E. Annie Proulx : Schiffsmeldungen

Schiffsmeldungen
Originalausgabe: The Shipping News, New York 1993 Schiffsmeldungen Übersetzung: Michael Hofmann Paul List Verlag 1995
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der Roman "Schiffsmeldungen" handelt von einem 36-Jährigen, der in den USA von klein auf versagt hat, aber an der unwirtlichen Küste Neufundlands einen Neuanfang wagt, sich dort an die See, die Extreme des Wetters und die spröden Menschen gewöhnt und dabei zu sich selbst findet.
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Kritik

E. Annie Proulx erzählt die Geschichte langsam und unspektakulär in einer kargen Sprache, die wohl zur Schroffheit der beschriebenen Landschaft passt, aber doch sehr gewöhnungsbedürftig ist: "Schiffsmeldungen".
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„Im folgenden ein Bericht über einige Jahre im Leben von Quoyle, geboren in Brooklyn, aufgewachsen in einem Sammelsurium öder Städte im Norden des Staates New York.“ Mit diesem Satz beginnt der Roman. Quoyle ist ein Verlierertyp. Schon mit 16 war er „unter einem Gehäuse aus Fleisch begraben“. Er „lernte seine Gefühle von seinem Leben zu trennen, rechnete auf nichts“. Die Vorfahren stammten aus Neufundland; sein Vater arbeitete sich in den USA zum Einkaufsleiter einer Supermarktkette hoch. Nach dem Abbruch des Studiums verdiente Quoyle etwas Geld als Automatenauffüller, Verkäufer in einem Supermarkt, Taxifahrer und von Zeit zu Zeit als drittklassiger Reporter beim Lokalblatt „Mockingburg Record“.

Bei einer Versammlung, über die er berichten soll, lernt er die junge, schlanke Petal Bear kennen. Sie zwinkert ihm zu.

„Was denken Sie?“ sagte sie. Sie redete schnell. Sie sagte, was sie immer sagte. „Sie wollen mich heiraten, was? Denken Sie nicht, dass Sie mich heiraten wollen?“ Wartete auf den Witz. Beim Sprechen veränderte sie sich auf provozierende Weise, wirkte plötzlich wie in Erotik getaucht, wie ein Taucher, der aus einem Becken hochkommt und, den Bruchteil eines Augenblicks von einer heilen Wasserschicht überzogen, wie Chrom glänzt. „Ja“, erwiderte er und meinte es. Sie hielt es für Schlagfertigkeit. Sie lachte, grub ihre Finger mit den scharfen Nägeln in seine. Starrte ihm fest in die Augen wie ein Optiker, der nach einem Schwachpunkt sucht. Eine Frau verzog das Gesicht, als sie die beiden sah. „Verschwinden wir von hier“, sagte sie. „Gehen wir was trinken. Es ist jetzt sieben Uhr fünfundzwanzig. Bis zehn habe ich Sie gevögelt, was halten Sie davon?“

Die beiden heiraten tatsächlich. „Ein Monat feuriger Glückseligkeit. Danach sechs verkorkste Jahre Leiden.“ Petal hasst die kriecherische Unentschlossenheit ihres Mannes. „Es tat ihr Leid, dass er sie so verzweifelt liebte, aber das war’s.“ Selbst nach der Geburt der beiden Töchter Bunny und Sunshine bleibt sie tagelang mit wechselnden Liebhabern weg und überlässt die Kinder einem Babysitter.

Quoyles einziger Freund, sein Kollege bei der Zeitung, Partridge, zieht mit seiner zweiten Frau Mercalia nach Kalifornien. Mercalia hat ihre Doktorarbeit abgebrochen und dort einen Job als Truck-Fahrerin bekommen.

Dann diagnostizieren die Ärzte bei Quoyles Vater Leberkrebs und einen Monat später bei seiner Mutter einen Gehirntumor. Quoyles Eltern horten Beruhigungsmittel, bis die Menge ausreicht und sie sich das Leben nehmen können.

