Christoph Ransmayr : Die Schrecken des Eises und der Finsternis

Die Schrecken des Eises und der Finsternis
Die Schrecken des Eises und der Finsternis Originalausgabe: Christian Brandstätter Verlag & Edition, Wien 1984 Süddeutsche Zeitung / Bibliothek Band 84, München 2007, 252 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

In seinem Roman "Die Schrecken des Eises und der Finsternis" erzählt Christoph Ransmayr die authentische Geschichte von der "k. u. k. österreichisch-ungarischen Nordpolexpedition" in den Jahren 1872 bis 1874 und parallel dazu die fiktive Geschichte von Josef Mazzini, der 1981 auf Spitzbergen verschwand und den der Buchautor angeblich persönlich gekannt hatte.
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Kritik

Christoph Ransmayr hat seine Darstellung bewusst nüchtern und sachlich gehalten. "Die Schrecken des Eises und der Finsternis" ist eine Mischung aus Roman, Essay und Dokumentation.
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Am 31. Mai 1872 – es ist Fronleichnam – besteigen die Offiziere Julius von Payer und Carl Weyprecht mit ihren Männern in Wien die Eisenbahn. Ihr Reiseziel ist Bremerhaven. Dort treffen sie am übernächsten Tag ein – und sehen zum ersten Mal das eigens für sie von der Werft Teklenborg und Beurmann gebaute Schiff, die „Admiral Tegetthoff“. Es handelt sich um einen 32 Meter langen und 7,3 Meter breiten dreimastigen Barkschoner, der über eine Auxiliardampfmaschine verfügt und speziell für die geplante, vom Polarcomitee in Wien finanzierte Expedition konzipiert wurde. Zweck der Reise ist die Erkundung der Nordostpassage. Carl Weyprecht wird auf See der Kommandant sein, und Julius von Payer soll die Landerkundungen der „k. u. k. österreichisch-ungarischen Nordpolexpedition“ leiten. Zur Besatzung gehören zwei Offiziere, ein Arzt, ein Bootsmann, ein Eismeister, ein Maschinist, ein Heizer, ein Zimmermann, ein Koch, zwei Jäger und Hundetreiber sowie zwölf Matrosen.

Die „Admiral Tegetthoff“ läuft am 13. Juni aus und nimmt Kurs entlang der norwegischen Küste in die Barentssee. Nach siebzehn Tagen friert der Dreimaster zum ersten Mal fest, allerdings nur für einen Tag. Am 3. August erreicht die „Admiral Tegetthoff“ die Westküste des Archipels Nowaja Semlja. Von dort geht es weiter nach Norden.

Hans Graf Wilczek, der sich um die Finanzierung der Expedition verdient gemacht hat, segelt der „Admiral Tegetthoff“ von Spitzbergen aus mit der „Isbjörn“ entgegen. Die beiden Schiffe treffen am 12. August aufeinander. Tagelang segeln sie zusammen weiter. Bevor Graf Wilczek sich wieder von Julius von Payer und Carl Weyprecht verabschiedet, legt er auf einer der Barents-Inseln ein Lebensmitteldepot für die Expedition an: 2000 Pfund Roggenbrot in Fässern und 1000 Pfund Erbswurst in verlöteten Zinnkisten.

Gerade noch rechtzeitig kehrt die „Isbjörn“ um. Die „Admiral Tegetthoff“ wird wenige Tage später, am 22. August, bei 76°22′ nördlicher Breite und 62°3′ östlicher Länge vom Eis umschlossen. Vergeblich bohren die Männer Löcher ins Eis, füllen sie mit Schwarzpulver und zünden die Sprengsätze; mit Hacken, Meißeln und Sägen bearbeiten sie das Eis, aber sie müssen bald einsehen, dass sie für diesen Winter festsetzen. Die Temperaturen fallen auf minus 48 Grad Celsius, und selbst die Innenwände der Kajüten überziehen sich mehrere Zentimeter dick mit Eis. Acht Monate lang bleibt es dunkel. Erst am 19. Februar 1873 steigt die Sonne wieder über den Horizont.

