Heinrich Päs : Die perfekte Welle

Die perfekte Welle
Die perfekte Welle. Mit Neutrinos an die Grenzen von Raum und Zeit oder Warum Teilchenphysik wie Surfen ist Originalausgabe: Piper Verlag, München 2011 ISBN: 978-3-492-05412-6, 272 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

In seinem Buch "Die perfekte Welle. Mit Neutrinos an die Grenzen von Raum und Zeit oder Warum Teilchenphysik wie Surfen ist" fasst Heinrich Päs den aktuellen Wissensstand auf den Gebieten Relativitätstheorie, Quanten- und Teilchenphysik zusammen. Außerdem erläutert er Spekulationen wie die kosmische Inflation, die Erweiterung des Symmetriebegriffs zur Grand Unified Theory und Supersymmetrie, die Stringtheorie, Extra-Dimensionen und Zeitreisen.
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Kritik

Immer wieder lockert Heinrich Päs die Darstellung durch Anekdoten und pointierte biografische Skizzen auf. Mit seinem Buch "Die perfekte Welle" wendet er sich weniger an Fachkollegen, als an vorgebildete Laien, auf die sich seine Begeisterung überträgt.
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Edwin Powell Hubble (1889 – 1953) fand heraus, dass sich die beobachtbaren Galaxien voneinander entfernen. Was aber heute auseinanderfliegt, war vorher näher zusammen. Es muss es also einen Anfang gegeben haben. Die Entwicklung des Universums lässt sich in Gedanken zurückverfolgen bis zu einer Singularität, einem ausdehnungslosen, punktförmigen Gebilde von unendlicher Dichte und Temperatur, mit dessen Explosion Raum und Zeit überhaupt erst begannen. Der britische Astronom Fred Hoyle (1915 – 2001) prägte dafür 1950 in einer Radiosendung den Begriff „Big Bang“ (Urknall). Dieses Ereignis könnte vor 14 Milliarden Jahren stattgefunden haben. Die beiden amerikanischen Radiotechniker Arno A. Penzias (* 1933) und Robert W. Wilson (* 1936) stießen im Frühjahr 1964 bei Arbeiten an einer Antenne zufällig auf das Echo des Urknalls: ununterbrochen und aus allen Richtungen mit gleicher Intensität aus dem Kosmos eintreffende Mikrowellen. In einer Entfernung von 14 Milliarden Lichtjahren blicken wir auf eine undurchdringliche Wand; dahinter ist das Universum undurchsichtig.

Ohne näher auf die Kosmologie und die Entstehung bzw. Zerstörung von Himmelskörpern einzugehen, schreibt Heinrich Päs:

Wir sind alle aus Sternenstaub. Wirklich. Tatsächlich wurden die schweren Atomkerne wie Kohlenstoff, Silizium, Sauer- und Stickstoff, die das molekulare Gerüst bilden für Fleisch, Blut und Knochen, für Blatt, Fels und Luft, in den Sternen aus leichteren Elementen zusammengekocht und dann in Supernova-Explosionen dieser frühen Sonnen in das All geblasen.
Die leichten Elemente allerdings wie Wasserstoff oder Helium wurden – kaum weniger romantisch – im heißen Plasma der ersten drei Minuten unseres Universums erzeugt.

Die Auffassung, dass Materie aus kleinsten, unteilbaren Bausteinen aufgebaut sei, geht auf die griechischen Philosophen zurück. Demokrit war der Erste, der Atome postulierte. Inzwischen wissen wir allerdings, dass auch Atome teilbar sind. Ein Atom besteht aus einem Kern und einer Elektronenhülle. Der Atomkern lässt sich in Protonen und Neutronen zerlegen, und diese setzen sich aus Quarks zusammen. Damit gelangen wir in den Elementarteilchenzoo.

