Rainer Maria Rilke : Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge

Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge
Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge Manuskript: 1904 - 1909 Erstausgabe: Insel Verlag 1910 Süddeutsche Zeitung / Bibliothek, Band 26, München 2004
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Ein achtundzwanzigjähriger dänischer Adeliger ist nach Paris gereist, um sich dort seinen Eindrücken, Gedanken, Erinnerungen und Stimmungen zu überlassen. Er fühlt sich verloren, fremdbestimmt, ausgeliefert einem unüberschaubaren, unbegreiflichen Dasein und fürchtet sich vor dem Tod.
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Kritik

Rilkes einziger Roman ist ein Tagebuchroman ohne durchlaufende Handlung. Bruchstückhaft reihen sich Erinnerungen, Reflexionen, Eindrücke aneinander. Die Sprache und die poetischen Bilder muten wie Lyrik an.
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Der 28-jährige Däne Malte Laurids Brigge stammt mütterlicherseits aus dem Grafengeschlecht Brahe. Der einsame junge Mann ist nach Paris gereist, um sich dort seinen Eindrücken, Gedanken, Erinnerungen und Stimmungen zu überlassen.

Dass ich es nicht lassen kann, bei offenem Fenster zu schlafen. Elektrische Bahnen rasen läutend durch meine Stube. Automobile gehen über mich hin. Eine Tür fällt zu. Irgendwo klirrt eine Scheibe herunter, ich höre ihre großen Scherben lachen, die kleinen Splitter kichern.

Er erinnert sich an seine Kindheit.

Es fiel uns ein, dass es eine Zeit gab, wo Maman wünschte, dass ich ein kleines Mädchen wäre und nicht dieser Junge, der ich nun einmal war. Ich hatte das irgendwie erraten, und ich war auf den Gedanken gekommen, manchmal nachmittags an Mamans Türe zu klopfen. Wenn sie dann fragte, wer da wäre, so war ich glücklich, draußen „Sophie“ zu rufen, wobei ich meine kleine Stimme so zierlich machte, dass sie mich in der Kehle kitzelte. Und wenn ich dann eintrat (in dem kleinen, mädchenhaften Hauskleid, das ich ohnehin trug, mit ganz hinaufgerollten Ärmeln), so war ich einfach Sophie, Mamans kleine Sophie, die sich häuslich beschäftigte und der Maman einen Zopf flechten musste, damit keine Verwechslung stattfinde mit dem bösen Malte, wenn er je wiederkäme.

Die eigentliche Herrin auf dem Familiensitz Ulsgaard war seine Großmutter Margarete Brigge. Sie konnte es nicht ertragen, wenn jemand in ihrem Umfeld erkrankte. Als ihre Schwiegertochter — Maltes Mutter — im Sterben lag, schloss sie sich mit ihrer Gesellschafterin Oxe tagelang ein und wies sogar ihren Sohn ab. Im folgenden Frühjahr starb sie dann auch. Gleich darauf rang ihr Mann, der Kammerherr Christoph Detlev Brigge, zehn Wochen lang mit dem Tod. Maltes Vater starb in einer Etagenwohnung in der Stadt. Malte war damals im Ausland und traf ihn nicht mehr lebend an, aber er sah zu, wie die Ärzte einen Wunsch des Verstorbenen erfüllten und ihm eine Nadel durchs Herz stachen. Malte Laurids Brigge denkt viel über das Sterben nach. Auch ein Krankenhaus in Paris regt ihn zu Reflexionen darüber an:

Dieses ausgezeichnete Hôtel ist sehr alt, schon zu König Chlodwigs Zeiten starb man darin in einigen Betten. Jetzt wird in 559 Betten gestorben. Natürlich fabrikmäßig. Bei so enormer Produktion ist der einzelne Tod nicht so gut ausgeführt, aber darauf kommt es auch nicht an. Die Masse macht es. Wer gibt heute noch etwas für einen gut ausgearbeiteten Tod? Niemand. Sogar die Reichen, die es sich doch leisten könnten, ausführlich zu sterben, fangen an, nachlässig und gleichgültig zu werden; der Wunsch, einen eigenen Tod zu haben, wir immer seltener. Eine Weile noch, und er wird ebenso selten sein wie ein eigenes Leben.

Wie leeres Papier treibt er an den Häusern entlang und hat manchmal den Eindruck, dass man ihn zusammenknüllt und fortwirft.

