Emmanuelle Pagano : Die Haarschublade

Die Haarschublade
Originalausgabe: Le tiroir à cheveux P.O. L. éditeur, Paris 2005 Die Haarschublade Übersetzung: Nathalie Mälzer-Semlinger Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2009 ISBN: 978-3-8031-3224-6, 144 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Mit 15 wird die Tochter eines Dorfgendarms zum ersten Mal schwanger. Sie verheimlicht es, bis die Schmerzen sie zwingen, sich ins Krankenhaus fahren zu lassen. Um den dringend erforderlichen Kaiserschnitt machen zu dürfen, benötigen die Ärzte die Einwilligung der nichts ahnenden Eltern. Widerstrebend nennt das Mädchen die Telefonnummer. Es ist bereits zu spät: Der Sauerstoffmangel hat das Gehirn des Kindes geschädigt ...
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Kritik

Obwohl es keine Handlung im eigentlichen Sinn gibt und Emmanuelle Pagano die Darstellung auch formal auf ein Minimum reduziert hat, ist "Die Haarschublade" ein subtil komponiertes, tief berührendes Buch.
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Schwangerschaft

Mit fünfzehn wurde die Tochter eines südfranzösischen Dorfgendarms zum ersten Mal schwanger. Sie konsultierte keinen Arzt, umwickelte ihren anschwellenden Bauch straff mit einem Baumwolltuch und trug weite Pullover. Weder ihre Eltern noch ihr Freund merkten etwas von der Schwangerschaft. Erst als der Vater des ungeborenen Kindes sie als „fette Kuh“ beschimpfte, verriet sie ihm, dass sie nicht einfach zugenommen hatte, sondern schwanger war.

Stundenlang blieben wir so sitzen, ohne zu wissen, was wir tun sollten. Mein Freund fragte ständig, wie ich mich bloß in eine solche Scheißsituation hineinmanövrieren konnte (wobei er zur Beruhigung ein Bier nach dem andern trank). Als die Nachrichten kamen, haute er sich wieder mit Kopfhörern vor den Fernseher. Ich begann ihn genauso rasch zu hassen, wie der Schmerz zunahm. Je mehr es wehtat, desto weniger ertrug ich, ihn so hingefläzt zu sehen. Als der Schmerz unhaltbar wurde, setzte auch die Angst ein, mit aller Macht. Eine Angst vor ich weiß nicht was. Was das Krankenhaus betraf, änderte ich jedenfalls meine Meinung. Ich rüttelte meinen Freund am Arm, der schlaff herabhing (er war leicht betrunken und bei den Nachrichten eingeschlafen).
Als ich aus dem Kleintransporter stieg, wünschte mein Freund mir nicht einmal Mut, sondern wiederholte bloß, wie kann man nur so blöd sein, echt, wie kann man nur so behämmert sein, und ich knallte auf dem Höhepunkt einer Wehe die Tür zu und schwor mir, ihn nie wieder zu sehen. (Seite 54)

In der Notaufnahme des Krankenhauses stellte sich heraus, dass der Fetus zu wenig Sauerstoff bekam. Doch um den dringend erforderlichen Kaiserschnitt machen zu dürfen, benötigten die Ärzte aufgrund der Minderjährigkeit der Schwangeren die Einwilligung der nichts ahnenden Eltern. Widerstrebend nannte sie die Telefonnummer. Es war bereits zu spät: Der Sauerstoffmangel hatte das Gehirn des Kindes geschädigt.

Neue Beziehung

Die junge Mutter brach die Schule ab und begann als Aushilfe im Friseursalon ihres Dorfes zu arbeiten, denn sie befühlte gern Haare. Um Pierre kümmerte sich dessen Großmutter.

Mehrere Monate lebte sie mit einem dreißig oder vierzig Jahre alten Mann in einem kleinen von Weinfeldern umgebenen Haus außerhalb des Dorfes. Er verdiente etwas Geld mit krummen Geschäften, handelte mit Cannabis und selbst gekeltertem Isabella-Wein. Nachdem Gendarme alles durchsucht hatten, verprügelte er seine Freundin und warf sie hinaus, obwohl sie ihm schwor, es habe sich nicht um die Brigade ihres Vaters gehandelt. Sie packte ihren Rucksack, und bevor sie das Haus verließ, schnitt sie ihm rasch noch eine Haarlocke ab.

Dann hauste sie mit ein paar jungen Männern zusammen in einem Versteck hinter der Winzergenossenschaft, in einer Art Kriechkeller unter den Gärbehältern aus Beton.