Je lichter es wurde, desto grässlicher offenbarten sich die Bilder der Zerstörung. Rings um uns erhob sich ein Gebirge klippigen Eises […] Selbst auf geringe Entfernung sah man vom Schiff nichts mehr als die Höhe der Masten; alles Übrige lag hinter einem hohen Eiswalle gedeckt. Das Schiff selbst aber, sieben Fuß über den Wasserspiegel erhoben, ruhte auf einer emporgehobenen Eisblase und sah durch diese Entrückung von einem natürlichen Elemente wahrhaft trostlos aus […] Die gespannte Erwartung, womit wir der rückkehrenden Sonne begegnet, war auch ein Anlass, uns wechselseitig zu betrachten, und wir waren überrascht über die Veränderung, die unser Äußeres in der langen Periode der Nacht erlitten. Tiefe Blässe bedeckte die eingefallenen Gesichter. Die meisten von uns trugen die Zeichen der Reconvalescenz, spitze, hervorragende Nasen und eingesunkene Augen. (Julius von Payer, hier: Seite 128)

Das Eis, das der Winter unter ihr Schiff gepresst hat, liegt an manchen Stellen in einer Mächtigkeit von neun Metern, ihre Wasserlöcher sind tief wie Brunnen, und alle Versuche, den Schoner wieder an den Meerespiegel zu bringen, führen schließlich zu einer solchen Schräglage der Tegetthoff, dass sie sich an Deck bewegen wie auf einem Berghang und Orasch, der steirische Koch, flucht, er könne keinen Topf mehr überstellen. Die Tegetthoff liegt wie ein Wrack in einer Werft aus Eis; sie müssen den Rumpf mit Balken abstützen, um nicht zu kentern. (Seite 136f)

Die Hoffnung der Besatzung, im Polarsommer wieder freizukommen, erfüllt sich nicht.

Obwohl die „Admiral Tegetthoff“ im Eis festsitzt, bleibt sie nicht an Ort und Stelle, sondern driftet mit dem Eis nach Nordwesten. Am 30. Juli 1873, als sich das Schiff bei 79°43′ nördlicher Breite und 59°22′ östlicher Länge befindet, sichten die Expeditionsteilnehmer Berge und Felswände. Es handelt sich um eine Inselgruppe, die sie zu Ehren ihres Kaisers „Franz-Joseph-Land“ nennen.

Im September 1873 lässt Carl Weyprecht die Bemühungen zur Befreiung der „Admiral Tegetthoff“ erneut einstellen: Die Männer werden noch einmal einen Polarwinter in Kälte und Dunkelheit ausharren müssen.

Am 1. November sind sie dem Franz-Joseph-Land – genauer: der Wilczek-Insel – so nah gekommen, dass einige von ihnen es wagen, hinzulaufen. Sie stellen fest, dass sich die Vegetation auf spärliche Flechten beschränkt. Am 2. November wird der Doppeladler, die k. u. k. Flagge, auf dem Franz-Joseph-Land gehisst.

Der Jäger Alexander Klotz zieht plötzlich seine Sommersachen an, verabschiedet sich von seinen Kameraden und wandert los. Halb erfroren wird er nach fünf Stunden zurückgeholt. Er ist wahnsinnig geworden. Wie durch ein Wunder erholt er sich jedoch nach einiger Zeit wieder aus seiner psychischen Versteinerung.

Nach 125 Tagen geht die Sonne am 24. Februar 1874 wieder auf. Carl Weyprecht erklärt der Besatzung, dass die „Admiral Tegetthoff“ aufgegeben werden müsse. Man beabsichtigt, sich nach Süden durchzuschlagen. Vorher will Julius von Payer jedoch noch so viel wie möglich vom Franz-Joseph-Land erkunden.

Am 10. März zieht er mit fünf Männern und drei Schlittenhunden los. Die Temperatur fällt bis auf minus 51 Grad Celsius.

