Richard Powers : Das Echo der Erinnerung

Das Echo der Erinnerung
Originalausgabe: The Echo Maker Farrar, Strauss und Giroux, New York 2006 Das Echo der Erinnerung Übersetzung: Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié S. Fischer Verlag, Frankfurt/M 2006 ISBN: 978-3-10-059022-0, 533 Seiten Fischer-Taschenbuch, Frankfurt/M 2007 ISBN: 978-3-596-17457-7, 533 Seiten, 9.95 € (D)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Am 20. Februar 2002 kommt der Techniker Mark Schlüter mit seinem Pick-up von der Straße ab, überschlägt sich und wird in dem Wrack eingeklemmt. Im Krankenhaus fällt er ins Koma. Seine Schwester Karin eilt sofort zu ihm und gibt ihre Anstellung auf, um jeden Tag bei ihm am Bett sitzen zu können. Als er zu sich kommt und allmählich sein Sprechvermögen zurückgewinnt, hält er Karin für eine Doppelgängerin seiner Schwester ...
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Kritik

In "Das Echo der Erinnerung" sind Richard Powers eindrucksvolle Szenen gelungen, aber durch die Fülle von Themen und Stilmitteln wirkt der komplexe Roman überladen und überambitioniert.
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Zweimal im Jahr, im Frühling und im Herbst, versammeln sich bei Kearney am Platte River im Süden von Nebraska eine halbe Million Kraniche auf ihrem Weg zwischen Mexiko, Texas, Neumexiko im Süden und Alaska bzw. der kanadischen Provinz Saskatchewan im Norden.

Unmittelbar neben den Kranichen finden Rettungskräfte am 20. Februar 2002 nach einem anonymen Anruf einen auf dem Dach liegenden Pick-up und schneiden den eingeklemmten Fahrer heraus, den siebenundzwanzigjährigen Mark Schluter, der als Wartungs- und Reparaturtechniker bei einer Fleischwarenfabrik in Lexington arbeitet und in einem Fertighaus in Farview wohnt. Er wird ins Samariter-Hospital in Kearney gebracht. Einige Stunden nach der Einlieferung fällt er aufgrund eines Schädel-Hirn-Traumas ins Koma.

Als seine vier Jahre ältere Schwester Karin Schluter telefonisch verständigt wird, kommt sie sofort aus Sioux City, Colorado, wo sie als Kundenbetreuerin einer Firma für Computer und Heimelektronik beschäftigt ist. Auf dem Nachttisch ihres Bruders findet sie einen Zettel, auf den eine unbekannte Person geschrieben hat:

Ich bin Niemand aber / Heute Nacht auf der North Line Road / Führte GOTT mich zu dir / damit Du leben kannst / und jemand anderen zurückholen. (Seite 17)

Um jeden Tag bei ihrem Bruder am Bett sitzen zu können, zieht sie in dessen Haus und gibt ihre Anstellung auf.

An der Unglücksstelle findet die Polizei nicht nur die Schleuderspuren von Marks Wagen, sondern auch die eines Autos aus der entgegengesetzten Richtung, das offenbar über die Mittellinie auf die Gegenfahrbahn geraten war. Musste Mark ausweichen und verlor er dabei die Kontrolle über den Wagen? Anhand der Spuren geht die Polizei davon aus, dass auch noch ein drittes Fahrzeug an dem Unfall beteiligt gewesen sein könnte.

Nach zwei Wochen setzt Mark sich unvermittelt auf und stöhnt: Er ist aus dem Koma erwacht. Einige Zeit später beginnt er auch wieder zu sprechen, aber zunächst plappert er nur nach, was er hört (Echolalie) und wiederholt stundenlang bestimmte Wortfolgen (Perseveration). Bis er vernünftige Sätze formulieren kann, vergehen weitere Wochen. Dann klagt er, er komme sich vor, wie in einem Videospiel.

