aires fahren. Dort soll Díaz Grey so viele Morphium-Rezepte ausstellen, wie es Apotheken gibt. Innerhalb eines einzigen Tages werden sie dann alle Apotheken aufsuchen, anschließend mit dem Morphium verschwinden und es verkaufen.

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Ein mit seinem eintönigen Leben unzufriedener Angestellter gerät in eine Krise und verliert sich in Fantasiewelten. Er identifiziert sich mit der Hauptfigur eines Drehbuchs, das er schreiben will und stellt sich zugleich vor, wie er der Zuhälter der Prostituierten wird, die in die Nachbarwohnung eingezogen ist.

Juan Carlos Onetti zerstückelte in „Das kurze Leben“ die verschiedenen Haupt- und Nebenhandlungen. Weil sich der Protagonist obendrein mit anderen Figuren identifiziert und nicht immer klar ist, welche davon er sich nur ausgedacht hat, ist es schwierig, sich als Leser in dem spröden Roman „Das kurze Leben“ zurechtzufinden. Im letzten Kapitel spricht der Ich-Erzähler Brausen in der Rolle von Díaz Grey eine der Figuren – die junge Geigerin Annie Glaeson – direkt an:

Ich sehe Sie drei aus dem Café treten, Sie in der Mitte, Lagos mit dem Stock unter dem Arm, der Engländer auf seiner Pfeife kauend, die Hände in den Hosentaschen. (Seite 326)

Juan Carlos Onetti wurde 1909 als Sohn eines Zollbeamten in Montevideo, der Hauptstadt Uruguays, geboren. Dort und in Buenos Aires arbeitete er zunächst als Journalist. 1939 erschien sein erster Roman („El pozo“). Achtzehn Jahre später wurde er Direktor der Städtischen Bibliothek und der Comedia Nacional in Montevideo. Wegen seiner Mitgliedschaft in einer Jury, die eine von dem diktatorischen Regime Uruguays missbilligte Kurzgeschichte von Nelson Mandela ausgezeichnete hatte, wurde Juan Carlos Onetti 1974 zu einer Haftstrafe verurteilt. Im Jahr darauf wanderte er nach Spanien aus. In Madrid starb er 1994 mit fünfundachtzig Jahren.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2004
Textauszüge: © Suhrkamp Verlag

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