Sven Regener : Neue Vahr Süd

Neue Vahr Süd
Neue Vahr Süd Originalausgabe: Eichborn Verlag, Frankfurt/M 2004 ISBN 3-8218-0743-1, 585 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Frank Lehmann wird im Herbst 1980 einundzwanzig Jahre alt, hat gerade eine Lehre als Speditionskaufmann abgeschlossen und wohnt noch bei seinen Eltern in dem Bremer Neubauviertel Neue Vahr Süd. Weil er es versäumt hat, den Wehrdienst zu verweigern, muss er zur Bundeswehr. An seinem ersten freien Wochenende überwirft er sich mit seinen Eltern und zieht in die Wohngemeinschaft von ein paar kommunistischen Freunden ...
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Kritik

In "Neue Vahr Süd" erzählt Sven Regener die Vorgeschichte zu seinem Debütroman "Herr Lehmann". Das Besondere daran sind die alltäglich-absurden Dialoge, mit denen Sven Regener die Figuren charakterisiert, seine außergewöhnliche Beobachtungsgabe beweist und für viel Vergnügen beim Lesen sorgt.
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Wehrdienst

Frank Lehmann wird im Herbst 1980 einundzwanzig Jahre alt und hat gerade eine Lehre in der Spedition abgeschlossen, in der auch sein Vater angestellt ist. Er wohnt noch bei seinen Eltern Ernst und Martha in dem Bremer Neubauviertel Neue Vahr Süd. Seine Mutter bessert das Haushaltseinkommen durch einen Halbtagsjob in einem Imbiss am Bahnhof auf. Franks vier Jahre älterer Bruder Manfred („Manni“) ging vor einiger Zeit nach Berlin und betätigt sich dort als Objektkünstler.

Weil er es irgendwie versäumt hat, den Wehrdienst zu verweigern, muss Frank Lehmann sich am 1. Juli in der Niedersachsen-Kaserne in Dörverden/Barme zur Grundausbildung als Pionier melden.

Am Tag davor fährt er mit dem Auto, das ihm sein Bruder dagelassen hat, zur Mensa, um dort zu essen. Unterwegs nimmt er eine Studentin und zwei Studenten mit, die als Anhalter am Straßenrand stehen und ebenfalls zur Universität wollen. Weil sie sich wundern, dass er in die Mensa will, ohne Student zu sein, gerät Frank Lehmann mit ihnen in einen ebenso heftigen wie absurden Streit.

Als Stammessen gab es serbisches Reisfleisch, und das war Frank gerade recht, denn er mochte das nicht oder jedenfalls nicht besonders, und gerade darum war es gut, dass es das heute gab, es wäre nicht richtig, dachte er, als er das Angebot studierte, heute noch etwas Leckeres, Gutes zu essen, wer weiß, was es morgen bei der Bundeswehr gibt, dachte er, und je höher man steigt, umso tiefer fällt man, und wenn es heute noch etwas extra Leckeres zum Mittag gibt, dann ist der Schock morgen nur um so härter. Diesen Gedanken fand er so bescheuert, dass er lachen musste […] (Seite 23)

In der Mensa trifft er seinen Schulfreund Martin Klapp, der Deutsch und Sport auf Lehramt studiert. Schon seltsam, denkt Frank, dass Martin Sport studiert, obwohl er bei der Musterung als untauglich für den Dienst bei der Bundeswehr eingestuft wurde. Während Frank und Martin ihr Reisfleisch essen, kommt die Studentin, die Frank gerade mitgenommen hatte, zu ihnen an den Tisch. Sie heißt Sibille und geht offenbar hin und wieder mit Martin aus.

Beim Abendessen erklärt Frank seiner Mutter, was ein Pionier ist:

„Die machen Brücken und legen Minen und so […] Außerdem sprengen sie Brücken und räumen Minen wieder weg […] Hab ich gehört […]“ (Seite 33)

In der Kaserne lernen die Rekruten als Erstes, dass sie den Mund zu halten haben. Falls sie angesprochen werden, müssen sie mit einem knappen Satz antworten, der mit „Herr“ und dem Dienstgrad des Vorgesetzten endet. Außerdem gibt es das Wort „ja“ nicht; bei der Bundeswehr heißt es stattdessen „jawohl“, also zum Beispiel „Jawohl, Herr Hauptfeld!“ Damit tut Frank Lehmann sich schwer: Immer wieder antwortet er auf eine Frage nur mit „ja, ja“, und wenn er schon einmal nicht vergisst, sich beim Kompaniechef vorschriftsmäßig abzumelden, fügt er gedankenlos „Tschüss“ hinzu.