Der antiken Vier-Elemente-Lehre zufolge besteht alles Sein aus Wasser, Erde, Feuer und Luft. Dabei tauchte bereits der Gedanke auf, dass nicht nur alle Dinge und Organismen aus diesen vier Grundelementen zusammengesetzt sind, sondern diese wiederum auf einen Urstoff zurückgeführt werden können. Mit der Idee einer eigenschaftslosen Einheit hinter all dem Vielen, das wir wahrnehmen, beschäftigte sich Platon im Parmenides-Dialog. Dieses Konzept könne mit den Mysterien von Eleusis zusammenhängen, meint Heinrich Päs, streng geheimen Riten, bei denen Kykeon getrunken wurde, ein möglicherweise mit Lysergsäure-Alkaloiden versetztes Gebräu aus Gerste und Minze, das ein halluzinogenes Ganzheitsgefühl hervorrief. In der modernen Physik wurde die Idee aufgegriffen: Man sucht nach einer Theorie, mit der sich Materie und Energie als verschiedene Aspekte eines grundlegenden Prinzips darstellen lassen.

Die Welt, die es zu erklären gibt, nehmen wir dreidimensional wahr. Außerdem erleben wir Zeit.

Letztlich hat niemand auch nur einen blassen Schimmer, was Zeit eigentlich ist.

Dass keine der vier Dimensionen absolut ist und Raum und Zeit zusammenhängen, erklärt Albert Einstein (1879 – 1955) in der Relativitätstheorie. Der Speziellen Relativitätstheorie zufolge nimmt die Dauer einer Zeiteinheit mit der Geschwindigkeit des (gleichmäßig und geradlinig) bewegten Systems zu, während sich zugleich die räumlichen Abmessungen in der Bewegungsrichtung verkürzen. Jagt etwas einem Lichtstrahl mit, sagen wir, halber Lichtgeschwindigkeit nach, entfernt sich der Lichtstrahl nicht mit halber, sondern mit unveränderter Lichtgeschwindigkeit.

Doch damit nicht genug! Im Rahmen der Relativitätstheorie können sich relativ zueinander bewegte Beobachter nicht einmal über die zeitliche Reihenfolge von Ereignissen einigen. Ob eine Situation zeitlich vor oder nach einem Ereignis eintritt, hängt vom Beobachter ab!

Neben der Relativitätstheorie revolutionierte die Quantenphysik zu Beginn des 20. Jahrhunderts unser Weltbild. Albert Einstein meinte allerdings in Bezug auf den radikalen Bruch der Quantenphysik mit dem traditionellen Konzept der Kausalität: „Gott würfelt nicht“. Und der Physiknobelpreisträger Richard P. Feynman (1918 – 1988), der Begründer der Quantenelektrodynamik, hielt die Quantenphysik für so verrückt, dass niemand sie wirklich verstehe. Dabei tragen technologische Anwendungen der Quantenphysik heute ein Viertel zum Bruttosozialprodukt der USA bei.

Wie sich eine Störung auf ein Teilchen auswirkt, darüber lassen sich nur Wahrscheinlichkeitsaussagen machen. Aber damit nicht genug: Solange die Auswirkung auf das Teilchen nicht beobachtet wird, scheinen alle nur möglichen Auswirkungen verwirklicht zu sein. Teilchen können sich zum Beispiel an zwei Orten gleichzeitig befinden! Und Teilchen haben Eigenschaften von Wellen, während Wellen Eigenschaften von Teilchen zeigen. So verhalten sich bei einer Messung des Ortes Teilchen als unteilbare Portionen, sogenannte Quanten, einer Welle. Gleichzeitig beschreibt eine Welle die Aufenthaltswahrscheinlichkeit der Teilchen am jeweiligen Ort.

[…] befinden sich alle Dinge an mehreren Orten gleichzeitig, bis eine Messung ihnen schließlich einen genauen Ort zuweist. Und das lässt sich auf alle messbaren Eigenschaften wie Impuls, Energie, Zeitpunkt eines radioaktiven Zerfalls und Ähnliches verallgemeinern.

Seit Jahrzehnten suchen Physiker nach einer „Weltformel“, in der die Relativitätstheorie und die Quantentheorie miteinander verschmolzen und alle Naturerscheinungen in einer geschlossenen Theorie erklärt werden. Ansätze für eine Grand Unified Theory (GUT) gibt es seit den Achtzigerjahren. Allerdings kann das sogenannte Standardmodell der Elementarteilchenphysik außer den bisher bekannten Elementarteilchen nur drei der vier Grundkräfte erklären, die auf sie wirken (starke Wechselwirkung, schwache Wechselwirkung, Elektromagnetismus). Die Gravitation passt nicht hinein.

