Kristina Pfister : Die Kunst, einen Dinosaurier zu falten

Die Kunst, einen Dinosaurier zu falten
Die Kunst, einen Dinosaurier zu falten Originalausgabe: Tropen, Stuttgart 2017 ISBN: 978-3-608-50159-9, 256 Seiten ISBN: 978-3-608-10091-4 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Annika fängt nach dem Studium ein Praktikum in einer fremden Stadt an. Als sie die Einsamkeit dort nicht länger erträgt, kehrt sie zur Mutter zurück. Sie weiß nicht, was sie mit ihrem Leben anfangen soll; lässt sich orientierungs treiben. Marie-Louise, die sie kürzlich kennenlernte, macht im Gegensatz zu ihr spontan, worauf sie gerade Lust hat. Einen Sommer lang verbringen die beiden ungleichen Frauen viel Zeit miteinander, und Annika gewinnt durch das Beispiel der Freundin an Initiative, Selbstvertrauen und Zuversicht ...
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Kritik

In ihrem Debütroman "Die Kunst, einen Dinosaurier zu falten" vermittelt Kristina Pfister die Situation einer 24-Jährigen, die nach dem Studium erwachsen werden soll. Vieles wird nur angedeutet oder bleibt ungesagt. Umso intensiver ist die Atmosphäre.
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Annika stammt aus einer kleinen Gemeinde in der Provinz in Deutschland. Nach dem Studium der Kulturwissenschaften absolviert die 24-Jährige ein Praktikum in einer fremden Stadt. Dort ist sie allein, und Sex hatte sie zuletzt vor zwei Jahren. Weil sie sich einsam fühlt, ruft sie ihre Mutter an.

Sie sagte: „Es sind doch nur drei Monate.“
Es waren drei Monate hier, dann drei dort, dann drei woanders, vierzig Wochenstunden und vierhundert Euro, während meine ehemaligen Kommilitonen Fotos von neuen Freunden, die sie auf Auslandssemestern kennengelernt hatten, von ihren neuen Errungenschaften, die sie sich von ihrem ersten Gehalt gekauft hatten, Bilder von Reisen und Partys zum Studienabschluss ins Internet stellten. Soundso lebte jetzt in New York und XY war verlobt.
Das Leben der anderen war immer toll.“

Durchs Fenster ihres Zimmers in einem Wohnheim beobachtet sie eine andere junge Frau im Block gegenüber, die im Gegensatz zu ihr fortwährend Besuch hat und viele Partys feiert. Eines Abends bringt ihr die Fremde – sie heißt Marie-Louise – einen Karton mit einem Geschirrset. Sie werde am nächsten Morgen nach London fliegen, um sich dort einen Job zu suchen, erklärt sie und lädt Annika zu ihrer Abschiedsfeier ein.

Annika duscht zwar und zieht ein Kleid an, bleibt aber in ihrem Apartment. Durchs Fenster sieht sie Marie-Louises Gäste kommen. Mitten in der Nacht klingelt Marie-Louise bei ihr, weckt sie und nimmt sie mit in ihr Zimmer, wo sie nach der Party noch nicht aufgeräumt hat. Sie ist angetrunken und bringt ihren neuen Gast dazu, mit ihr Wodka aus der Flasche zu trinken, bis Annika sich erbricht.

Ihr Flug gehe in vier Stunden, sagt Marie-Louise. Sie klettert durchs Fenster aufs Flachdach hinauf, und Annika macht es ihr nach. Die beiden setzen sich, reden und rauchen. Unvermittelt steht Annika auf, tritt an die Dachkante und springt ins Dunkle. Mit den Knien schlägt sie zuerst auf, dann mit den Händen. Marie-Louise kreischt auf dem Dach, und Annika humpelt zurück in ihr Zimmer.

Als sie aufwacht, ist ihr linkes Knie dick geschwollen.

Sie bricht ihr Praktikum ab und kehrt zu ihrer Mutter zurück.

„Du siehst echt scheiße aus“, meint ihr jüngerer Bruder, als er sie über Skype sieht. Er hält sich in Australien auf. Als er noch ein Kind war, weigerte die Mutter sich, ihm die vom Arzt verordneten ADHS-Tabletten zu geben.

Sie hatte gesagt, so sei eben seine Persönlichkeit. Sie war immer stolz auf ihr vorlautes, zweites Kind.

Als sie in die Wechseljahre kam, ließ sie sich vom Vater der beiden Kinder scheiden und nahm sich vor, mehr für ihr spirituelles Ich zu tun. Ihr Ashram befand sich allerdings nicht in Indien, sondern in der ostenglischen Stadt Newark-on-Trent, und der blasse Guru, der nicht einmal ein Engländer indischer Abstammung war, hieß Rupert.