„Schlafe ich? Bin ich bewusstlos? Weck mich auf; das ist der Traum von jemand anderem.“ (Seite 75)

An den Unfall kann er sich aufgrund einer retrograden Amnesie nicht erinnern, aber ansonsten weiß er bald wieder alles und erkennt sowohl seine Freundin Bonnie Travis als auch seine Kumpel Tommy Rupp und Duane Cain, die mit ihm zusammen die „drei Muskeltiere“ bilden. Dass die Frau, die jeden Tag stundenlang bei ihm sitzt, seine Schwester ist, glaubt er allerdings nicht.

„Meine Schwester. Halten Sie sich etwa für meine Schwester?“ Sein Blick durchbohrte sie. „Wenn Sie sich für meine Schwester halten, sind Sie nicht ganz richtig im Kopf.“ (Seite 75)

„Ich weiß nicht, wo meine Schwester ist. Ich weiß nicht mal, wo ich bin. Dieses so genannte Krankenhaus könnte genauso gut ein Filmstudio sein, wo sie den Leuten vorgaukeln, dass sie ein normales Leben leben.“ (Seite 81)

Schließlich wird Mark in die Rehaklinik Dedham Glen verlegt. Dort begleitet ihn die Schwesternhelferin Barbara Gillespie eines Tages ins Freie und setzt sich mit ihm auf eine Bank am Parkplatz.

Ein Wagen kommt und hält, wie durch Zufall. Unverwechselbar, der bescheuerte Corolla mit der großen Delle in der Beifahrertür. Das Auto seiner Schwester. Seine Schwester, endlich. wie von den Toten auferstanden. Er springt auf, ruft etwas zur Begrüßung.
Dann sieht er sie durch die Windschutzscheibe und sackt wieder zusammen. Er kann nicht mehr. Es ist nicht Karin, sondern die alles andere als geheime Agentin, die an ihrer Stelle kommt. Ein Hund sitzt auf dem Beifahrersitz, presst sich an die Scheibe, will sie mit den Pfoten herunterdrücken. Ein Border Collie, genau wie seiner. Die klügsten Hunde, die es gibt. Es sieht Mark durch die Scheibe und versucht alles, um hinauszukommen. Barbara öffnet die Tür, und er kommt angestürmt. Bevor Mark sich regen kann, ist der hübsche Bursche auch schon da und umtanzt ihn. Auf den Hinterbeinen, Schnauze himmelwärts gereckt, kläfft und jault jämmerlich. So ist das bei Hunden. Es gibt keinen Menschen auf Erden, der die Begrüßung eines Hunds verdient.
Die falsche Karin steigt ebenfalls aus. Sie weint und lacht zugleich. Sieh dir das an, sagt sie. Die hat geglaubt, sie sieht dich nie wieder!
Die Hündin springt in die Höhe. Mark streckt die Arme aus, um den Angriff abzuwehren. Barbara stützt ihn. Schau doch nur, wer da ist, sagt Barbara. Da ist jemand, der konnte es überhaupt nicht erwarten, dich wiederzusehen. Sie beugt sich zu dem Hund hinunter und krault ihn. Ja, ja, ja, jetzt seid ihr zwei wieder zusammen. Der Hund kläfft Barbara an, die Art, wie Border Collies Zuneigung zeigen, dann stürzt er sich wieder auf Mark.
Lass die Leckerei. Geh weg von meinem Gesicht. Kann bitte jemand diesen Hund an die Leine nehmen? (Seite 105f)

Mark glaubt, die Doppelgängerin seiner Schwester sei mit einem Hund gekommen, der seinem eigenen zum Verwechseln ähnlich sieht.