Vielversprechend wirkt die Annahme von Strings, bei denen die Teilchen als Schwingungsmuster winziger Saiten veranschaulicht werden. Stringtheorien setzen mindestens neun Raumdimensionen und eine Zeitdimension voraus. Aber das Überschreiten der vier Dimensionen unserer Wahrnehmung ist nichts Neues. Schon Ende 1919 schlug der deutsche Mathematiker Theodor Kaluza (1885 – 1954) in einem Brief an Albert Einstein eine Theorie mit Extra-Dimensionen vor, um auch den Elektromagnetismus in die Allgemeine Relativitätstheorie einzubeziehen, und der schwedische Mathematiker Oskar Klein (1894 – 1977) entwickelte sie 1926 weiter.

Woher kommt die Vielfalt in der Welt, die unendliche Komplexität unserer Umwelt, wenn doch alles aus einem Urteilchen zusammengesetzt und von einer Urkraft zusammengehalten sein soll?

Das Eine hinter dem Vielen könnten Symmetrien sein, deren Bedeutung die jüdisch-deutsche Mathematikerin Emmy Noether (1882 – 1935) erkannte.

Die Antwort auf diese Fragen liefert das Konzept der Symmetriebrechung, und ironischerweise kann gerade dieses Konzept, wenn es zu Ende gedacht wird, zu einem noch höheren Grad an Symmetrie führen als in den GUT-Theorien, nämlich zur Supersymmetrie. Und wie wir sehen werden, erlaubt die Supersymmetrie nicht nur, einige der konzeptionellen Probleme des Standardmodells und der GUT-Theorien zu lösen, sie sagt auch neue Teilchen inmitten der Teilchenwüste vorher. Sie bringt, wie der SUSY-Theoretiker Howie Baer in seinem Abschlussvortrag auf der ersten „Beyond the Desert“-Konferenz erklärte, die Wüste zum Blühen.

Mit dem Mechanismus der spontanen Symmetriebrechung lässt sich erklären, warum wir in der Natur nicht die vollkommene Symmetrie einer GUT-Theorie wahrnehmen, sondern nur einen schwachen Abglanz dieser Symmetrie, ähnlich den Menschen in Platons Höhlengleichnis, die nur die Schatten wahrnehmen, die auf die Höhlenwand projiziert werden, und diese dann für die wirklichen Dinge halten.

Weitere Fortschritte in der Entwicklung von Theorien jenseits des Standardmodells verspricht Heinrich Päs sich von der Erforschung der Neutrinos. Um den radioaktiven Betazerfall zu erklären, hatte der Physiknobelpreisträger Wolfgang Pauli (1900 – 1958) 1930 das Neutrino postuliert, ohne eine Möglichkeit zu erkennen, wie man es nachweisen könnte. (Die Bezeichnung stammt nicht von ihm, sondern von Enrico Fermi.) Den Nachweis nahmen sich 1951 die beiden amerikanischen Physiker Frederick Reines (1918 – 1998) und Clyde L. Cowan (1919 – 1974) im Los Alamos National Laboratory vor, und es gelang ihnen fünf Jahre später in der Nuklearanlage Savannah River Site in Augusta, Georgia.

Unter allen bekannten Elementarteilchen ist das Neutrino mit Sicherheit das exotischte. Obwohl in jeder Sekunde 60 Milliarden Neutrinos durch jeden Quadratzentimeter der Erdoberfläche – und jedes menschlichen oder sonstigen Körpers – strömen, durchdringen sie uns, ja sogar das ganze Erdinnere, ohne eine Spur zu hinterlassen, als wären wir und die Erde Luft. Und obwohl Neutrinos höchstens ein Millionstel der winzigen Elektronenmasse wiegen (das sind 10-30 Gramm!), ist ihre Anzahl so hoch, dass sie ungefähr genauso viel zur Masse des Universums beitragen wie alle Sterne zusammengenommen.

Das kleine Neutrino ist trotz seiner winzigen Masse einer der Global Player in der Kosmologie.

