Amos Oz : Ein anderer Ort

Ein anderer Ort
Originalausgabe: 1966 Ein anderer Ort Übersetzung: Ruth Achlama Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 2001 Süddeutsche Zeitung / Bibliothek, Band 71, München 2007, 425 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Im Kibbuz Mezudat Ram werden die sozialistischen Ideale der Gründer von der heranwachsenden Generation in Frage gestellt. Amos Oz entfaltet in seinem Roman "Ein anderer Ort" ein Panorama des Lebens der Kibbuzniks, ihrer alltäglichen Beschäftigungen, ihrer Liebesaffären, der Streitigkeiten zwischen ihnen und ihrer Versöhnung.
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Kritik

Eine Handlung im herkömmlichen Sinn gibt es in "Ein anderer Ort nicht"; der Roman besteht aus teils ernsten, teils ironischen Episoden, die geschickt miteinander verwoben sind.
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Der Kibbuz Mezudat Ram liegt im Norden Israels, drei Kilometer von der Staatsgrenze entfernt. Hier gibt es keine verborgenen Höfe und kaum etwas, was verheimlicht werden kann. Dafür sorgt nicht zuletzt die Klatschbase Fruma, die Witwe des im Sinaifeldzug gefallenen Offiziers Joasch Romin und Mutter eines achtzehnjährigen Sohnes, der Avraham Rominow heißt, aber Rami gerufen wird.

Kraft des Klatsches beherrschen wir unsere Triebe, unterjochen wir unsere Natur, werden wir ein klein wenig besser. Die Macht des Klatsches ist bei uns deshalb so groß, weil unser Leben offenliegt wie ein sonnenüberfluteter Hof. (Seite 17)

Den Kibbuzbewohnern ist auch nicht verborgen geblieben, dass der Lehrer Ruven Charisch, der in seiner Freizeit Touristen herumführt, seit fünf Jahren ein Verhältnis mit der etwas jüngeren Kinderschwester Bronka Berger hat. Ruven, der Sohn eines einfachen Schlachters, war mit Eva Hamburger verheiratet, einer aus Köln stammenden Bankierstochter. Zwei Kinder stammen aus dieser Ehe: die Tochter Noga und ihr sieben Jahre jüngerer Bruder Gai. Als Noga zehn Jahre alt war, verließ Eva die Familie und ging mit ihrem Cousin Isaak Hamburger nach München. Dort betreiben die beiden, die ihre Beziehung inzwischen legalisiert haben, zusammen mit Bronkas Schwager Sacharja Siegfried Berger einen Nachklub. Bronka ist die Ehefrau des Lastwagenfahrers Esra Berger, mit dem sie zwei Söhne hat: Oren Geva ist in Nogas Alter; sein älterer Bruder Tomer Geva ist für die Futtermittel im Kibbuz verantwortlich und seit kurzem mit Enav Geva vermählt, die bei der Hochzeit im vierten Monat schwanger war.

Esras Vater, Rabbi Naftali Hirsch Berger, war Kantor, Kutscher und Kleinhändler in Kowel. Alle seine drei Söhne verließen ihn: Der älteste, Nechemja, studierte in Lemberg und siedelte sich danach in Jerusalem an. Esra wanderte mit seinem Freund Aharon Ramigolski direkt von Kowel nach Erez Israel aus. Der jüngste der drei Söhne, Sacharja, ging nicht freiwillig von zu Hause fort, sondern er wurde vom Vater verstoßen, nachdem man ihn bei einem sodomitischen Akt mit einem Hund erwischt hatte. Sacharja zog herum, wurde in Warschau von den Deutschen ins Ghetto gesperrt, flüchtete und lebt jetzt als Freund und Geschäftspartner von Isaak und Eva Hamburger unter dem Namen Siegfried Berger in München.

Kurz bevor der im Kibbuz geborene Rami zum Militärdienst einberufen wird, überwirft er sich mit seiner Freundin Noga Charisch. Er fordert das Schicksal heraus, indem er ohne Zeugen einen Revolver mit einer Patrone lädt, die Trommel rotieren lässt, sich den Lauf an die Schläfe hält und abdrückt. Dreimal wiederholt er das, und er hat Glück.

Noga verführt Esra Berger und wird die Geliebte des fünfzigjährigen Lastwagenfahrers, des von ihrem Vater gehörnten Ehemanns. Als Noga schwanger wird, drängen alle sie zur Abtreibung, aber sie will das Kind unbedingt austragen.

Während Tomer Geva mit einem Traktor unterwegs ist, um die Bewässerungshähne abzustellen, wird er über die Grenze hinweg beschossen und von zwei Kugeln in einen Arm getroffen. Aber er springt unbemerkt ab und rettet sich, während die Feinde weiterhin auf den nicht mehr besetzten Traktor schießen.

Noga schlägt ihrem Vater vor, den Kibbuz zu verlassen.