Petal brennt mit einem Immobilienmakler und den inzwischen sechs bzw. viereinhalb Jahre alten Mädchen durch, beabsichtigt Bunny und Sunshine an einen Pornofilmer zu verkaufen. Sie sind zum Glück nicht im Auto, als Petal und ihr Geliebter tödlich verunglücken.

So bekommt Quoyle seine beiden Töchter wieder zurück. Eine 64 Jahre alte Tante, Agnis Hamm, die Schwester seines Vater Guy, kümmert sich um ihn und die Kinder. Sie überredet den 36-Jährigen, mit ihr nach Neufundland zu ziehen und dort mit den 50 000 Dollar von Petals Unfallversicherung ein neues Leben anzufangen. Quoyle ruft Patridge in Kalifornien an, und der verschafft ihm durch seine Beziehungen einen Job bei der neufundländischen Zeitung „Gammy Bird“. Die Rubrik „Schiffsmeldungen“ soll er dort übernehmen. Gerade er, der sich vor der See fürchtet und nicht einmal schwimmen kann! Einen Monat später fahren sie nach Norden: Agnis Hamm, Quoyle, Bunny, Sunshine und Warren, die alte Hündin der Tante, die nach ihrer 1979 verstorbenen Lebensgefährtin benannt wurde.

In Quoyle’s Point an der neufundländischen Küste steht das Haus, in dem die Tante geboren wurde. Sie war 15, als ihre Familie von dort wegzog, 17, als sie in die Staaten kam. Das Haus steht seit 44 Jahren leer. Jetzt lässt Agnis Hamm es wieder herrichten. Die Urne mit der Asche ihres Bruders Guy leert sie in das Plumpsklo, bevor sie es einweiht.

Mit der Ausstattung ihrer Jachtpolsterei, die ihr nachgeschickt wird, eröffnet sie im Nachbarort einen Betrieb.

Der „Gammy Bird“ berichtet vor allem über Autounfälle, Sexualstraftaten sowie ein- und auslaufende Schiffe. Besitzer der Zeitung ist Jack Buggit. Viele seine Vorfahren ertranken; auch sein ältester Sohn Jesson kam bei einem Schiffsunglück ums Leben. Seither versucht er Dennis, seinen zweiten Sohn, vom Wasser fernzuhalten. Er selbst fährt jedoch immer wieder tagelang hinaus, um zu fischen oder Hummer zu fangen.

Das zerstrittene Ehepaar Melville kommt eigens nach Neufundland, um sich von Agnis Hamm und ihren Mitarbeiterinnen die Polster auf ihrer Jacht erneuern zu lassen. Eines Nachts sind sie fort. Agnis Hamm bekommt ihr Geld einige Zeit später per Post. Den bereits stinkenden Kopf des Mannes findet Quoyle in einem Koffer, und ein paar Tage danach entdeckt er den restlichen Körper im Wasser. Als er so rasch wie möglich jemand holen will, um den Leichnam zu bergen, kentert er mit seinem Boot, wird aber von Jack rechtzeitig aus dem eiskalten Wasser gezogen. Schließlich heißt es in den Nachrichten, dass Frau Melville mit einem 30 Jahre jüngeren Schiffssteward auf Hawaii verhaftet worden ist.

Allmählich erfährt Quoyle, was die Leute von seinen Vorfahren erzählen. Die Quoyles kamen Ende des 19. Jahrhunderts. Ihr Element war die See. Wilde Männer waren darunter, Schwachköpfe und Mörder, die Schiffsbrüchige ausraubten. Einmal haben Quoyles angeblich einen Mann mit seinen Ohren an einen Baum genagelt und ihm die Nase abgeschnitten, um Fliegen und Mücken anzulocken. 50 Männer zogen das Haus, in dem später Agnis Hamm geboren wurde, über die zugefrorene Bucht und banden es mit mehreren Trossen auf einem Felsplateau fest. Einer von ihnen lebt noch: Nolan Quoyle, ein Sonderling, von dem es heißt, er habe noch mit seiner Frau geschlafen, als sie schon tot war. Man berichtet Quoyle auch, dass seine Tante als 12-Jährige von ihrem Bruder — seinem Vater — vergewaltigt wurde.