Verzweifelt wendet Karin sich an Gerald Weber in New York, eine Koryphäe auf dem Gebiet der kognitiven Neurologie. Der fünfundfünfzigjährige Mediziner, der Bestseller mit anekdotischen Fallstudien über auseinandergebrochene Ichs schreibt, zum Beispiel „Das Land der Überraschung“, ist überzeugt, dass das Ich eine Fiktion sei, die uns das Bewusstsein aufgrund neurologischer Vorgänge vorspiegelt. In „Das Gewicht der Gedanken“ schrieb er:

„Das Ich definiert sich durch fünf wichtige Merkmale: Einheit, Willensfreiheit, Verkörperung, Kontinuität und die Fähigkeit zur Reflexion.“ (Seite 449)

Durch die Beschäftigung mit psychisch Kranken kam Gerald Weber zu der Überzeugung, dass nicht einmal die Empfindung des eigenen Körpers der Realität entsprechen müsse:

Selbst der unversehrte Körper war ein Phantom, ein Gerüst, errichtet von Neuronen. (Seite 308)

Er versucht, die physischen Grundlagen des menschlichen Geistes zu erforschen.

Wie entsteht der menschliche Geist? Wie konstruiert der Geist alles andre? Gibt es einen freien Willen? Was ist das Ich und was sind die neurologischen Grundlagen des Bewusstseins? (Seite 161)

Weber verabschiedet sich von seiner Frau Sylvie und fliegt nach Nebraska. In Dedham Glen berät er sich mit Chris Hayes, dem behandelnden Arzt des Patienten Mark Schluter. Dann erklärt er Karin, dass ihr Bruder offenbar am Capgras-Syndrom leide. Es sei Mark klar, dass Karin genauso aussieht, wie seine Schwester, doch weil er aufgrund einer Störung zwischen zwei Gehirnregionen – Amygdala und Inferotemporalkortex – nichts für sie empfinde, folgere er, dass sie nicht „echt“ sein könne.

„Capgras-Patienten glauben, dass Leute, die sie lieben, durch genauso aussehende Roboter, Doppelgänger oder Außerirdische ersetzt worden sind. Jeden anderen erkennen sie ohne weiteres. Das Gesicht der geliebten Person weckt Erinnerungen, aber keine Gefühle. Der Mangel an emotionaler Bestätigung wiegt schwerer als die rationale Bestätigung durch die Erinnerung. Oder man könnte es auch so sagen: Die Vernunft erfindet höchst aufwändige, unvernünftige Erklärungen dafür, dass bei den Gefühlen etwas nicht stimmt. Die Logik ist von den Emotionen abhängig.“ (Seite 129f)

Dabei geben primitivere Hirnregionen den Ton an.

„Die Erinnerung kann ihm noch so viele Beweise liefern, gegen dieses primitive Gefühl hat sie keine Chance.“ (Seite 207)

Vier Tage lang führt Gerald Weber Tests mit dem Patienten durch, dann verordnet er eine kognitive Verhaltenstherapie und kehrt nach New York zurück.

Als die Versicherung sich weigert, den Krankenhausaufenthalt länger zu bezahlen, zieht Karin aus Marks Haus aus, damit er wieder dort wohnen kann. Zuflucht findet sie bei einem Jugendfreund, dem Biologen und Veganer Daniel Riegel, der sich im Kranich-Zentrum für den Umweltschutz engagiert und Karin erklärt, die von Jahr zunehmende Zahl der am Platte River rastenden Kraniche sei alarmierend. Das Gedränge veranschauliche die Verkleinerung des Lebensraums der Vögel durch die Entnahme von immer mehr Wasser aus dem Fluss. Sorgen macht er sich vor allem, weil er gehört hat, dass ein Konsortium von Bauunternehmen dabei ist, ein großes Projekt am Flussufer vorzubereiten. – Karin zieht nicht nur zu Daniel, sondern sie beginnt auch, für das Kranich-Zentrum zu arbeiten.