Ein bis zweimal die Woche überquerte ich die Straße, um mich zu waschen und ein wenig Geld zusammenzukratzen, bei der Gelegenheit bekam ich von meinem Vater stets ein paar gescheuert und lauschte Pierres Stille. Meine Kumpels waren auch nicht die Schlauesten.
Sie nahmen mich ungeduldig im Wald, am Fuße des Hügels. Wir sammelten Schlangenlauch und wilden Spargel, um Omelette zu machen, in das sie neue Kartoffeln, etwas Bohnenkraut, Petersilie und Muskat hineingaben (und Gras, mit verschworen-dämlicher Miene). Sie stießen mich in Heckenrosensträucher, die mir den Nacken den Rücken die Brüste den Bauch, und dann wieder den Rücken zerkratzten, wenn sie mich beim Schwanzwechsel umdrehten. Du bist dran. Sie hoben mein Haar hoch (es fiel mir genau auf die Schultern). Warfen es vor oder zurück, um meinen Hals in ihren festen Händen halten zu können. Die kindlichen wilden Rosen verkletteten sich in meinem Haar. Mein Kopf war voller Dornenzweige. Ich ließ es geschehen, aber die Heckenrosensträucher taten weh. Ich nahm ihre weichen Blüten in meine aufgeschürften Handflächen. Zerrieb sie. Manchmal halfen meine Kumpels mir auf. Dann hatte ich Angst, dass mir der leicht säuerliche Duft, den ich eben gestohlen hatte und sorgsam in der Faust umklammert hielt, wieder genommen werden könnte. (Seite 73)

Mit achtzehn war sie erneut schwanger.

Pierre und Titouan

Inzwischen ist Pierre fünf Jahre alt, aber er kann weder laufen noch sprechen, muss gefüttert und gewickelt werden. Titouan, ein lebhafter Junge, ist drei Jahre jünger. Die Erzählerin wohnt mit ihren beiden Söhnen in einer winzigen Dachwohnung im fünften Stock eines Mietshauses im „Zigeunerviertel“. Das Wohnzimmer dient zugleich als Schlafzimmer für sie alle drei, in der Küche steht eine Sitzbadewanne, und die Toilette befindet sich auf dem Balkon. Die Mutter der Erzählerin, die Pierre drei, vier Tage pro Woche zu sich nimmt, sucht schon seit längerer Zeit nach einem Heim für das behinderte Kind. Durch einen Todesfall wird nun ein Platz frei. Sie erklärt ihrer Tochter, das Heim sei mit dem Zug erreichbar, man könne Pierre also hin und wieder besuchen.

Im Friseursalon darf die Zwanzigjährige zum ersten Mal Haare schneiden und bei einer Kundin ausprobieren, wie Extensions angebracht werden. Erst seit kurzem befinden sich Extensions in der Haarschublade.

Die Großmutter hat den Rucksack für Pierre bereits gepackt, als ihre Tochter erklärt, sie habe es sich anders überlegt und werde selbst für Pierre sorgen. Die ältere Frau tobt vor Wut und droht, ihrer Tochter nicht länger die Arbeit abzunehmen.

Pierres und Titouans Mutter kündigt im Friseursalon. Dann geht sie zum Jugendamt, um Beihilfe zu beantragen, aber der Angestellte klärt sie darüber auf, dass sie in Bezug auf Pierre keine Entscheidungen treffen kann, denn das Kind steht seit der Geburt unter der Vormundschaft ihrer Eltern.

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Eine Handlung im eigentlichen Sinn gibt es in „Die Haarschublade“ von Emmanuelle Pagano nicht, vielmehr wird der Roman aus alltäglichen Verrichtungen und Erinnerungen der Ich-Erzählerin komponiert. Auch stilistisch reduziert die südfranzösische Schriftstellerin „Die Haarschublade“ auf ein Minimum. Das macht sie jedoch so subtil, dass durch die schnörkellose Darstellung, in der vieles nur angedeutet wird, eine dichte Atmosphäre entsteht, in der wir sehen, hören, riechen und fühlen. „Die Haarschublade“ ist ein tief berührendes Buch, in dem eine junge Frau ihre Mutterliebe für ein Kind entdeckt, das in einer anderen Welt lebt.

Sie soll auspacken, sage ich zu meiner Mutter. (Seite 26)

Meine Mutter sagt wurde auch Zeit. (Seite 32)

Einige gegen die konventionellen Regeln der Grammatik verstoßende Formulierungen sind gewöhnungsbedürftig, aber die rohe, lapidare Sprache passt zu dem Minimalismus dieser ganz besonderen Literatur, die zum Besten zählt, was ich gelesen habe.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2009
Textauszüge: © Verlag Klaus Wagenbach

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