Abends sitzt er mit Kameraden im Mannschaftsheim beim Bier.

[…] erst einmal nachdenken, dachte er, denn das hatte ihm bis jetzt am meisten gefehlt, nachdenken zu können, sich irgendwie einen Überblick darüber zu verschaffen, was in den letzten dreißig Stunden eigentlich passiert war, und wie er das alles einzuschätzen hatte. Aber auch jetzt, im ersten wirklich ruhigen Moment, seit er in der Kaserne war, fiel ihm das nicht leicht. Kein Wunder, dass keiner was sagt, dachte er wieder, man muss das alles ja auch mal in Ruhe überdenken, dachte er, aber das brachte ihn dabei natürlich nicht weiter, das ist innere Metadiskussion, dachte er, einen Begriff benutzend, den Martin Klapp neuerdings gerne benutzte, ich denke mehr über das Nachdenken und über Martin Klapp nach, dachte er, als über das, worum es eigentlich geht, es ist schwer, sich beim Nachdenken zu konzentrieren, dachte er, wenn man gleichzeitig über das Nachdenken nachdenkt, und wenn man über das Konzentrieren nachdenkt, kann man sich auch schlecht konzentrieren, komisch aber wahr, dachte er, dabei ist es wichtig, sich das alles mal in Ruhe durch den Kopf gehen zu lassen, versicherte er sich selbst, und darüber fiel ihm ein Film ein, den er neulich, in seinem früheren Leben als Zivilist, im Fernsehen gesehen hatte, irgend etwas mit einem deutschen U-Boot am Ende des Zweiten Weltkriegs, da waren zwei Japaner drauf gewesen, die Selbstmord begehen wollten, und der eine hatte gesagt: „Das Leben ist kurz“, und der andere hatte gesagt: „Ja, kaum Zeit zum Nachdenken“, und dann hatten beide geweint und sich umgebracht […] so geht das nicht, dachte er, so kommt man nicht weiter mit dem Nachdenken, wenn man sich ständig selber ablenkt dabei, und um sich auf die richtige Bahn zurückzubringen, bat er Leppert um seinen Tabak, vielleicht hilft es, wenn man mal ein bisschen raucht, dachte er und drehte sich ungeschickt eine Zigarette, was aber keinem auffiel, denn Schmidt sagte nun plötzlich in ihr Schweigen hinein doch etwas, und der stille Moment war dahin.
„Alles Scheiße“, sagte Schmidt. (Seite 67f)

Der Auszug

Als Frank Lehmann am ersten Wochenende nach Hause kommt, steht mitten in seinem Zimmer ein großes Fernsehgerät. Der Vater erklärt ihm, er versuche, den Fernseher von Tante Helga zu reparieren.

„Naja“, sagte Frank und versuchte, seine Erregung im Zaum zu halten, „ich bin gerade mal vier Tage weg und ihr räumt mein Zimmer um, ich meine, ihr stellt meinen Schreibtisch um und tut da einen Fernseher drauf, findet ihr das normal, oder was? Ich meine, das ist mein Zimmer!“ Frank wurde langsam lauter, er redete sich in eine gewisse Rage hinein und konnte nichts dagegen machen. „Ich meine, das ist mein Zimmer“, wiederholte er, „und ich bin vier Tage weg, und dann steht da der Fernseher von Tante Helga aufgeschraubt rum, und auf meinem Bett liegt die Rückseite von dem Ding und da liegen Werkzeuge rum, das muss man sich mal vorstellen, ich meine, das ist ja wohl überdeutlich!“ (Seite 86)

Frank Lehmann versteht den Fernseher in seinem Zimmer als Wink und beschließt, noch am selben Abend auszuziehen.

Franks Mutter begann wieder ein bisschen zu weinen. „Das eigene Kind aus dem Haus zu treiben! Mit einem Fernseher!“ (Seite 89)

Martin erzählte ihm in der Mensa, dass er gerade zusammen mit Ralf Müller und Achim Schwarz in eine Dreieinhalbzimmerwohnung zog, die noch renoviert werden muss. Martin, Ralf und Achim sind gerade dabei, vergilbte Tapeten von den Wänden zu reißen, als Frank zu ihnen kommt. Martins Zimmer ist nur durch ein vier Quadratmeter Durchgangszimmer zu erreichen, das er Frank gern abgibt, weil dieser ihm anbietet, die Hälfte seines Mietanteils zu übernehmen. Es erfüllt Frank Lehmann mit Stolz, dass er es endlich geschafft hat, aus der Neuen Vahr Süd herauszukommen.