Neutrinos könnten zur Kontaktaufnahme mit Intelligenzen in anderen Sternsystemen benutzt werden oder zur Kommunikation mit bzw. zwischen Atom-U-Booten, die dann nicht mehr aufzutauchen bräuchten, um Funksprüche absetzen zu können.

Vorrangig strebt die Neutrinophysik jedoch nicht nach nutzbringenden Anwendungen. Vielmehr sucht sie nach einem besseren Grundverständnis unseres Universums und damit nach einer soliden Basis für ein unbestechliches, wissenschaftlich-rationales Weltbild.

Auch für Zeitreisen wären Neutrinos Kandidaten.

Neutrinos sind […] die perfekte Welle für eine solche Reise.

Der Mathematiker Kurt Gödel (1906 – 1978), der ab 1942 auf ausgedehnten Spaziergängen mit Albert Einstein über die Relativitätstheorie diskutierte, entwickelte das Modell eines rotierenden Universums, in dem die Zeitdimension zu einer geschlossenen Kurve gekrümmt ist. Im Gedankenexperiment ist es also möglich, sich immer weiter vorwärts zu bewegen, bis man den zeitlichen Ausgangspunkt wieder erreicht. Das wäre eine Zeitreise. Allerdings gilt dieses Konstrukt als unvereinbar mit der Wirklichkeit.

1935 beschrieben Albert Einstein und Nathan Rosen (1909 – 1995) eine andere Möglichkeit für Zeitreisen auf der Grundlage der Allgemeinen Relativitätstheorie: Abkürzungen durch die Raumzeit. Dafür kam später der Begriff Wurmlöcher auf, in Analogie zum Wurm, der sich durch den Apfel frisst und zwei Stellen an der Oberfläche durch einen Gang verbindet. Der Wurm frisst in der Regel keinen geradlinigen Tunnel, aber wenn man sich das dennoch vorstellt, ist die Verbindung zwischen den beiden Öffnungen kürzer als der Weg auf der Oberfläche. Auf die Raumzeit übertragen, bedeutet das, man kommt vor der Zeit am Ziel an.

Eine weitere Möglichkeit für Zeitreisen ergibt sich im Gedankenexperiment für ein Objekt, das sich schneller als Licht bewegt (was nach heutigem Verständnis nicht möglich ist). In diesem Fall könnte ein Beobachter die Reihenfolge von Aufbruch und Ankunft vertauscht wahrnehmen.

Er würde einen ankommen sehen, bevor man aufgebrochen ist. Und dieser bewegte Beobachter könnte einen dann – wieder überlichtschnell – zurück zum Ursprungsort schicken, wo man in der Vergangenheit des eigenen Aufbruchs ankäme und sich selbst antreffen könnte, wie man sich auf den Aufbruch vorbereitet. Kurz: Man könnte in die Vergangenheit reisen!

Als Postdoc an der University of Hawaii in Honolulu dachte Heinrich Päs darüber nach, ob Zeitreisen durch Extra-Dimensionen der Raumzeit denkbar wären. In seinem Buch „Die perfekte Welle“ schreibt er dazu:

An einem dieser Nachmittage sprang mir dabei folgendes Bild ins Bewusstsein: Angenommen, unser Universum mit seinen drei Raum- und einer Zeitdimension ist in einen Raum mit vielen zusätzlichen Dimensionen eingebettet und liegt darin wie ein Teppich in einem x-beliebigen Wohnzimmer: Kann dieser Teppich dann Falten werfen? Und angenommen, es gibt Elementarteilchen, die sich nicht nur in den geläufigen 3+1-Dimensionen bewegen können, sondern im gesamten mehrdimensionalen Raum: Können diese Teilchen, anstatt den Falten des Teppichs zu folgen, die Abkürzung längst des Fußbodens nehmen? Können sie, wie ein Surfer unter einer entgegenkommenden Welle hindurchtaucht, einen duck dive machen und dabei schneller sein als alles, was sich längs der aufgewühlten Oberfläche bewegt?

Wie auch immer wir uns Zeitreisen denken mögen, entstehen dadurch Paradoxien wie diese: Ein Zeitreisender tötet in der Vergangenheit seinen Großvater, bevor dieser einen Sohn zeugt. Damit würde er seine eigene Geburt verhindern, könnte also auch nicht in der Zeit reisen und seinen Großvater treffen.