„Lass uns wegfahren.“
„Wohin?“ […]
„An einen fernen Ort, ans Ende der Welt.“ […]
„Wohin?“
„An einen anderen Ort. Einen stillen, geschlossenen Ort. Nur für uns.“ (Seite 331)

Während Esra und die schwangere Noga ihre Affäre ebenso beendet haben, wie Bronka und Ruven, versöhnen Esra und Bronka sich. Esra fährt nicht mehr jeden Tag eine Extratour mit dem Lastwagen, sondern er nimmt sich wieder Zeit für seine Frau, und sie gehen auch wie früher miteinander ins Bett.

Unerwartet besucht Sacharja Siegfried Berger seinen Bruder und dessen Familie im Kibbuz. Auch Dr. Nechemja Berger kommt mit einem Taxi aus Jerusalem, aber nach einem heftigen Streit mit seinem jüngsten Bruder über die Frage, was es bedeutet, ein guter Jude zu sein, reist er wieder ab.

Bronka Berger vermutet, ihr Schwager habe nicht nur von Eva Hamburger den Auftrag erhalten, Noga zu ihr nach München zu bringen, sondern er begehre das Mädchen auch. Fruma Rominow argwöhnt sogar, er gehöre einem Zuhälterring an und beabsichtige, Noga in sein Bordell in München zu entführen.

Als Fruma Rominow stirbt, trauern die Kibbuzbewohner um sie, auch wenn sie dabei weiterarbeiten. Rami erhält eine Woche Urlaub, um seiner Mutter die letzte Ehre erweisen zu können. Seinen Aufenthalt im Kibbuz nutzt er, um sich mit Noga zu versöhnen.

Der Kibbuz Mezudat Ram erhält den Auftrag, ein Stück Ackerland wieder in Besitz zu nehmen, das nach israelischer Auffassung zum eigenen Staatsgebiet gehört, aber seit Jahren unter militärischer Deckung durch die Feinde von Fellachen bestellt wird. Mordechai Gelber beginnt dort eines Morgens, mit einem gepanzerten Traktor zu pflügen. Er wird beschossen und nach achtzig Minuten durch ein panzerbrechendes Geschoss getötet.

Fast zur gleichen Zeit regt Ruven Charisch sich in seinem Gespräch mit Sacharja Siegfried Berger so auf, dass er an einem Herzanfall stirbt.

Bevor die beiden Toten beerdigt werden, drängt Bronka ihren Schwager, den Kibbuz zu verlassen, und er fliegt zurück nach München.

Noga und Rami heiraten. Kurze Zeit später schenkt Noga einer Tochter das Leben, die den Namen Inbal bekommt.

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Im Kibbuz Mezudat Ram werden die sozialistischen Ideale der Gründer von der heranwachsenden Generation, die mehr Freude am Leben haben will, in Frage gestellt. Amos Oz entfaltet in seinem Roman „Ein anderer Ort“ ein Panorama des Lebens der Kibbuzniks, ihrer alltäglichen Beschäftigungen, ihrer Liebesaffären, der Streitigkeiten zwischen ihnen und ihrer Versöhnung. Der Kibbuz stellt einen Mikrokosmos dar, in dem sich das Ringen der Israelis um ihr Selbstverständnis spiegelt.

Eine Handlung mit einem Protagonisten im herkömmlichen Sinn gibt es in „Ein anderer Ort nicht“; der Roman besteht aus teils ernsten, teils ironischen Episoden, die geschickt miteinander verwoben sind.

Die Geschichte […], die Amos Oz erzählt, ist eigentlich keine Geschichte, sondern ein kurzer, wie zufällig gewählter Ausschnitt im Leben der Kibbuzniks, der auch anders hätte sein können. (Petra Steinberger, Süddeutsche Zeitung, 8. September 2007)

Statt eines auktorialen Erzählers tritt ein Anonymus auf, von dem wir weiter nichts erfahren, der jedoch zu den Kibbuzniks gehört, die Anderen beobachtet und darüber wie ein schwatzhafter Gastgeber klatscht:

Um die folgenden Dinge richtig zu beleuchten, wollen wir uns flüchtig Chassja Ramigolski zuwenden. Wir hätten auch Esther Klieger, alias Esther Issarow, Nina Goldring oder Gerda Sohar nehmen können oder Männer wie Israel Zitron beziehungsweise Mendel Morag, alles arbeitende Menschen, die im Schweiße ihres Angesichts ihr Brot verdienen und mit sich und Anderen streng sind. Wir haben jetzt Chassja Ramigolski gewählt, nicht weil sie die Frau des Kibbuzsekretärs ist – das tut hier nichts zur Sache –, sondern weil wir sie gerade getroffen und einiges von ihr gehört haben. (Seite 292)

Traurig entziehen wir Chassja das Wort und ergreifen es selbst wieder. (Seite 296)

Es versteht sich von selbst, dass die Vorgänge unseren aufmerksamen Augen nicht entgingen. (Seite 370)

Jetzt werden wir zum Kontrast eine erfreuliche Tatsache vermelden. (Seite 383)

So schreibt man keine Geschichte. Die Erzählung verlangt ein anderes Tempo. (Seite 384)

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2007
Textauszüge: © Suhrkamp Verlag

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