Mark hält das Haus in Farview für ein Fake und kommt sich vor wie in der „Truman Show“. Aber er lässt es zu, dass Karin ihn umsorgt und für ihn einkauft. Dreimal in der Woche schaut Barbara Gillespie nach ihm. Die Verhaltenstherapie bei Dr. Chris Tower bricht er bereits nach den Vorgesprächen ab.

Plötzlich erinnert er sich, dass er mit jemandem redete, als es zu dem Unfall kam. Kurze Zeit später fährt er mit Tommy Rupp und Duane Cain im Auto und entdeckt ein Walkie Talkie. Da fällt ihm ein, dass er unmittelbar vor dem Unfall über ein Funkgerät mit den beiden Freunden sprach. Sie geben es zu und behaupten, es sei nur um den üblichen CB-Kram gegangen.

Um herauszufinden, wer den Zettel „Ich bin Niemand“ schrieb, wendet Mark sich an die Redaktion der Fernseh-Show „Crime Solvers“, die daraufhin über seinen Unfall berichten und den Zettel in Großaufnahme zeigen. Einen brauchbaren Hinweis erhält Mark jedoch nicht.

Als Karin den Eindruck hat, dass sein Zustand sich verschlechtert, schreibt sie Gerald Weber erneut eine E-Mail. Der Neurologe, der verunsichert ist, weil ihm in den Medien zunehmend vorgeworfen wird, dass er seine Patienten durch seine Veröffentlichungen ausbeutet, reist ein zweites Mal nach Nebraska und schlägt diesmal nach ein paar Untersuchungen eine Behandlung mit dem Neuroleptikum Olanzapin vor.

Karin gewöhnt sich allmählich an ihr Leben als Doppelgängerin.

So hatte sie ganz von vorn mit ihm [Mark] beginnen können, während zugleich die andere Karin in seiner Erinnerung einen immer helleren Heiligenschein bekam. (Seite 442)

Sie trifft sich inzwischen regelmäßig mit Robert Karsh, mit dem sie als Gymnasiastin eine Beziehung hatte. Inzwischen ist er verheiratet, hat eine Tochter und verdient als Immobilienhai eine Menge Geld. Weil er das krasse Gegenteil des idealistischen Veganers Daniel Riegel ist, schätzt Karin es, auch seine Meinung zu ihren Problemen einzuholen, aber das verschweigt sie Daniel.

Bei einer öffentlichen Anhörung über das geplante Bauvorhaben treffen Robert und Daniel aufeinander. Karin wundert sich, dass auch Barbara unter den Zuhörern sitzt. Das Konsortium beabsichtigt, am Flussufer ein Natur- und Erlebniszentrum für die Touristen zu errichten, die nach Kearney kommen, um die Kraniche zu fotografieren. Umweltschützer wie Daniel sprechen sich dagegen aus, aber die Bauunternehmer scheinen sich durchzusetzen.

Die Karshs dieser Welt siegen immer über die Riegels, bei jeder offenen Abstimmung. Die Karshs hatten Humor und Stil, sie verfügten über unbegrenzte Mittel und Raffinesse, und sie verstanden es, ihre Zuhörer zu beeinflussen und zu verführen … Die Riegels hingegen kannten nur Fakten und Vorwürfe. (Seite 408)

Mark wundert sich, dass seine angebliche Schwester mit Daniel zusammenlebt, denn er war bis zum dreizehnten Lebensjahr eng mit Daniel befreundet und hält ihn seit einem Vorfall von damals, der die Freundschaft beendete, für homosexuell. Nachdem er es Karin erzählt hat, spricht sie mit Daniel darüber, der daraufhin seinen früheren Freund anruft, ihm beteuert, dass es sich um ein Missverständnis gehandelt habe und sich mit ihm versöhnt. Mark meint:

„Nichts ist, wie es je war. War wahrscheinlich nicht mal so, als es noch war, wie es war.“ (Seite 461)

Inzwischen ist Mark überzeugt, dass er sich nur einbildet, noch zu leben.