Vertrauensmann

In der zweiten Woche bei der Bundeswehr steht die Wahl eines Vertrauensmannes auf der Tagesordnung. Der Spieß tritt vor die Rekruten hin:

„So, Leute, jetzt kommt euer großer Moment, jetzt wählt ihr mal schön den Vertrauensmann […] ich will hier eine schöne, freie, geheime Wahl, und vorher will ich eine schöne, freie, lebhafte Diskussion von euch, das ist jetzt eure Sache, da misch ich mich nicht lange ein, wer macht den Versammlungsleiter?“ (Seite 151)

Als sich niemand meldet, ruft der Hauptfeldwebel:

„Kranich, was ist mit Ihnen?“
„Wie, äh?“
„Sie brauchen jetzt nicht jawohl, Herr Hauptfeld zu sagen, Kranich, das ist jetzt nicht wichtig, Sie sagen einfach ja, prima, mach ich, und dann hat sich das. Kommen Sie mal nach vorne.“
Der Angesprochene stand auf und ging mit rotem Kopf nach vorne zum Hauptfeldwebel.
„So, Kranich, kein großes Ding, Sie sind der Versammlungsleiter, Sie organisieren jetzt mal schön die Wahl des Vertrauensmanns […]“ (Seite 152)

Der Hauptfeldwebel setzt sich auf einen Stuhl in einer Ecke, versichert Kranich, er werde sich jetzt heraushalten und fordert die Rekruten auf, so zu tun, als sei er gar nicht da.

„Ja also“, sagte er [Kranich], „erst mal brauchen wir natürlich auch Kandidaten.“
„Und ob Sie die brauchen“, sagte der Hauptfeldwebel und lachte meckernd wie eine alte Ziege. Kranich sah zu ihm hinüber. „Schon gut“, sagte der Hauptfeldwebel und hörte auf zu lachen. „Tut mir Leid, Kranich, ich bin gar nicht da.“ (Seite 152)

Kranich wird als Kandidat vorgeschlagen.

„Ich?“, sagte Kranich entsetzt, „nee, ich will das nicht.“
„Nun seien Sie kein Frosch, Kranich“, dröhnte der Hauptfeldwebel aus der Ecke, „Sie sind doch ein guter Mann, uraltes Militär, Sie machen das doch ganz prima.“ Er lachte wieder, jetzt aber leise und mit vorgehaltener Hand.
„Ja gut, dann brauchen wir aber auch noch einen zweiten Kandidaten“, sagte Kranich.
„Und ob Sie den brauchen, wir sind hier doch nicht in der DDR, Kranich, die machen sowas, aber das sind die Kameraden von der anderen Feldpostnummer, wir sind da ganz anders, zwei Kandidaten brauchen wir mindestens, eher drei, was ist das sonst für eine bescheuerte Wahl, den zweiten brauchen wir doch schon als Stellvertreter, und einen Verlierer muss es doch auch noch geben!“ (Seite 152f)

Als der Name Lehmann fällt, hält dieser eine fulminante Rede darüber, dass es auch ein passives Wahlrecht gebe und man bei einer freien Wahl nicht zu einer Kandidatur gezwungen werden könne. Man habe auch das Recht, nicht gewählt zu werden. Überhaupt könne man die Rekruten nicht zwingen, einen Vertrauensmann zu wählen. Das Amt habe doch sowieso keinen Sinn. Unter großem Gejohle wird Frank Lehmann daraufhin gewählt.

Am nächsten Wochenende feiern die Bewohner der Wohngemeinschaft eine Einweihungsparty. „Wenn erstmal Sperrmüll war“, versichert Martin, „dann ist hier alles voller Möbel.“ Sibille bringt Birgit und Sonja mit, die mit ihr in einer WG leben. Als Martin merkt, dass Ralf versucht, bei Sibille Eindruck zu schinden, ärgert er sich, unternimmt jedoch nichts. Birgit folgt Frank auf allen Vieren in dessen Zimmer und in dessen Bett, aber es kommt zu keinen weiteren Zärtlichkeiten, denn dafür sind sie zu betrunken. Frank Lehmann will sich ohnehin nicht verlieben.

