Alois Prinz : Lieber wütend als traurig

Lieber wütend als traurig
Lieber wütend als traurig. Die Lebensgeschichte der Ulrike Marie Meinhof Originalausgabe: Beltz und Gelberg, Weinheim / Basel / Berlin 2003 ISBN 3-407-80905-0, 328 Seiten Taschenbuch: Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 2005
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Die gläubige Christin und engagierte Journalistin Ulrike Meinhof prangerte soziale Ungerechtigkeiten an, bis sie daran verzweifelte, wie wenig sie verändern konnte und in der ihr eigenen Radikalität mit Sprengstoffanschlägen mehr zu erreichen hoffte. "Es ist überhaupt besser, wütend zu werden, als traurig zu sein", schrieb sie ihren Töchtern aus dem Gefängnis.
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Kritik

Alois Prinz setzt keine Vorkenntnisse voraus, sondern informiert auch über die relevanten politischen bzw. zeitgeschichtlichen Hintergründe. Dabei referiert er nicht, sondern konkretisiert und veranschaulicht. Obwohl sich das Verlagsprogramm an Jugendliche richtet, ist das Buch auch für Erwachsene empfehlenswert.
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Ulrike war sechs Jahre alt, als ihr Vater, der Kunsthistoriker Werner Meinhof, 1940 einem Krebsleiden erlag. Ihre Mutter Ingeborg, die nach dem Krieg als Lehrerin gearbeitet hatte, starb 1949 ebenfalls an Krebs. Von da an kümmerte sich Renate Riemeck, eine enge Freundin der Verstorbenen, um die Waise.

Die kontakt- und diskutierfreudige Gymnasiastin war sowohl bei den Lehrern als auch unter den Mitschülerinnen beliebt. Niemand zweifelte an der Aufrichtigkeit des ernsten und integren Mädchens. Ulrike hielt es für wichtig, Werte zu haben und diese glaubhaft zu vertreten. Eine Lehrerin sorgte sich, weil sie von Mitleid außerordentlich bewegt wurde, und einer Freundin schrieb Ulrike ins Poesiealbum: „Wenn du recht schwer betrübt bist, dass du meinst, kein Mensch auf der Welt könne dich trösten, so tue jemand etwas Gutes, und gleich wird’s besser.“ Ein weiches Herz und ein scharfer Verstand kamen bei ihr zusammen. Sie betete vor dem Essen, wollte aber nicht, dass die Menschen aufs Jenseits vertröstet wurden und deshalb die Missstände auf der Welt hinnahmen: „Wir glauben, dass der Mensch in jeder Situation, unter jedem System, in jedem Staat die Aufgabe hat, Mensch zu sein und seinen Mitmenschen zur Verwirklichung des Menschseins zu helfen“, schrieb sie als Studentin. Ulrike nahm Violinunterricht und gab ihr mit Nachhilfestunden verdientes Geld für Bücher aus. Sie las Hölderlin, Marcel Proust, Thomas Mann, Franz Kafka, Hermann Hesse, Ernst Jünger, Jean-Paul Sartre und Romano Guardini.

Entsetzt reagierte sie auf das atomare Wettrüsten und Adenauers Beteuerung, bei den Kernwaffen handele es sich bloß um „eine Weiterentwicklung der Artillerie“.

Im Alter von 27 Jahren heiratete Ulrike Meinhof den Chef der linksradikalen Studentenzeitschrift „konkret“, Klaus Rainer Röhl, der das Leben im Gegensatz zu der kompromisslosen Journalistin von der lockeren Seite nahm und seinen Freunden riet: „Genießt den Kapitalismus, der Sozialismus wird hart!“

1962 diagnostizierten die Ärzte bei Ulrike Meinhof einen möglichen Gehirntumor. Da beide Eltern Krebs gehabt hatten, musste sie befürchten, erblich vorbelastet sein. Weil sie schwanger war, durfte sie keine starken Kopfschmerzmedikamente nehmen und musste warten, bis die Zwillinge mit einem Kaiserschnitt vorzeitig auf die Welt gebracht werden konnten. Erst dann wagten es die Ärzte, ihren Schädel zu öffnen und nachzusehen. Glücklicherweise handelte es sich nicht um eine bösartige, sondern um eine harmlose Geschwulst.

Die „Spiegel“-Affäre im Oktober 1962 und der Vietnamkrieg machten Ulrike Meinhof wütend, aber sie schrieb in „konkret“: „Schießenderweise verändert man nicht die Welt, man zerstört sie.“

In erfolgreichen Kolumnen und in Hörfunkfeatures, die zur besten Sendezeit im Hessischen Rundfunk ausgestrahlt wurden, setzte sich die Journalistin gegen soziale Ungerechtigkeiten ein und protestierte gegen den Vietnamkrieg. Getrieben wurde sie von der Sorge, ihre Generation könne ebenso wie die ihrer Eltern versagen und nicht laut genug aufbegehren gegen Missstände.