„Ich bin tot. Ich bin auf dem Operationstisch gestorben, und keiner von den Ärzten hat es gemerkt.“ (Seite 467)

Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.

Ein Jahr nach Marks Unfall meldet sich ein Farmer aus Elm Creek, der einen Reifen aus dem Platte River fischte und aufgrund der Fernsehsendung „Crime Solvers“ einen Zusammenhang zwischen dem Reifen und dem Unfall vermutet. Bei einer forenischen Untersuchung stellt sich heraus, dass die Schleuderspur des Autos, das Mark entgegengekommen und über die Mittellinie geraten war, von diesem Reifen stammte. Als Besitzer wird Duane Cain ermittelt.

Als Karin das im Fernsehen hört, fährt sie aufgebracht zu Marks Kumpel. Endlich gesteht Duane, was am 20. Februar 2002 geschah: „Die drei Muskeltiere“ hatten sich zwei Walkie Talkies gekauft. Um die Reichweite auszuprobieren, fuhren sie mit zwei Autos herum, Mark in seinem Pick-up, Duane und Tommy in einem anderen Wagen. Über Funk redeten sie miteinander. Nachdem die Verbindung abgebrochen war, suchten sie Mark – und sahen plötzlich seinen Pick-up umgestürzt im Straßengraben liegen. Vor Schreck kamen sie selbst ins Schleudern und gerieten über die Mittelspur. Statt auszusteigen, rasten sie zum nächsten Telefon und alarmierten den Rettungsdienst. Von einem dritten Auto weiß Duane nichts.

Am nächsten Morgen wird Karin ins Krankenhaus gerufen: Mark hat versucht, sich mit einer Zwei-Wochen-Dosis Olanzapin das Leben zu nehmen. Er liegt erneut im Koma.

Drei Tage nach Marks Selbstmordversuch wird das Bauvorhaben am Platte River genehmigt. Daniel kann es nicht fassen und ist am Boden zerstört. Karin verrät ihm, was Robert Karsh ihr vertraulich erzählt hat: Bei dem Feriendorf handelt es sich nur um die erste Phase des Projekts; darüber hinaus will das Konsortium einen Zoo und ein Badeparadies errichten. Auf diese Weise erfährt Daniel, dass Karin ihn mit Robert betrog. In seiner Verärgerung nimmt er an, dass sie auch mit Barbara Gillespie unter einer Decke steckt, von der er inzwischen weiß, dass sie die Frau ist, die ihn vor vierzehn Monaten anrief, sich als Journalistin ausgab und über die Haltung der Umweltschützer zu dem Projekt des Baukonsortiums ausfragte. Er beendet die Affäre mit Karin, und sie kann nicht länger bei ihm wohnen.

Vorübergehend kommt sie bei Marks Freundin Bonnie Travis unter, die seit einiger Zeit als Fremdenführerin im Great Platte River Road Archway Monument beschäftigt ist.

Auf die Nachricht von Marks Selbstmordversuch hin reist Gerald Weber ein drittes Mal nach Kearney. Er will auch Barbara wiedersehen, denn er hat sich in sie verliebt.

Sie erzählt ihm, dass sie sieben Jahre lang als Nachrichtenredakteurin für Cable Nation News gearbeitet habe. Nach dem Terroranschlag vom 11. September 2001 fühlte sie sich plötzlich ausgebrannt (Burn-out-Syndrom). Ihr Chef schickte sie deshalb zu einem Arzt, der ihr Tabletten verschrieb, die sie zwar beruhigten, aber auch stumpf und nachlässig machten. Daraufhin wurde sie in den Boulevard-Bereich abgeschoben. Um eine Story über die Kraniche am Platte River zu machen, reiste sie nach Nebraska. Am 20. Februar 2002 hielt sie mit ihrem Auto am Straßenrand, und als sie im Rückspiegel sah, dass sich Scheinwerfer näherten, stieg sie aus und stellte sich in selbstmörderischer Absicht auf die Straße. Der Fahrer des Pick-ups wich ihr jedoch aus. Dabei verlor er die Kontrolle über den Wagen und geriet ins Schleudern. Im Krankenhaus sah sie ihn wieder, und Mark – der zu diesem Zeitpunkt noch nicht ins Koma gefallen war – erkannte sie. Weil er nicht sprechen konnte, schrieb er ihr auf einen Zettel:

Ich bin Niemand aber / Heute Nacht auf der North Line Road / Führte GOTT mich zu dir / damit Du leben kannst / und jemand anderen zurückholen. (Seite 17)

Dann verlor er das Bewusstsein, und Barbara warf den Zettel vor Schreck auf den Nachttisch.

Während Daniel einen Neubeginn in Alaska versucht, arbeitet Karin weiter in der Kranich-Station in Kearney. Mark erkennt schließlich Karin wieder als seine Schwester.

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Richard Powers erzählt in seinem komplexen Roman „Das Echo der Erinnerung“ vor allem von dem siebenundzwanzigjährigen Mechaniker Mark Schluter, der infolge eines Schädel-Hirn-Traumas am Capgras-Syndrom leidet und seine Schwester Karin für eine Doppelgängerin hält.

Ein Hauptmotiv meines Romans ist das so genannte „Capgras-Syndrom“, an dem eine Hauptfigur leidet, Mark, das Unfallopfer. Er kann in seiner Schwester nicht mehr seine Schwester erkennen: Du siehst aus wie meine Schwester, du redest wie meine Schwester, aber tatsächlich kannst du nicht meine Schwester sein, denn du fühlst dich nicht an wie meine Schwester. Dahinter steht die Frage, was der andere für uns ist, und diese Frage ist durchaus politisch […] Es geht uns mit diesem Land ein wenig so wie Mark mit seiner Schwester: Es sieht aus wie Amerika, es spricht wie Amerika, aber es fühlt sich nicht mehr an wie Amerika. (Richard Powers im Interview mit Thomas Steinfeld, Süddeutsche Zeitung, 2. Dezember 2006)

Zunächst schildert Richard Powers in „Das Echo der Erinnerung“ sehr präzise, detailliert und überzeugend den Krankheitsverlauf, aber im zweiten Teil des Buches werden die Beschreibungen oberflächlicher, und die Genesung Marks konstatiert Richard Powers eigentlich nur noch.

Am Beispiel des Capgras-Syndroms will er offenbar zeigen, dass eine verhältnismäßig geringfügige Störung im Gehirn ausreicht, um die Wahrnehmung eines Menschen massiv zu verändern. Das Ich und der freie Wille sind Fiktionen; tatsächlich wird das Bewusstsein von neurologischen Vorgängen hervorgerufen, und dabei scheinen primitivere Gehirnregionen über neuere zu dominieren.

Zugleich ist dieses Buch viel mehr als ein Roman. Es ist ein wissenschaftliches Werk über die Neurologie der Unfähigkeit, sich selbst als Ich, den Nächsten als Du und die Gesellschaft als Versammlung in sich selbst einheitlicher und einheitlich bleibender Individuen wahrzunehmen. Es ist eine exakte, überaus anschauliche Bestandsaufnahme des Segens und des Unglücks, die über den Menschen kamen, als er lernte, den Stoff zu erkennen, aus dem sein Selbst gemacht ist – und dieses Unglück ist ins Unermessliche gewachsen, seitdem er, in immer wieder überraschend hohem Maß, selbst entscheiden kann, was mit seinem Ich geschieht, auch in Gestalt von Operationen und Medikamenten. Daher ist das Buch auch ein philosophisches Werk über die Grundfrage des modernen Menschen: darüber, was ihn seelisch überhaupt zusammenhält. Und das alles geschieht, erstaunlich genug, ohne Verlust an Spannung und literarischer Kraft. (Thomas Steinfeld, Süddeutsche Zeitung, 4. Oktober 2006)