Aber das bringt nichts, dachte er dann, am Ende verliebt man sich noch, und dann wird das irgendwann extra bitter, dachte er. (Seite 194)

Zu seinen Aufgaben als Vertrauensmann gehört es, in Disziplinarfällen eine Stellungnahme abzugeben. Nachdem Pionier Reinboth nicht aus dem Wochenendurlaub in die Kaserne zurückkehrte und von den Feldjägern abgeholt werden musste, plädiert Frank für Straffreiheit, und zwar mit der Begründung, Reinboth habe „unbewusst die Aufmerksamkeit seiner Vorgesetzten auf seine Probleme lenken“ wollen. Hauptmann Schickedanz betont zwar, dass er die Meinung des Vertrauensmannes nicht teile, aber er verhängt lediglich eine vierwöchige Ausgangssperre gegen Reinboth. Der schluckt kurz darauf Schlaftabletten und kommt in den Sanitätsbereich. Gerüchten zufolge hat er Liebeskummer.

Verspäteter Antrag

Inzwischen wohnt ein weiterer Schulfreund in der WG: Wolfgang („Wolli“) Grabe. Die anderen haben ihn in Franks Zimmer untergebracht und weisen dessen Protest zurück. Er sei während der Woche doch ohnehin nicht da, meinen sie.

Als Achim ins Ruhrgebiet zieht, übernimmt Frank dessen Zimmer, bevor noch einer der Mitbewohner Anspruch darauf erheben kann. Wolli bringt einen Kumpel mit Irokesenfrisur mit in die WG: Mike.

Frank Lehmann will das Versäumte nachholen und gibt einen schriftlichen Antrag auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer ab. In einem Buch hat er gelesen, dass man dabei nur Chancen habe, wenn man kein Gewehr anfasse oder dies im Fall eines ausdrücklichen Befehls nur unter Protest tue.

Als er und einige seiner Kameraden kurz vor dem Zapfenstreich sturzbetrunken aus einer Kneipe in die Kaserne zurückkehren, herrscht dort große Aufregung: NATO-Alarm!

„Herr Hauptfeld“, ließ Frank sich jetzt nicht mehr irritieren, „Herr Hauptfeld, ich nehme das Gewehr …“ – er machte eine kurze Pause, weil er rülpsen musste, und dabei musste er sich sehr konzentrieren, dass nichts von dem Whisky-Cola hinterherkam – „… nur unter Protest in die Hand!“
[…] Der Spieß sah sich das mit in die Hüften gestemmten Fäusten an und lachte.

„Alles klar, Lehmann“, rief er. „Nur unter Protest. Schon klar, Lehmann.“ (Seite 317f)

Mit fünf Wochen Verspätung trifft Frank Lehmanns G-Karte in der Kaserne ein. Damit kann nun endlich die Einstellungsuntersuchung nachgeholt werden. Der Arzt stellt fest, dass er gar nicht bei den Pionieren hätte anfangen dürfen, denn Frank ist nur eingeschränkt tauglich. Eine Versetzung wird erforderlich sein.

Frank Lehmann hofft, dass man ihn vorher noch als Kriegsdienstverweigerer anerkennt, aber nach einer Anhörung im Kreiswehrersatzamt-Hochhaus in Bremen wird sein Antrag abgewiesen. „Das Leben geht auch in Uniform weiter“, tröstet ihn der Hauptfeldwebel, der ihm dann auch gleich über seine Versetzung zur Betriebsstoffgruppe der Nachschubkompanie 210 in der Lettow-Vorbeck-Kaserne in Bremen in Kenntnis setzt. Auf diese Weise kommt Frank wieder in die Neue Vahr Süd zurück. Immerhin wird er dort als Heimschläfer anerkannt.

Als er eines Abends in Uniform nach Hause fährt und aus dem Auto aussteigt, trifft er zufällig auf seinen Bruder Manfred, der gerade mit seinem Freund Karl in Bremen ist, weil das Sankt-Jürgen-Krankenhaus möglicherweise bereit ist, einige seiner Kunstwerke auszustellen. Ohne das Auto, das früher ihm gehörte, hätte Manfred Frank gar nicht erkannt, gibt er zu.

WG

In der WG ist inzwischen die Toilette verstopft, und die Bewohner haben Kerzen aufgestellt, weil der Strom abgeschaltet wurde. Das Geld für die Stromrechnung hat offenbar Martin unterschlagen. Mike gehört jetzt schon praktisch zu den Bewohnern. Achim kehrt aus dem Ruhrgebiet zurück und besteht darauf, wieder in sein altes Zimmer zu ziehen. Frank bleibt nichts anderes übrig, als es sich mit Achim zu teilen.