Freundinnen von Annikas Mutter kommen zu Besuch. Rosemaries Tochter Leonie war mit Annika in eine Klasse gegangen. Leonie studierte VWL. Sie mache gerade ein Praktikum in Shanghai, erzählt Rosie. „Ich weiß. Facebook“, antwortet Annika.

„Und wo zieht es dich danach hin? Hast du Pläne?“, fragte Rosie, als wüsste sie nicht längst, dass ich hier gestrandet war wie einer dieser fetten Blauwale, die überall in Neuseeland an den Stränden lagen und langsam verreckten, weil niemand sie zurück ins Wasser brachte und sie zu schwer waren, um selbst wieder hineinzukriechen.“

In der siebten Klasse – vor elf Jahren – waren Anja und Tessa ihre besten Freundinnen gewesen. Anja verbrachte einige Zeit in den USA, lebt aber inzwischen wieder hier, und zwar in einer WG.

Sie war eine von denen, die einen Lebenslauf ohne Lücken vorweisen konnten. Ich hatte nicht mal einen Nebenjob.

Sie schreibe ihre Abschlussarbeit und Bewerbungen, sagt Anja, als Annika Kontakt mit ihr aufnimmt. Anjas 26-jähriger Freund Ben gehört zu der Band „Boys with Bangs“ aus Berlin, die eines Abends hier in der Haifischbar auftritt. Anja geht mit Annika hin, und sie treffen dort auch Tessa.

„Ist Britta noch in Peru?“
„Nein“, sagte Anja, „sie arbeitet jetzt in so einem Zentrum für psychisch Kranke. Leitet dort eine Selbsthilfegruppe oder so.“

Als Annika im Krankenhaus ist, um Flüssigkeit aus ihrem Knie absaugen zu lassen, entdeckt sie am Kaffeeautomaten Marie-Louise. „Ich dachte, du bist in London“, sagt sie. Marie-Louise berichtet, dass sie nach zwei Wochen keine Lust mehr hatte, in London zu bleiben und mit ein paar Leuten, die sie dort kennengelernt hatte, nach Portugal reiste. Zurückgekehrt ist sie, weil ihre Urgroßmutter Lydia hier im Krankenhaus im Sterben liegt. Marie-Louise wohnt bei ihrer Großmutter, bei der sie auch aufwuchs. Ihre Mutter vermutet sie auf Bali. Ihr Vater lebt ebenfalls anderswo.

Weil Marie-Louise langweilig ist, schlägt sie vor, Medikamente zu klauen. Annika klagt, sie wisse nicht, ob sie alles nachholen könne, was sie verpasst habe. Das versteht Marie-Louise nicht. Man könne alles machen, behauptet sie und fügt hinzu, dass sie immer sofort tue, was ihr in den Sinn komme.

Anja besorgt Annika einen Aushilfsjob in der Bücherei. Aber sie langweilt sich beim Aufkleben von Etiketten, und als Marie-Louise anruft und ihr vorschlägt, eine Magenverstimmung vorzutäuschen und sich abzumelden, tut sie es.

Das Auto, mit dem Marie-Louise sie abholt, gehört der Großmutter. Sie besuchen eine Kirmes und fahren mit dem Kettenkarussell. Einen der jungen Männer, die auf dem Rummelplatz beschäftigt sind, kennt Annika aus der Kindheit. Jonas nimmt die beiden Frauen mit hinter die Kulissen der Geisterbahn. Dort verschwindet Marie-Louise für eine Weile mit ihm, während Annika eine Tür nach draußen sucht.

Sie besucht Marie-Louise im Haus der Großmutter. Das ehemalige Kinderzimmer ist voll mit Leuten. Annika trifft dort einen ihrer drei ehemaligen Freunde wieder. Sie hat Niklas seit zwei Jahren nicht gesehen. Er komme gerade aus Mexiko, erzählt er. Weil er es nicht schafft, ihren BH zu öffnen, zerrt er ihn ihr samt T-Shirt über den Kopf.

„Lass gut sein“, sagte ich.
Ich schob ihn von mir herunter und zupfte mein T-Shirt zurecht, steckte meine Brüste zurück in den BH und richtete mich auf.

Vor Niklas war Annika mit Freddie zusammen.

Freddie hatte mich damals in den Kopierraum gezerrt, ich hatte gesagt: „Ich will nicht“, aber er hatte mich so lange geküsst, bis ich mir einredete, es doch zu wollen. Tessa hatte später zu mir gesagt: „Ist doch cool. So was macht man eben, wenn man einundzwanzig ist.“

Annika und Marie-Louise kaufen sich ein Bahnticket und fahren einfach los, ohne Ziel. Sie langweilen sich, aber dann steigen drei Jungs in ihrem Alter ein, mit vollbepackten Rucksäcken und einem Kasten Bier. Marie-Louise schnorrt eines der Biere und beginnt auf diese Weise ein Gespräch mit Flo, Andi und Joe. Die drei machen jedes Jahr einen Ausflug zur Schrebergartenhütte von Andis Onkel. Marie-Louise und Annika begleiten sie.