Sieben Zentner wiegt ihr Schlitten. Ihre Arbeit ist kein Ziehen, sondern ein Zerren und Reißen an der Last, eine erschöpfende Einübung in die Qual, die sie auf dem Rückzug nach Europa erwartet. Immer wieder müssen sie ihr Gefährt entladen – die Kochmaschine, das Zelt, die Petroleumfässer, den Proviant, müssen alles Stück für Stück fortschaffen, um wenigstens mit dem leeren Schlitten über die Eishöcker, die Hummocks zu kommen. Manchmal bahnen sie sich ihren Weg mit Spitzhacke und Schaufel. Das Eis ist wie Stein […] Für die Nacht graben sie sich ins Eis, spannen ihr Zelt über die Grube, und Schneestürme decken ihre Unterkunft zu. Dicht aneinandergedrängt, liegen sie dann in ihrem Gemeinschaftsschlafsack aus Büffelfell und fluchen und klagen, bis Payer sie anherrscht. Wenn sie sich am Morgen erheben, glauben sie zu zerbrechen; das Büffelfell ist hart wie ein Brett und das Zelt durch die Kondensation und Vereisung ihrer Atemluft eine schimmernde Höhle. (Seite 185)

Sechs Tage dauert diese erste Exkursion.

Der erkrankte Maschinist Otto Krisch schreit vor Schmerzen, bis er am 16. März stirbt. Obwohl der Zimmermann Antonio Vecerina selbst krank ist, zimmert er einen Fichtensarg, in dem Krisch zwei Tage lang aufgebahrt und dann bestattet wird.

Julius von Payer, der sich vorgenommen hat, den 82. Breitengrad zu überqueren, zieht am 26. März erneut los. Als nicht mehr alle mithalten können, lässt er die Hälfte der Männer in einem Lager zurück und marschiert mit den anderen weiter. Nachdem die kleine Gruppe am 12. April 82°5′ nördliche Breite erreicht hat, kehrt sie um. Die „Admiral Tegetthoff“ ist 300 Kilometer entfernt, liegt bei 79°51′. In der Zwischenzeit ist ein Teil des Packeises geschmolzen, und am 19. April, als Julius von Payer die Südküste erreicht, steht er vor dem offenen Meer. Drei Tage dauert die Suche nach einer Eisbrücke, auf der die Männer weiterkommen.

Eine letzte Erkundung des Franz-Joseph-Landes, die Julius von Payer nur mit dem Schiffslieutenant Gustav Brosch und dem Jäger Johann Haller unternimmt, dauert vom 29. April bis 3. Mai.

Am 20. Mai 1874 macht sich die Besatzung der „Admiral Tegetthoff“ auf den Weg nach Süden. Ausrüstung und Proviant sind in drei Rettungsbooten verstaut, die von den Männern übers Eis gezogen werden müssen. Nach zwei Wochen marschieren Carl Weyprecht, der Schiffsfähnrich Eduard Orel und zehn Matrosen zurück – sie waren erst wenige Kilometer von der „Admiral Tegetthoff“ entfernt – und holen das letzte Beiboot. Die Boote werden übers Eis gezerrt und durch Wasserrinnen gerudert. Während die Männer sich weiter nach Süden vorkämpfen, driften sie mit dem Polareis nach Norden. Nach zwei Monaten haben sie gerade einmal 15 Kilometer zurückgelegt. Im Nebel verfehlt die Gruppe das Proviantdepot auf den Barents-Inseln, doch ein Zurück gibt es nicht.

Endlich, am 24. August 1874, erreichen die erschöpften Expeditionsteilnehmer Nowaja Semlja. Sie sind gerettet.

107 Jahre später, am 26. Juli 1981, fliegt der zweiunddreißigjährige LKW-Fahrer Josef Mazzini mit einer Linienmaschine von Wien nach Oslo. Mazzini wurde 1948 in Triest als Sohn des aus Wien stammenden Tapezierers Kaspar Mazzini und dessen Ehefrau Lucia, einer Triestiner Miniaturenmalerin, geboren. Seit er von seiner Mutter erfuhr, dass sein Urgroßonkel Antonio Scarpa einer der Matrosen auf der „Admiral Tegetthoff“ gewesen war, ist er von der Idee besessen, den Spuren der Nordlandfahrer zu folgen.

Josef Mazzini erfindet fortwährend Geschichten.