Zum Spaß drückt Frank einmal nachts im Vorbeigehen den Knopf einer Fußgängerampel, obwohl nur ein einziges Auto zu sehen ist. Aus dem Wagen steigen vier Typen und drängen ihn gegen eine Mauer, um ihn zu verprügeln. Da kommt zufällig Franks früherer Schulfreund Harald („Harry“) Klein vorbei, von dem alle wissen, dass er wegen schwerer Körperverletzung vorbestraft ist. Harry rettet Frank und geht mit ihm und den vier Männern aus dem Auto – Hanni, Piet, Rudi und Wolli – in eine Souterrain-Kneipe: „Jogi’s kleine Bierstube“. Harry hat gehört, dass Frank in einer WG lebt und fragt, ob er da nicht für ein paar Wochen mit einziehen könne. Offenbar muss er sich vorübergehend ein wenig verstecken. Frank erklärt ihm jedoch, dass die Wohngemeinschaft längst überbelegt sei.

Als Frank und Sibille sich zufällig wiedersehen, verabreden sie sich für den nächsten Tag zum Abendessen im „Dubrovnik“. Sibille rührt dann allerdings von der Balkanplatte für zwei Personen kaum etwas an und erzählt, wie sie am Vorabend kurz nach Frank einen alten Bekannten traf und merkte, dass sie noch immer in ihn verliebt ist. Mit Frank und Sibille wird es also nichts. Das weiß jedoch Martin nicht, der sie durchs Fenster im „Dubrovnik“ sitzen sieht und Frank deshalb nach dessen Rückkehr in die WG auffordert, innerhalb von zwei Stunden auszuziehen. Statt seine Sachen zu packen, sucht Frank in „Jogi’s kleiner Bierstube“ Harry und bietet ihm sein Zimmer an. Martin wagt keinen Widerspruch, als Frank mit Harry zurückkehrt.

Feierliches Gelöbnis

Drei Monate nach Frank Lehmanns Versetzung fällt jemand auf, dass er noch kein Feierliches Gelöbnis abgelegt hat. Frank verweigert seine Teilnahme, zumal er dabei nicht seinen Mitbewohnern begegnen möchte, die allesamt von der proletarischen Revolution träumen, gegen das Militär sind und das geplante Feierliche Gelöbnis im Bremer Weserstadion durch eine groß angelegte Demonstration verhindern oder zumindest stören wollen. Die Verweigerung des Gelöbnisses ist sein gutes Recht. Allerdings teilt ihn der Spieß daraufhin als Fackelträger bei dem Feierlichen Gelöbnis ein, und das ist ein Befehl, den er nicht ohne Folgen verweigern kann.

Um dem Dienst als Fackelträger doch noch zu entgehen, raucht Frank am Vortag des Feierlichen Gelöbnisses eine Zigarette nach der anderen, weil er gehört hat, dass es dadurch zu Symptomen wie bei einer Lungenentzündung kommt. Am nächsten Morgen meldet er sich im Sanitätsbereich. Ein älterer Arzt, der den unerfahrenen Stabsarzt vertritt, untersucht ihn und diagnostiziert statt der gewünschten Lungenentzündung eine Nikotinvergiftung. Er weigert sich zwar, Frank Lehmann krank zu schreiben, aber in den Unterlagen gibt er Fußpilz an, um ihn nicht wegen der Simulation in Schwierigkeiten zu bringen.

Obwohl das Feierliche Gelöbnis erst am frühen Abend stattfinden wird, rücken die fünfzehn Fackelträger unter dem Kommando eines Hauptfeldwebels bereits vormittags ins Weserstadion ein, weil eine Großdemonstration angemeldet ist. Als die Fackelträger nach der Veranstaltung das Stadion verlassen, stellen sie fest, dass ihr Bundeswehrbus von den Demonstranten umgestürzt wurde und ausgebrannt ist. Im nächsten Augenblick geraten sie zwischen Demonstranten und Polizisten. Der Hauptfeldwebel, der als einziger keinen Stahlhelm trägt, wird von einem Stein am Kopf getroffen und geht zu Boden. Frank stößt zufällig auf Mike, der verletzt ist, verdeckt dessen Irokesenkamm mit seinem Stahlhelm, schleust ihn an den Polizisten vorbei und bringt ihn zur Notaufnahme im Sankt-Jürgen-Krankenhaus.