Vermeiden ließen sich diese Paradoxien durch die Annahme von Paralleluniversen. In diesem Fall würde der Zeitreisende in einem anderen Universum ankommen und deshalb die Vorgänge im Ausgangsuniversum nicht beeinflussen.

Heinrich Päs hofft, dass sich durch den Betrieb des gigantischen Teilchenbeschleunigers (Large Hadron Collider) der CERN bei Genf neue Erkenntnisse über Elementarteilchen im Allgemeinen und Neutrinos im Besonderen ergeben, aber auch Hinweise auf Extra-Dimensionen der Raumzeit, die bei der Entwicklung von Theorien jenseits des Standardmodells helfen.

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Der Physiker Heinrich Päs (* 1971) promovierte 1999 an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, und sechs Jahre später habilitierte er sich an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Als Postdoc arbeitete er an der Universitat de Valencia, der Vanderbilt University in Nashville und der University of Hawaii in Honolulu. Inzwischen ist Heinrich Päs Professor für theoretische Hochenergie- und Astroteilchen-Physik an der Technischen Universität Dortmund.

Zu meinem großen Glück wurde die Neutrinophysik in den Mittneunzigern zu einem der aufregendsten Gebiete der Grundlagenforschung, und für mich zum perfekten Ausgangspunkt, die Ideen über die neue Physik auszukundschaften, von denen man sich erhofft, dass sie einen alten Traum der Physiker verwirklichen: alle fundamentalen Bausteine der Materie in einer geschlossenen Theorie zu beschreiben. (Heinrich Päs, www.physik.uni-dortmund.de)

Sein Forschungsschwerpunkt ist die Untersuchung von Neutrinos im Allgemeinen und von Neutrinomassen, -mischungen und -oszillationen im Besonderen. Davon verspricht er sich ein besseres Grundverständnis des Universums und Fortschritte in der Entwicklung von Theorien jenseits des Standardmodells.

Daneben habe ich mich von Zeit zu Zeit – und mit sehr wechselhaftem Erfolg – auch als Philosoph, Regattasegler, Marathon-Läufer, Wellenreiter, Snowboarder, Zeitmaschinen-Erfinder, sowie als Anstreicher von Orang-Utan-Käfigen versucht – und mir irgendwie eine Reputation für wildes Feiern erworben … (Heinrich Päs, a. a. O.)

In seinem Buch „Die perfekte Welle. Mit Neutrinos an die Grenzen von Raum und Zeit oder Warum Teilchenphysik wie Surfen ist“ fasst Heinrich Päs den aktuellen Wissensstand auf den Gebieten Relativitätstheorie, Quanten- und Teilchenphysik und Neutrinos zusammen. Außerdem erläutert er Spekulationen wie die kosmische Inflation, die Erweiterung des Symmetriebegriffs zur Grand Unified Theory und Supersymmetrie, die Stringtheorie, Extra-Dimensionen und Zeitreisen.

Abkürzungen in Extra-Dimensionen sind Spekulationen zum Quadrat, und Zeitreisen in Extra-Dimensionen sind Spekulationen … nun ja, mindestens hoch drei, aber manch seriöser Wissenschaftler wird sie wohl eher als hoch 1000 ansehen.

In jedem Kapitel lockert Heinrich Päs die Darstellung durch Anekdoten und pointierte biografische Skizzen auf. Da er sich mit seinem Buch „Die perfekte Welle“ weniger an Fachkollegen als an vorgebildete Laien wendet, sind seine Erläuterungen zum großen Teil allgemeinverständlich. Auf einem Gebiet, das die Grenzen der anschaulichen Vorstellung sprengt, ist das nicht einfach, und es haben sich denn auch schwer verständliche Passagen wie die folgende eingeschlichen:

Wenn Supersymmetrie an der TeV-Skala existiert, dann würden sich einige Eigenschaften wie Lepton-Flavor-Verletzung und Leptonzahl-Verletzung durch Quantenfluktuationen auf die SUSY-Teilchen übertragen. Die konkrete Art der Übertragung, z. B. durch Quantenfluktuationen der SUSY-Teilchen über Lepton-Flavorverletzende Kopplungen wie im Seesaw-Mechanismus, hängt wieder vom konkreten Mechanismus der Neutrinomassen-Erzeugung ab. SUSY-Teilchen würden dann Lepton-Flavor-Verletzungen und/oder die Leptonzahl verletzende Prozesse zeigen, die im minimalen Modell nicht vorkommen und die Aufschluss geben könnten über den Mechanismus der Neutrinomassen-Erzeugung.

