Ben Roeg : Verwandtschaften

Verwandtschaften
Verwandtschaften Politische Real-Fiktionen aus sieben Jahrzehnten bundesdeutscher Utopie-Geschichte Originalausgabe: Custos Verlag, Solingen 2018 ISBN: 978-3-943195-21-7, 177 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Themenschwerpunkte der drei in diesem Band zusammengefassten "politischen Real-Fiktionen aus sieben Jahrzehnten bundesdeutscher Utopie-Geschichte" sind die 68er-Bewegung und ihre Folgen ("Acht und Sechzig"), Kritik an der Nutzung der Kernspaltung ("Wahl-Verwandtschaften") und ein Plädoyer für die Akzeptanz von Sterbehilfe ("Requiescam") ...
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Kritik

In drei polyphonen "Real-Fiktionen" prangert Ben Roeg in­humane Auswirkungen von Ideo­lo­gien, Gesetzen und Institu­tio­nen an. Die Texte bewegen sich zwischen Sachbuch und Belle­tristik, denn fiktive Figuren konkretisieren historische Fakten.
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Acht und Sechzig

Marga und Gregor heiraten am 2. Oktober 1938. Dass sie es erst mit über 30 tun, missfällt Gregors Vorgesetztem, der es für die Pflicht jeder gesunden arischen Frau hält, dem Führer so früh und so viele Kinder wie möglich zu schenken.

Aus dieser Ehe geht nur eine Tochter hervor: UIrike. Als sie 1960 im zweiten Semester von ihrem Kommilitonen Christian schwanger wird, lässt Gregor sich von Nordrhein-Westfalen an eine Schule in Baden-Württemberg versetzen, damit er und Marga sich um das Enkelkind Brigitte kümmern können. Brigittes inzwischen verheiratete Eltern sind aufgrund ihres politischen Engagements viel unterwegs, bei Teach-ins, Sit-ins und Demonstrationen. Ihr Kampf richtet sich gegen Kapitalismus und Imperialismus im Allgemeinen und den Vietnam-Krieg im Besonderen. Sie wehren sich aber auch gegen den Leistungsdruck, dem die Tochter schließlich in der Schule ausgesetzt ist. Ulrike und Christian erziehen Brigitte antiautoritär, und 1968 bilden sie mit Klaus, Ulrike und deren Tochter Irm eine Wohngemeinschaft, in der es keinen persönlichen Besitz geben soll.

Marga beobachtet das mit Sorge, aber auch mit Verständnis:

Da wird der Jugend seit Jahrzehnten, zuerst in Bezug auf die nationalsozialistischen Verbrechen und dann unter Rückgriff auf den Schießbefehl an der Mauer, ein Bewusstsein dafür beigebracht, dass gesetzliche Legalität auch den Menschenrechten widersprechen, also illegitim sein kann, aber wenn die Studenten dann ersuchen, diese Unterscheidung von Legalität und Legitimität auf den eigenen Staat, die eigene Gesellschaft anzuwenden, wird das als Verstoß gegen die Grundfesten dieser Republik, gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung gewertet.

2008 lehrt Brigitte im Rahmen einer Gastprofessur an der San José State University in Kalifornien, an der Tommie Smith und John Carlos studiert hatten, die durch ihren Protest gegen die Rassendiskriminierung in den USA bei den Olympischen Sommerspielen am 16. Oktober 1968 in Mexiko-Stadt berühmt geworden waren. Die Akademikerin denkt darüber nach, ob die positiven oder die negativen Auswirkungen der 68er-Bewegung überwiegen.

[…] ist doch Schritt für Schritt auch das Verstehen gekommen nicht zuletzt gerade im Laufe der Erfahrungen mit der Benachteiligung von Frauen im Universitätssystem dieses kritische Bewusstsein von Systemgrenzen in der Gesellschaft ist etwas was sich ohne die 68er nicht so weit oder zumindest nicht so schnell durchgesetzt hätte egal ob es sich um das Bildungssystem oder die gläserne Decke für Frauen oder die Hierarchiestrukturen in Kirche und Universität handelt was bedeutet dass es zwar nicht die große utopische Revolution gegeben hat nicht den erhofften Marsch durch die Institutionen aber es ist eine reformerische Dynamik entstanden die sich in vielen inhaltlich neuen Varianten zeigt wie zum Beispiel den Aktivitäten gegen die Atomkraft und für die Erhaltung der Umwelt sowie für die Emanzipation der Frau außerdem gehört nicht zuletzt auch die Idee einer multikulturellen Gesellschaft dazu […]

Wahl-Verwandtschaften

Am 27. März 1940 hilft eine Hebamme zuerst einer Bäckers- und gleich darauf einer Klempnerstochter in der Nachbarschaft bei der Geburt ihrer Kinder Eduard und Charlotte. Die Mütter werden von ihren Eltern unterstützt, denn die Väter der Neugeborenen kämpfen an der Ost- bzw. Westfront. Eduards Vater kommt 1946 aus der Kriegsgefangenschaft, Charlottes Vater erst zehn Jahre später.