In der Kaserne schluckt Frank Lehmann vier Schlaftabletten und kippt planmäßig während einer Ansprache des Majors um. Nachdem er sich im Sanitätsbereich wieder einigermaßen erholt hat, wird er wegen Untauglichkeit aus der Bundeswehr entlassen.

Aufbruch

Weil die Tür seiner früheren Wohngemeinschaft amtlich versiegelt ist, geht Frank zu Sibilles WG. Dort öffnet ihm Achim, der jetzt dort wohnt. Auf der Straße trifft Frank Wolli, der ihm berichtet, Harry habe wieder mal jemand krankenhausreif geschlagen. Deshalb sei die Polizei gekommen, danach das Liegenschafts- und das Gesundheitsamt, die dafür sorgten, dass die vermüllte Wohnung geräumt wurde.

Frank Lehmann will noch am selben Abend zu seinem Bruder nach Berlin fahren, und Wolli kommt mit.

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In „Neue Vahr Süd“ erzählt Sven Regener die Vorgeschichte zu seinem erfolgreichen und von Leander Haussmann 2003 verfilmten Debütroman „Herr Lehmann“ (Eichborn-Verlag, Berlin 2001). „Neue Vahr Süd“ spielt 1980, also neun Jahre vor „Herr Lehmann“, aber es geht um dieselbe Figur. Frank Lehmann hat es in seiner Ambitionslosigkeit versäumt, den Wehrdienst zu verweigern und pendelt deshalb einige Monate lang zwischen Kaserne und Wohngemeinschaft hin und her: Während der Woche hat er Schwierigkeiten, sich an Befehl und Gehorsam bei der Bundeswehr zu gewöhnen, und am Wochenende säuft er mit seinen Mitbewohnern. Die Chaoten, die von einer proletarischen Weltrevolution träumen und über ihr politisches Engagement schwafeln, aber allmählich pragmatischer werden, wirken nicht weniger „daneben“ als die Militärs. Frank Lehmann fühlt sich nirgendwo zugehörig und sucht seinen Weg zwischen den Extremen. „Neue Vahr Süd“ ist eine Art Schelmenroman über das Erwachsenwerden.

Es geschieht wenig in „Neue Vahr Süd“. Dafür wird um so mehr geredet. Und die Dialoge sind das Besondere an diesem Buch: Sven Regener charakterisiert die Figuren schon allein durch deren Sprache. Was sie sagen und wie sie reden, klingt authentisch, und Sven Regener beweist damit seine außergewöhnliche Beobachtungsgabe. Zugleich liegt in den tragikomischen, mitunter absurden Gesprächen der ganze Witz des melancholischen Romans. Die zum großen Teil flapsigen Dialoge täuschen nicht darüber hinweg, dass es sich um einen sorgfältig formulierten Text handelt. Hinter einer scheinbar alltäglichen Fassade verbirgt sich ein brillanter Aufbau. Die Lektüre des Romans „Neue Vahr Süd“ ist ein großes Vergnügen.

Übrigens kam es bei einem Feierlichen Gelöbnis am 6. Mai 1980 im Weserstadion in Bremen tatsächlich zu Gewalttätigkeiten zwischen Demonstranten und der Polizei.

„Neue Vahr Süd“ gibt es auch als ungekürztes Hörbuch, gesprochen von Sven Regener (12 CDs).

Sven Regener (* 1961) stammt wie sein Protagonist Frank Lehmann aus Bremen. Nach seinem Wehr- und Zivildienst zog er nach Hamburg und später nach Berlin, wo er 1985 mit anderen Musikern zusammen die Band „Element of Crime“ gründete. Mit seinem Debütroman „Herr Lehmann“ schaffte er es auf Anhieb in die Bestsellerlisten. Das Drehbuch für die Verfilmung durch Leander Haußmann schrieb er selbst: „Herr Lehmann“.

Hermine Huntgeburth verfilmte den Roman: „Neue Vahr Süd“

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2005 / 2010
Textauszüge: © Eichborn Verlag

Hermine Huntgeburth: Neue Vahr Süd

Sven Regener: Herr Lehmann (Verfilmung)
Sven Regener: Magical Mystery oder Die Rückkehr des Karl Schmidt
Sven Regener: Wiener Straße
Sven Regener: Glitterschnitter

Herbert Rosendorfer - Der Meister
"Der Meister" ist v. a. eine Satire über den Wissenschaftsbetrieb am Beispiel der Musik. Im Plauderton und mit vielen Abschweifungen mäandert Herbert Rosendorfer durch skurrile Episoden. Damit bietet er ein geistreiches Lesevergnügen.
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