Die Existenz des Entsetzlichen in jedem Bestandteil der Luft. Du atmest es ein mit Durchsichtigem; in dir aber schlägt es nieder, wird hart, nimmt spitze, geometrische Formen an zwischen den Organen; denn alles, was sich an Qual und Grauen begegen hat auf den Richtplätzen, in den Folterstuben, den Tollhäusern, den Operationssälen, unter den Brückenbögen im Nachherbst: alles das ist von einer zähen Unvergänglichkeit, alles das besteht auf sich und hängt, eifersüchtig auf alles Seiende, an einer schrecklichen Wirklichkeit. Die Menschen möchten vieles davon vergessen dürfen; ihr Schlaf feilt sanft über solche Furchen im Gehirn, aber Träume drängen ihn ab und ziehen die Zeichnungen nach.

In einer Crémerie bestellt er zwei Spiegeleier. Er ist hungrig, weil er den ganzen Tag über nichts gegessen hat, aber er kann nichts zu sich nehmen und geht wieder hinaus auf die Straße, bevor die Eier fertig sind. Es ist Fasching. Jemand wirft ihm eine Handvoll Konfetti in die Augen, und es brennt „wie eine Peitsche“.

Ich fürchte mich. Gegen die Furcht muss man etwas tun, wenn man sie einmal hat.

Ich habe etwas getan gegen die Furcht. Ich habe die ganze Nacht gesessen und geschrieben.

Er fühlt sich schwach. Wenn er eine Viertelstunde vor dem Ofen kniet, um das Feuer zu entzünden, „die Stirnhaut gespannt von der nahen Glut und mit Hitze in den offenen Augen“, dann verbraucht er, was er an Kraft für den Tag hatte.

Wir entdecken wohl, dass wir die Rolle nicht wissen, wir suchen einen Spiegel, wir möchten uns abschminken und das Falsche abnehmen und wirklich sein. Aber irgendwo haftet uns noch ein Stück Verkleidung an, das wir vergessen.
Mein Gott, fiel es mir mit Ungestüm ein, so bist du also. Es gibt Beweise für deine Existenz. Ich habe sie alle vergessen und habe keinen je verlangt, denn welche ungeheuere Verpflichtung läge in deiner Gewissheit.

Das Gleichnis vom verlorenen Sohn deutet er um. Er denkt dabei an einen Jungen, der tagsüber im Freien herumstrich und einsam seinen Gedanken nachhing. Sobald er ins Elternhaus zurückkehrte, war er wieder „der, für den sie einen hier hielten … das gemeinsame Wesen, das Tag und Nacht unter der Suggestion ihrer Liebe stand, zwischen ihrer Hoffnung und ihrem Argwohn, vor ihrem Tadel oder Beifall“. Als er älter geworden ist, geht er von zu Hause fort.

Viel später erst wird ihm klar werden, wie sehr er sich damals vornahm, niemals zu lieben, um keinen in die entsetzliche Lage zu bringen, geliebt zu werden.

Man wird mich schwer davon überzeugen, dass die Geschichte des verlorenen Sohnes nicht die Legende dessen ist, der nicht geliebt werden wollte.

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Dass man erzählte, wirklich erzählte, das muss vor meiner Zeit gewesen sein.

Rilkes einziger Roman ist ein Tagebuchroman ohne durchlaufende Handlung. Bruchstückhaft reihen sich Erinnerungen, Reflexionen, Eindrücke in „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ aneinander. Die Sprache und die poetischen Bilder muten wie Lyrik an.

Es geht um einen jungen Mann — das Alter Ego des Autors –, der äußerst sensibel in sich hineinhorcht und sich dabei zunehmend von der Welt und seinem Ich entfremdet. Er fühlt sich verloren, fremdbestimmt, ausgeliefert einem unüberschaubaren, unbegreiflichen Dasein. Leitmotiv ist die Angst vor Tod, Krankheit und Einsamkeit.

Das Buch ist ohne Effekthascherei geschrieben, aber Rainer Maria Rilke bemüht sich auch kaum um seine Leserinnen und Leser. Im ersten Teil sind die Eindrücke und Erinnerungen des Protagonisten noch gut nachvollziehbar, aber im zweiten Teil des Romans — in dem sich die Erzählperspektive von der ersten in die dritte Person verlagert — erschweren Legenden, historische Ereignisse und parabelhafte Erzählungen das Verständnis.

Es gibt mehrere Hörbuch-Fassungen des Romans „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ von Rainer Maria Rilke, zum Beispiel gelesen von Klaus Nägelen, von Jens Harzer, Victoria von Trauttmannsdorff, Stephanie Eidt und Wolf-Dietrich Sprenger oder von Christian Brückner.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2002/2003
Textauszüge: © Insel Verlag

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