Eduard und Charlotte wurden in dem Monat geboren, in dem die beiden vor den Nationalsozialisten geflohenen Physiker Otto Frisch und Rudolf Peierls in Birmingham ein Memorandum über die Möglichkeit des Baus einer Atombombe verfassten. Sie befürchteten, dass das NS-Regime eine solche Waffe in Auftrag geben könnte und wollten die britische Regierung davor warnen.

Nachdem Eduard und Charlotte in der Kindheit und Jugend unzertrennlich waren, trennen sich ihre Wege. Eduard studiert bei der Bundeswehr Radarmechanik und promoviert 1973. Nachdem er 1982 bei einer Demonstration in Brokdorf verhaftet wurde, schickt man den unbequemen Warner vor Strahlenschäden vorzeitig in Pension.

1983 sucht der inzwischen 43-Jährige wegen eines HWS-Syndroms eine physiotherapeutische Praxis auf und stößt zur beiderseitigen Überraschung auf Charlotte. Er erfährt, dass sie 1968 einen Arzt geheiratet hatte, der jedoch 1979 an Krebs erkrankt war und im Jahr darauf starb. Eigene Kinder hat sie nicht, aber eine Pflegetochter, die allerdings bereits studiert und nicht mehr bei ihr wohnt. Ottilie war erst acht Jahre alt, als ihre Mutter bei einem Unfall starb. Ihr Vater, ein Diplomat, übernahm damals eine Aufgabe in Asien und überließ das Kind der Pflegemutter Charlotte, die von Ottilie Pa-Lotta gerufen wird.

Eduard und Karlotta – wie er Charlotte nun nennt – kommen sich wieder näher. 1984 heiraten die beiden.

Eng befreundet ist Eduard mit einem gleichaltrigen Bundeswehr-Offizier, der seinen Vornamen Otto nicht mag und deshalb seinen Spitznamen „Hauptmann“ bevorzugt, obwohl er es bereits zum Major gebracht hat. Er redet übrigens Eduard auch nicht mit dem Vornamen an, sondern mit „Dottore“.

Seine depressive Frau Marlene nimmt sich 1984 das Leben. Heimlich verliebt er sich in Charlotte, aber auch als deren Ehe 1987 zerbricht, weil Eduard mit ihrer Pflegetochter Ottilie zusammenzieht, wagt er es nicht, Charlotte seine Gefühle zu gestehen, denn es würde so aussehen, als nutze er ihre Verzweiflung, sich an sie heranzumachen.

Aus religiöser Überzeugung verweigert Charlotte die Scheidung. Und sie hält es für ihre Pflicht, Ottilies Vater zu unterrichten. Der Diplomat antwortet sofort und teilt ihr mit, was er nach dem Unfalltod seiner Frau erfuhr: Nicht er, sondern Eduard ist Ottilies leiblicher Vater. Bei einer Beziehung der beiden handelt es sich also um Inzest.

Noch im selben Jahr werden die Leichen der beiden auf dem Bett gefunden: Augenscheinlich erschoss Ottilie zuerst Eduard und dann sich selbst.

Charlotte und der Hauptmann engagieren sich im 1986 gegründeten Verein Pro Asyl. Dabei bewegt sie besonders das Schicksal einer 37-jährigen Afrikanerin mit vier Kindern. Weil sie zunächst glauben, Chekwube N’Quambo durch eine Adoption von der Abschiebung bewahren zu können, heiraten sie. Sie erfahren dann zwar, dass eine Adoption ausländischer Erwachsener kein Bleiberecht begründet, kämpfen aber weiter dafür, dass sie Deutschland nicht verlassen muss und ihre zwei in Afrika zurückgelassenen Kinder nachholen darf.

Requiescam

Harold T. Trota heiratet 1973 im Alter von 29 Jahren. Vier Jahre später erkrankt seine Frau an Krebs und wird operiert. 1978 stirbt sie qualvoll.

1980 wird der 66-jährige Vater des Witwers durch einen nicht selbst verschuldeten Verkehrsunfall querschnittgelähmt. Seine fünf Jahre jüngere Frau Mechthild pflegt in. Nach zehn Jahren verschlechtert sich sein Zustand dramatisch und er beginnt unter unkontrollierbaren, unerträglich schmerzhaften Trigeminus-Attacken zu leiden. Der ehemalige Lateinlehrer drückt mehrmals den klaren Wunsch nach Sterbehilfe aus und formuliert die Redewendung „requiescat in pacem“ (er bzw. sie möge in Frieden ruhen) in die erste Person Singular um: requiescam.