Auch wenn man als Laie nicht alles versteht, steckt die Begeisterung an, mit der sich Heinrich Päs in seinem Wissens- und Forschungsgebiet bewegt.

Ich hoffe vor allem, dass ich ein Buch geschrieben habe, das Spaß macht und Lust auf mehr.

Selbst wenn ein theoretischer Physiker die meiste Zeit des Tages auf seinem Bürostuhl an den Schreibtisch gefesselt ist, wandert sein Geist doch bis an die Grenzen und Anfänge von Raum und Zeit, durch unendliche Weiten leerer Kälte bis hin in die lebensfeindliche Hitze im Innern der Sterne, immer auf der Suche nach etwas, das möglicherweise der nächste Hinweis auf eine Wahrheit hinter den Phänomenen sein könnte.

Physikalische Ideen sind wie die Wellen vor Hawaii – sie scheinen von nirgendwo zu kommen, packen einen plötzlich und unerwartet und reißen einen in einen berauschenden Trip.

Wo die Mathematik Syntax und Vokabular liefert, schreibt die Physik Gedichte. Sie sind Bilder von der Natur, und genau wie große Kunstwerke bezaubern die Theorien der modernen Physik durch die berückende Ästhetik, mit der fundamentale Naturgesetze auf Symmetrien, platonische Körper und gekrümmte Geometrien wie die gewagte Architektur eines Santiago Calatrava reduziert werden.

Amüsant ist auch, wie Heinrich Päs seine Fachwelt beschreibt:

Und wo sonst findet man auch ein solches Spektrum an Typen: polternde Alphatiere wie Carlo Rubbia oder Hans-Volker Klapdor-Kleingrothaus, blendende Selbstdarsteller wie Stephen Hawking oder Nino Zichichi, charismatische Lehrer wie Enrico Fermi und verschlossene Autisten – so schüchtern, dass sie kaum ein Wort herausbringen – wie Ettore Majorana. Verträumte Freaks wie Lincoln Wolfenstein, Kämpfer wie Ray Davis. Sozial auffällig oder graue Mäuse, in Schlips und Kragen, in Shorts und Sandalen oder in zu kurzen Pullis mit Kaffeeflecken und hängenden Hosen wie aus dem Altkleidercontainer. Saufende Nachteulen wie Wolfgang Pauli und früh aufstehende Antialkoholiker, Temperamentsbolzen und unterkühlte Schweiger. Naturburschen wie Werner Heisenberg, Frohnaturen wie Einstein, Asketen. Findige Tüftler wie Cowan und Reines, unermüdliche Rechner wie John Bahcall, ideensprühende Kreative wie Nima Arkani-Hamed, bodenständige Skeptiker wie – noch einmal – Pauli oder logische Terroristen wie Kurt Gödel.