Vor dem nächsten Wintereinbruch zieht Agnis Hamm mit einer Mitarbeiterin nach St. John’s, wo sie einen Großauftrag erhalten hat: die Restaurierung der durch einen Brand zerstörten Polster auf dem Frachter „Rome“. Quoyle bleibt mit seinen beiden Töchtern allein zurück.

Als Tert Card, der Chefredakteur des „Gammy Bird“ ebenfalls nach St. John’s zieht, wird Quoyle dessen Nachfolger. Das heißt, er kümmert sich um die Zusammenstellung der Zeitung, gibt den Reportern die Themen vor, nimmt Telefonanrufe entgegen, aquiriert Anzeigenaufträge, begleicht Rechnungen und bringt die Vorlagen zur Druckerei.

Eines Tages sagt sein Kollege Nutbeem zu ihm: „Du bist zum Einheimischen geworden.“

Quoyle befreundet sich mit Wavey Prowse. Die Witwe geht auf die 40 zu. Jeden Tag bringt sie ihren Sohn Herry, der am Down-Syndrom erkrankt ist, zur Sonderschule. Ihr Mann Herold hinterließ überall an der Küste uneheliche Kinder, als er am 29. Januar 1981 beim Kentern einer Bohrinsel ums Leben kam. Im Lauf der Zeit wird aus der Beziehung eine stille Liebe, obwohl Quoyle immer noch an Petal denken muss, mit der er „sein ganzes Liebesvermögen in einem raschen Auflodern aufgezehrt“ hat.

Von Waveys Onkel Alvin Yark lässt sich Quoyle ein neues Boot bauen.

In den Nachrichten kommt die Meldung, dass ein Amokläufer in das Büro des „Mockingburg Record“ eindrang und wild um sich schoss. Nur eine Sekretärin, die gerade unter dem Schreibtisch nach Büroklammern suchte, blieb verschont. Wenn er in Mockingburg geblieben wäre, denkt Quoyle, wäre er jetzt wahrscheinlich tot.

Bei einem Unwetter reißen die Trossen, das Haus der Tante rutscht ins Meer, zerbricht und versinkt. „Unsere ganze Arbeit und unser ganzes Geld einfach so weg?“, klagt Quoyle. „Steht vierzig Jahre lang leer und ist dann in einem Augenblick weg! Gerade, als wir’s hergerichtet hatten.“ — Doch mit dem Haus weichen auch die Schatten der Vergangenheit.

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Der Roman „Schiffsmeldungen“ handelt von einem 36-Jährigen, der in den USA von klein auf versagt hat, aber an der unwirtlichen Küste Neufundlands einen Neuanfang wagt, sich dort an die See, die Extreme des Wetters und die spröden Menschen gewöhnt und dabei zu sich selbst findet. E. Annie Proulx erzählt diese Geschichte langsam und unspektakulär in einer kargen Sprache, die wohl zur Schroffheit der beschriebenen Landschaft passt, aber doch sehr gewöhnungsbedürftig ist. Hier ein Beispiel:

Eines Freitagnachmittags. Quoyle zu Hause, sich alte Kleider anziehend. Durchs Küchenfenster hielt er Ausschau nach Jacks Skiff. Regenfarbener Horizont, obwohl keiner fiel, wo Quoyle war. Ein Hecktrawler legte von der Fischfabrik ab, wahrscheinlich unterwegs zu den Funk Island Banks. Zehn Tage mit einer vierzehnköpfigen Mannschaft, das Netzschleppen, das langsame Einholen, der kurze Moment voll Spannung, wenn der Stert des Netzes hochkam, der Kabeljau sich auf das Deck ergoss. Oder nicht viel drin war. Und hinunter zum Ausbluten und Ausnehmen. Und wieder schleppen und einholen. Und das Netz flicken. Und wieder. Und wieder.

Lasse Hallström verfilmte „Schiffsmeldungen“ 2001 mit Kevin Spacey als Quoyle.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2002
Textauszüge: © Paul List Verlag

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