Der Sohn, der sich vorwirft, dem Wunsch seiner Frau nach einer Verkürzung der Leidenszeit nicht entsprochen zu haben, besorgt auf Wunsch des Vaters und im Einverständnis mit der Mutter Zyankali. Das löst er Weihnachten 1992 in einem Glas Wasser auf und hält es dem Mann, der sterben will, an die Lippen. Dessen Tod tritt innerhalb von wenigen Minuten ein.

Weil für den Querschnittgelähmten ein Suizid unmöglich war und ihm der Sohn das Glas mit dem Gift nicht nur hinstellen konnte – wie Prof. Julius Hackethal am 12. April 1984 seiner Patientin Hermy Eckert –, sondern ihm die Flüssigkeit einflößen musste, wird er wegen aktiver Sterbehilfe belangt (und wegen eines Verstoßes gegen die Gefahrstoffverordnung).

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Unter dem Titel „Verwandtschaften“ veröffentlichte Ben Roeg drei „politische Real-Fiktionen aus sieben Jahrzehnten bundesdeutscher Utopie-Geschichte“ (so der Untertitel): „Acht und Sechzig“, „Wahl-Verwandtschaften“ und „Requiescam“.

Die erste Erzählung („Acht und Sechzig“) beginnt zwar 1938 und endet 2008, aber der weitaus größte Teil der Ereignisse spielt sich 1968 ab: Kaufhaus-Brandstiftung in Frankfurt am Main (2. April), Beate Klarsfelds Ohrfeige für Bundeskanzler Georg Kiesinger (3. April), Attentat auf Rudi Dutschke (11. April), Notstandsgesetze (30. Mai), APO, Prager Frühling … Ben Roeg schildert die 68er Bewegung nicht aus der Perspektive von Aktivisten wie Ulrike und Christian, sondern abwechselnd aus der Sicht der achtjährigen Tochter Brigitte und ihrer 60-jährigen Großmutter Marga. Darauf bezieht sich auch der Titel „Acht und Sechzig“. In Brigittes Sprache gibt es keine Satzzeichen, und der Text ist kursiv gesetzt.

Die den Zeitraum von 1940 bis 2011 überspannende Erzählung „Wahl-Verwandtschaften“ ist noch polyphoner: Eduard („Dottore“), Charlotte („Karlotta“), Ottilie und ein Offizier mit dem Spitznamen „Hauptmann“ wechseln sich ab. Sprachlich unterscheiden sich vor allem die Zeittabellen des Offiziers von den anderen Texten. An einer Stelle ist ein (fiktiver) Brief eingeschoben. Die Figurenkonstellation ähnelt der in Johann Wolfgang von Goethes Roman „Die Wahlverwandtschaften“, und die Namen sind sogar dieselben: Charlotte und Eduard, Ottilie und Hauptmann Otto. Ben Roegs Erzählung „Wahl-Verwandtschaften“ dreht sich um Kernkraft: Atombombe, NATO-Doppelbeschluss (12. Dezember 1979), Reaktorkatastrophen in Tschernobyl (26. April 1986) und Fukushima (11. März 2011), Bundestagsbeschluss zum Atomausstieg (30. Juni 2011).

In der Erzählung „Requiescam“ konkretisiert Ben Roeg das Thema Sterbehilfe an einem Beispiel. Der Text besteht aus den (fiktiven) Protokollen des Beschuldigten Harold T. Trota vom 29. Dezember 1992 und seiner Mutter Mechthild Trota vom 5. Januar 1993. Die Sprache ist also betont sachlich.

Für alle drei unter dem Titel „Verwandtschaften“ zusammengefassten Erzählungen gilt, dass gesellschaftspolitische Themen aus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland im Zentrum stehen. Ben Roeg prangert inhumane Auswirkungen religiöser, politischer, ethischer und anderer Ideologien und Institutionen an. Die historischen Fakten werden durch fiktive Figuren und deren Verhalten ergänzt. Allerdings dienen die Personen nur einer Konkretisierung beziehungsweise Veranschaulichung der Entwicklungen, um die es dem Autor in erster Linie geht. „Verwandtschaften“ bewegt sich also zwischen Sachbuch und Belletristik. Ben Roeg hat dafür die Bezeichnung „Real-Fiktion“ gewählt.

Ben Roeg ist das Pseudonym eines 1944 geborenen Professors der Psychologie (Habilitation: 1972) und der Allgemeinen Literaturwissenschaft (Habilitation: 1982). Der Psychologe strebte eine sozialwissenschaftliche Konzeption zwischen Natur- und Geisteswissenschaften an. Der Fokus des Literaturwissenschaftlers richtete sich auf Utopien einer humaneren Welt.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2018
Textauszüge: © Custos Verlag

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