Am Nachmittag bleiben die Männer im Schrebergarten, während die Frauen ein Stück weggehen. Beim Versuch, einen Bach zu überspringen, landet Marie-Louise im Wasser. Sie zieht sich nackt aus, und nachdem sie Annika dazu gebracht hat, es ihr nachzumachen, wollen sie ein abgeerntetes Kornfeld überqueren. Nackt durch ein Kornfeld zu rennen, steht schon länger auf einer Liste von Aktionen, die sie sich vorgenommen haben. Aber nach ein paar Metern geben sie auf, denn die Stoppel tun an den Fußsohlen weh.

Abends sitzen sie alle um den Grill herum und rauchen einen Joint. Während Andi das Feuer bewacht, führen seine beiden Freunde die Frauen in den Wald. Dort bleiben Joe und Annika schließlich zurück und treiben es miteinander.

Annikas Bruder teilt zwei Tage vor seiner erwarteten Rückkehr mit, dass er länger in Australien bleiben und sich einen Job suchen werde.

Statt an der Beerdigung ihrer Urgroßmutter teilzunehmen, fährt Marie-Louise mit Annika zu einem Baggersee. Dort faltet sie wie bereits im Krankenhaus vier Dinosaurier aus Papier. Die stellt sie später auf das frische Grab.

Annika versucht, nach einer YouTube-Anleitung Origami-Dinosaurier zu basteln, aber es gelingt ihr nicht.

Als die beiden Frauen erneut am Baggersee verabredet sind, wartet Annika vergeblich auf Marie-Louise, die auch telefonisch nicht zu erreichen ist und SMS nicht beantwortet. Annika fährt zum Haus von Marie-Louises Großmutter, aber es ist niemand da.

In dem Rucksack, den Annika schon beim ersten Mal am Baggersee dabei hatte, findet sie einen zerfledderten Dinosaurier aus Papier, auf dem Marie-Louise mit einem Fineliner eine Adresse in Frankreich geschrieben hat.

Annika fährt zum Baggersee zurück, schwimmt im eisigen Wasser zu einem Metallgerüst und klettert unter Missachtung des Verbotsschildes hinauf bis zur Plattform, von der Marie-Louise sprang, ohne sich vorher zu vergewissern, dass das Wasser tief genug war.

Ich schloss die Augen, stieß mich ab und sprang.

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In ihrem Debütroman „Die Kunst, einen Dinosaurier zu falten“ vermittelt Kristina Pfister die Situation einer 24-Jährigen, die nach dem Studium erwachsen werden soll. Weil Annika die Einsamkeit in einer fremden Stadt nicht länger erträgt, bricht sie ihr Praktikum ab und kehrt zur Mutter zurück. Anders als ehemalige Mitschülerinnen weiß sie nicht, was sie mit ihrem Leben anfangen soll: Gelangweilt, rat-, orientierungs- und antriebslos verbringt sie die Tage.

Zufällig trifft sie eine gleichaltrige Nachbarin aus dem Wohnheim in der Großstadt wieder. Marie-Louise ist das Gegenteil von Annika: Sie kennt zwar auch keine Karriereziele, ergreift aber ständig die Initiative und macht spontan, worauf sie gerade Lust hat. Dabei handelt es sich meistens um etwas Ver­bote­nes, Gefährliches oder Aben­teuer­liches. Einen Sommer lang verbringen die beiden ungleichen Frauen viel Zeit miteinander, aber dann verschwindet Marie-Louise unvermittelt, allerdings nicht, ohne auf einem Origami-Dinosaurer eine Adresse in Frankreich zu hinterlassen. Annika hat inzwischen durch das Beispiel der Freundin an Selbstvertrauen und Zuversicht gewonnen.

Kristina Pfister entwickelt die Coming-of-Age-Geschichte in zehn Kapiteln, die durch literarische Ellipsen getrennt sind. Auch sonst bleibt in „Die Kunst, einen Dinosaurier zu falten“ vieles ungesagt oder wird nur angedeutet. Kristina Pfister inszeniert das Geschehen aus der Perspektive der Protagonistin und vermeidet dabei Erläuterungen beispielsweise von Charakterzügen oder psychischen Entwicklungen. Umso intensiver ist die Atmosphäre, die sie in ihrem Roman erzeugt.

Formal bemerkenswert ist nicht zuletzt das Kapitel „Punkrock“: Während die Ich-Erzählerin Annika eine Party besucht, erinnert sie sich, wie sie mit Marie-Louise zusammen bei der „Heilerin“ Anne Schwaiger war, die bei ihr blockierte Energien zu spüren glaubte. Kristina Pfister wechselt in diesem Kapitel fortwährend zwischen den beiden Zeitebenen hin und her.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2017
Textauszüge: © J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger

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