In diese Welt der Verrückten, Träumer und Visionäre, dieses heterogene Häuflein von Kern-, Teilchen- und Astrophysikern, von Chemikern und Ingenieuren, die sich jenseits der Grenzen ihrer angestammten Gebiete der Suche nach dem Neutrino widmeten, wurde ich 1994 hineinkatapultiert. Im Herbst dieses Jahres hatte ich meine Diplomprüfungen mehr schlecht als recht hinter mich gebracht und war jetzt auf der Suche nach einer interessanten Diplomarbeit. Ich wusste in etwa, was ich wollte: Ich war fasziniert von der Möglichkeit, die fundamentalsten Gesetze der Natur in Symmetrien aufzulösen. und ich wollte Theorie machen, da mich die Schönheit der Gesetze faszinierte und weniger die Apparate, mit denen sie der Natur abgetrotzt wurden. Nachdem ich am Institut für theoretische Physik der Uni keine Arbeit finden konnte, die mich begeisterte, erinnerte ich mich, dass ich beim Lernen für meine Prüfungen über einen seltenen radioaktiven Kernzerfall gelesen hatte, der Aufschluss geben könnte über die Masse des Neutrinos. Neutrinomassen, die im Standardmodell nicht auftraten, würden in GUT-Theorien vorhergesagt, und ihr Nachweis könnte damit Informationen liefern über die fundamentalsten Ideen der Natur. Das war ein Thema, das mich schon als Schüler fasziniert hatte. Also meldete ich mich auf einen Aushang, der Theoretiker zur Unterstützung eines solchen Experiments suchte, und machte mich an den Aufstieg zum Max-Planck-Institut für Kernphysik (MPIK), das seine Gründungsväter auf einem bewaldeten Berg außerhalb der Heidelberger Stadtgrenzen gebaut hatten, um die Angst der Stadtbevölkerung vor gefährlicher Kernforschung zu zerstreuen.

Nachtrag 1: Überlichtschnelle Neutrinos?

Wissenschaftler der CERN teilten am 23. September 2011 mit, dass sie auf überlichtschnelle Neutrinos gestoßen seien. Im Rahmen des „Opera“-Projekts (Oscillation Project with Emulsion-Tracking Apparatus) schickten die Forscher in Genf Neutrinos zu einem in Luftlinie gut 730 Kilometer entfernten unterirdischen Labor am Gran Sasso d’Italia. Licht würde für die Strecke 2,43 Millisekunden benötigen. Der Speziellen Relativitätstheorie zufolge gibt es nichts Schnelleres als Licht, weil die Masse eines Körpers proportional zur Geschwindigkeit zunimmt und bei Lichtgeschwindigkeit unendlich wäre. In 15 000 Fällen beobachteten die Physiker jedoch Neutrinos, die die Lichtgeschwindigkeit um 60 Nanosekunden übertrafen (Messgenauigkeit: 10 Nanosekunden). Die Lichtgeschwindigkeit beträgt konstant 299 792 458 Meter pro Sekunde; die Neutrinos scheinen aber 299 798 454 Meter pro Sekunde zurückgelegt zu haben. Gäbe es tatsächlich Elementarteilchen, die sich schneller als Licht bewegen, wären die Relativitätstheorie und das derzeitige Weltbild der Physik widerlegt. Deshalb misstrauen die CERN-Forscher ihren eigenen Ergebnissen und rufen Kollegen dazu auf, sie zu überprüfen. Allerdings sind jahrelange Vorbereitungen erforderlich, um das Experiment beispielsweise im Large Hadron Collider des Fermi National Accelerator Laboratory (Fermilab) bei Chicago mit ausreichender Präzision wiederholen zu können.

Heinrich Paes schildert in seinem im August 2011 veröffentlichten Buch „Die perfekte Welle. Mit Neutrinos an die Grenzen von Raum und Zeit oder Warum Teilchenphysik wie Surfen ist“, wie sich die beobachteten Messergebnisse im Einklang mit der Relativitätstheorie erklären ließen: Durch die Annahme, dass die Neutrinos nicht 730 Kilometer weit fliegen, sondern eine Abkürzung durch eine mehr als vierdimensionale Raumzeit nehmen.

Im Februar 2012 gab CERN bekannt, dass man auf zwei mögliche Fehlerquellen gestoßen sei: Eine lockere Steckerverbindung und/oder ein defekter Oszillator könnten die Geschwindigkeitsmessung verfälscht haben.

Nachtrag 2: Der Japaner Takaaki Kajita und der Kanadier Arthur McDonald erhielten 2015 den Physik-Nobelpreis für ihre Entdeckung, dass Neutrinos eine Masse besitzen.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2011 / 2012 / 2015
Textauszüge: © Piper Verlag

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Über Günter Grass als Mensch und sein Leben erfahren wir aus dem Buch "Günter Grass" von Heinrich Vormweg kaum etwas, denn der Literatur- und Theaterkritiker beschäftigt sich fast ausschließlich mit den Werken des Nobelpreisträgers.
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