Als Experten lässt Richard Powers einen Neurologen und Bestseller-Autor namens Dr. Gerald Weber in „Das Echo der Erinnerung“ auftreten, in dem wir unschwer Oliver Sacks erkennen. An mehreren Stellen skizziert er Fälle, die er entweder in Sacks‘ Büchern las oder den anekdotischen Fallstudien des Neurophysiologen nachempfand. Einen Kontrapunkt zu der trügerischen Beständigkeit des Bewusstseins und dem unzuverlässigen „Echo der Erinnerung“ bildet der Zug der Kraniche, den Richard Powers in stimmungsvollen Miniaturen darstellt: Die Vogelart erinnert sich offenbar über Jahrtausende hinweg und unabhängig von Individuen an die genaue Flugroute.

Damit nicht genug: Richard Powers baut in den Roman „Das Echo der Erinnerung“ auch noch einen Konflikt zwischen profitgierigen Bauunternehmern und idealistischen Umweltschützern ein, er thematisiert Vorurteile gegen Homosexualität und schickt den Neurologen Gerald Weber in eine Midlife Crisis. Die Handlung spielt in der Zeit zwischen den Terroranschlägen vom 11. September 2001 und dem Beginn des Irakkriegs am 20. März 2003. Auch die politischen Ereignisse werden in „Das Echo der Erinnerung“ beleuchtet. Außerdem steht die Frage im Raum, wodurch es zu dem schweren Verkehrsunfall kam, und das gibt Richard Powers die Möglichkeit, den Wissenschaftsroman mit Versatzstücken von Kriminalromanen anzureichern.

„Das Echo der Erinnerung“ ist in fünf Teile gegliedert, deren Überschriften mit dem Text auf einem geheimnisvollen Zettel übereinstimmt: (1) Ich bin Niemand, (2) Aber heute Nacht auf der North Line Road, (3) Führte GOTT mich zu dir, (4) Damit Du leben kannst, (5) Und jemand anderen zurückholen.

Den größten Teil der Handlung schildert Richard Powers aus Karins Perspektive, aber es gibt auch Passagen, in denen wir uns in Gerald Weber oder in Mark Schluter versetzen. Dabei sind die Gedanken des Kranken am wenigsten nachvollziehbar. Obwohl das Buch 533 Seiten dick ist, sind die Charaktere in „Das Echo der Erinnerung“ alles andere als differenziert und facettenreich.

Richard Powers sind eindrucksvolle Szenen gelungen, aber durch die Fülle von Themen und Stilmitteln wirkt „Das Echo der Erinnerung“ überladen und überambitioniert.

Den Roman „Das Echo der Erinnerung“ von Richard Powers gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Ulrich Matthes (Regie: Ralph Schäfer, Kulturradio RBB, Universal Family Entertainment, Berlin 2006, 6 CDs, ISBN: 978-3-8291-1760-9, 29.90 €) und als Hörspiel (Bearbeitung und Regie: Fabian von Freier, Sprecher: Annett Renneberg, Florian Lukas, Gerd Böckmann u.a., Der Hörverlag, München 2009, 2 CDs, ISBN: 978-3-867174862).

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2009
Textauszüge: © S. Fischer Verlag

Richard Powers: Drei Bauern auf dem Weg zum Tanz
Richard Powers: Der Klang der Zeit

Valery Tscheplanowa - Das Pferd im Brunnen
In ihrem autofiktionalen Generationenroman "Das Pferd im Brunnen" entwickelt Valery Tscheplanowa keine stringente chronologische Geschichte, sondern reiht Miniaturen aneinander. Und sie verzichtet darauf, die Zusammenhänge deutlich einzuordnen. Ihr geht es mehr um Impressionen, Atmosphäre und Poesie.
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