Er entwerfe, sagte Mazzini, gewissermaßen die Vergangenheit neu. Er denke sich Geschichten aus, erfinde Handlungsabläufe und Ereignisse, zeichne sie auf und prüfe am Ende, ob es in der fernen oder jüngsen Vergangenheit jemals wirkliche Vorläufer oder Entsprechungen für die Gestalten seiner Fantasie gegeben habe. Das sei, sagte Mazzini, im Grunde nichts anderes als die Methode der Schreiber von Zukunftsromanen, nur eben mit umgekehrter Zeitrichtung. (Seite 19)

Josef Mazzini reiste oft allein und viel zu Fuß. Im Gehen wurde ihm die Welt nicht kleiner, sondern immer größer, so groß, daß er schließlich in ihr verschwand. (Seite 9)

Von Oslo fliegt Mazzini weiter nach Longyearbyen auf Spitzbergen, wo ihm der seit fünf Jahren hier lebende Ozeanograf Kjetil Fyrand weiterhilft. Ihm hat er auch die Sondergenehmigung zu verdanken, auf dem Forschungsschiff „Cradle“, dem Flaggschiff der norwegischen Eismeerforschung, mitreisen zu dürfen. Die „Cradle“ läuft am 10. August aus, umfährt am 3. September die Nordküste Spitzbergens und kehrt wieder nach Longyearbyen zurück. Danach zieht die Besatzung sich für dieses Jahr aus dem Polargebiet zurück. Doch statt an Bord zu bleiben, lässt Mazzini sich in Longyearbyen von Fyrand zeigen, wie man mit Schlittenhunden umgeht.

Am 28. Oktober 1981 geht die Sonne für 110 Tage unter.

Kjetil Fyrand fliegt in der zweiten Novemberwoche nach Oslo, um dort einen Vortrag zu halten. Als er nach einigen Tagen wiederkommt, ist Mazzini verschwunden. Am 11. Dezember tauchen zwei seiner Schlittenhunde mit zerfetztem Zuggeschirr auf, aber von Josef Mazzini fehlt weiter jede Spur.

Fyrand schickt Mazzinis Tagebücher der mit beiden befreundeten Buchhändlerin Anna Koreth in Wien, die sie wiederum dem Autor des vorliegenden Buches zur Verfügung stellt, der Josef Mazzini durch sie kennen gelernt hatte.

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In seinem Roman „Die Schrecken des Eises und der Finsternis“ erzählt Christoph Ransmayr die authentische Geschichte von der „k. u. k. österreichisch-ungarischen Nordpolexpedition“ in den Jahren 1872 bis 1874 und parallel dazu die fiktive Geschichte von Josef Mazzini, der 1981 auf Spitzbergen verschwand und den der Buchautor angeblich persönlich gekannt hatte.

Christoph Ransmayr hat seine Darstellung bewusst nüchtern und sachlich gehalten. Mehr noch: Er unterbricht die beiden Parallelhandlungen durch drei Exkurse („Die Nordostpassage oder der weiße Weg nach Indien. Rekonstruktion eines Traumes“, „Passagesucher. Ein Formblatt aus der Chronik des Scheiterns“, „Der Große Nagel. Fragmente des Mythos und der Aufklärung“), gibt Eismeer-Touristen Ratschläge und listet alle Teilnehmer der Nordpolexpedition (einschließlich der Namen der Schlittenhunde) auf. Immer wieder rückt er authentische Zitate aus Briefen, Tagebüchern und Buchveröffentlichungen von Johann Haller, Otto Krisch, Julius von Payer und Carl Weyprecht ein. Außerdem hat er zahlreiche Abbildungen aus dem 1876 in Wien publizierten Buch „Die österreichisch-ungarische Nordpol-Expedition in den Jahren 1872 – 1874“ übernommen. „Die Schrecken des Eises und der Finsternis“ ist also eine Mischung aus Roman, Essay und Dokumentation.

„Die Schrecken des Eises und der Finsternis“ gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Christoph Ransmayr (6 CDs, Deutsche Grammophon, Hamburg 2004, 410 Minuten, ISBN 3829113897).

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2007
Textauszüge: © S. Fischer

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