Wenn die prominente Journalistin auf Parties über Fürsorgezöglinge, Sonderschüler, Hilfs- und Fließbandarbeiterinnen berichtete, hörten ihr die anderen Gäste aufmerksam zu, aber sobald sie glaubten, ausreichend Verständnis und Betroffenheit gezeigt zu haben, füllten sie ihre Teller am Büffet nach.

Nach dem Scheitern ihrer Ehe zog Ulrike Meinhof mit ihren sechs Jahre alten Zwillingen Regine und Bettina 1968 von Hamburg nach Berlin. Dort schloss sie sich der APO an, die sich gebildet hatte, als die Opposition im Bundestag durch die Große Koalition im November 1966 zur Farce geworden war. Die Bewegung radikalisierte sich durch den Tod des Studenten Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 und den Anschlag auf den Studentenführer Rudi Dutschke am 11. April 1968. Auch Ulrike Meinhof rief nun zu Gewalt auf: „Wirft man einen Stein, so ist das eine strafbare Handlung. Werden tausend Steine geworfen, ist das eine politische Aktion. Zündet man ein Auto an, ist das eine strafbare Handlung, werden hunderte Autos angezündet, ist das eine politische Aktion.“

Im Juni 1968 traten die Notstandsgesetz in Kraft. Die Kritiker hatten es nicht verhindern können. Ulrike Meinhof bezweifelte immer stärker, ob sie mit ihrer journalistischen Arbeit etwas verändern konnte. Es habe keinen Sinn, den falschen Leuten die richtigen Sachen zu erklären, meinte sie.

Im Rahmen ihrer Recherchen über den Brandanschlag auf zwei Frankfurter Kaufhäuser am 2. April 1968 lernte sie die Täter Andreas Baader und Gudrun Ensslin kennen. Ulrike Meinhof lehnte Brandstiftungen ab, weil die Menschen dadurch nicht über die Missstände aufgeklärt wurden, aber sie pflichtete dem Kommunarden Fritz Teufel bei, der gesagt hatte, es sei immer noch besser, ein Warenhaus anzuzünden, als ein Warenhaus zu betreiben, denn das Gesetz, das durch Brandstiftung gebrochen werde, schütze nicht Menschen, sondern das Eigentum von Leuten, die damit verantwortungslos umgingen.

Die Täter wurden nach ihrer Verurteilung bis zur Entscheidung über ihren Revisionsantrag aus der Haft entlassen. Sie tauchten unter, aber Andreas Baader ließ sich am 3. April 1970 in eine als Verkehrskontrolle getarnte Falle der Polizei locken.

Gudrun Ensslin verstärkte Ulrike Meinhofs Selbstzweifel und redete ihr ein, nur mit Taten könne sie etwas verändern. Deshalb solle sie mithelfen, Baader aus der Haft zu befreien.

Nach dieser Aktion am 14. Mai 1970 flog die Journalistin mit Andreas Baader, Gudrun Ensslin und anderen zur Guerilla-Ausbildung nach Jordanien. Wie Gudrun Ensslin, die sich von ihrem kleinen Sohn getrennt hatte, wollte Ulrike Meinhof einen Schlussstrich unter ihre bürgerliche Vergangenheit setzen und ihre beiden Töchter unter neuen Namen in einem Waisenlager der „El Fatah“ aufwachsen lassen. (Der Journalist Stefan Aust bewahrte sie im letzten Augenblick vor diesem Schicksal.)

Um das für den Aufbau einer Untergrundorganisation erforderliche Geld zu beschaffen, überfielen Mitglieder der Bande am 29. September 1970 innerhalb von zehn Minuten drei Banken in Berlin. Ulrike Meinhof, die sich dabei von einem Bankangestellten mit 8 000 Mark abspeisen ließ und in der Aufregung 100 000 Mark übersah, formulierte in mehreren Schriften die politischen Ziele der „RAF“. Es komme darauf an, dem Staat die verlogene Fassade herunterzureißen, meinte sie. Je heftiger man ihn angreife, desto brutaler schlage er zurück — und lasse damit seine wahre Natur erkennen. Sie glaubte, es gehe darum, als Teil einer globalen Revolutionsarmee einen Guerillakrieg gegen Imperialismus und Kapitalismus zu führen. Im Mai 1972 zündete die „Baader-Meinhof-Bande“ Sprengsätze in Frankfurt am Main, Augsburg, München, Karlsruhe, Hamburg und Heidelberg.

Im Monat darauf verhaftete die Polizei die führenden Köpfe der RAF. Ulrike Meinhof wurde monatelang allein in einem toten Trakt einer Kölner Justizvollzugsanstalt eingesperrt. In Stuttgart-Stammheim begann am 21. Mai 1975 der Prozess.

Als der diensthabende Beamte am 9. Mai 1976 morgens die Zellentür Ulrike Meinhofs in Stuttgart-Stammheim aufschloss, hing ihre Leiche am Fenstergitter. Nach der hastig durchgeführten Obduktion hieß es, die 41-Jährige habe sich selbst erdrosselt.

Am Grab bezeichnete Helmut Gollwitzer Ulrike Meinhof als einen „Menschen mit einem schweren Leben, der sich das Leben dadurch schwergemacht hat, dass er das Elend anderer Menschen sich so nahegehen ließ.“

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Die gläubige Christin und engagierte Journalistin Ulrike Meinhof prangerte soziale Ungerechtigkeiten an, bis sie daran verzweifelte, wie wenig sie verändern konnte und in der ihr eigenen Radikalität mit Sprengstoffanschlägen mehr zu erreichen hoffte. „Es ist überhaupt besser, wütend zu werden, als traurig zu sein“, schrieb sie ihren Töchtern aus dem Gefängnis. Dieses Zitat nahm Alois Prinz leicht abgewandelt in den Titel seines Buches auf.

Er schildert zunächst auf 14 Seiten, wie er mit dem Zug nach Weilburg fährt und sich bei leichtem Schneetreiben in der Stadt umsieht, in der Ulrike Meinhof von 1952 bis 1955 das Gymnasium besuchte. Im 8-seitigen Epilog sehen wir ihn dann auf dem Friedhof der Dreifaltigkeitskirche im Berliner Stadtteil Alt-Mariendorf an ihrem Grab. Damit veranschaulicht der Autor, wie er versucht, sich Ulrike Meinhof zu nähern.

Was wollte ich hier finden? Eigentlich doch eine Antwort auf die Frage, wie aus einem mehr oder weniger normalen Mädchen später eine gesuchte Terroristin werden konnte, die Banken überfiel und es vertretbar fand, „Bullenschweine“ abzuknallen.

Ich wäre ihr gern noch näher gekommen, hätte sie gern besser verstanden. Aber irgendwann hatte ich das Gefühl, als ob sie immer undeutlicher wird. Ich dachte, es liegt daran, dass ich zu wenig über sie weiß und mehr Material, mehr Informationen zusammentragen muss. Also sammelte ich noch mehr Material, las noch mehr, wechselte noch mehr Briefe. Aber dann merkte ich, dass das alles keine Frage der lückenlosen Recherche ist. Noch so viele Bücher, Artikel, Briefe, Gespräche hätten mir nicht weitergeholfen. Es war einfach so, dass sie allmählich verschwunden ist. Und zurück blieb ein Netz von Gedanken, so eng und fest, dass ich sie dahinter kaum mehr sehen konnte.

Auf den ersten 200 Seiten des Buches erzählt Alois Prinz von Ulrike Meinhofs Eltern, ihrer Kindheit und Jugend, der Studentenzeit, ihrer journalistischen Arbeit und wie sie mit ihren beiden Töchtern allein nach Berlin zog. Halb so viel Raum widmet er der Frau, die nach der Befreiung von Andreas Baader aus der Haft in den Untergrund ging und zur Ideologin der RAF wurde. Prinz folgt ihren Lebensspuren und überlässt es den Leserinnen und Lesern, sich darüber ein eigenes Urteil zu bilden. Auch die Frage, ob Ulrike Meinhof sich erhängte oder ermordet wurde, lässt er offen.

Abgesehen von ein paar Grammatikfehlern, liest sich „Lieber wütend als traurig“ sehr leicht. Alois Prinz setzt keine Vorkenntnisse voraus, sondern informiert auch über die relevanten politischen bzw. zeitgeschichtlichen Hintergründe. Dabei referiert er nicht, sondern konkretisiert und veranschaulicht beispielsweise einige Grundzüge des Dritten Reiches an den Erlebnissen der Schriftsteller Hermann Lenz und Ricarda Huch. Auf die Spaltung der Welt in Machtblöcke, den Kalten Krieg, die besondere Situation im geteilten Berlin geht er ebenso ein wie auf die Politik, gegen die sich die APO richtete.

Als Nachschlagewerk eignet sich das Buch weniger, weil es kein Register enthält.

Das Programm von Beltz und Gelberg ist in erster Linie für Jugendliche gedacht, aber das fadengebundene Buch von Alois Prinz ist auch für Erwachsene eine empfehlenswerte Lektüre.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2003
Textauszüge: © Beltz Verlag

Ulrike Meinhof (Kurzbiografie)

„Ulrike Meinhof (1934 – 1976). Moral und Terror“ lautet der Titel eines Kapitels in meinem Buch „EigenSinnige Frauen. Zehn Porträts“. Es handelt sich um ein ausführliches Porträt Ulrike Meinhofs. (Verlag F. Pustet, Regensburg, und Piper Verlag, München)

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