Gerhard Roth, Nicole Strüber : Wie das Gehirn die Seele macht

Wie das Gehirn die Seele macht
Wie das Gehirn die Seele macht Originalausgabe: Klett-Cotta, Stuttgart 2014 ISBN: 978-3-608-94805-9, 425 Seiten e-Book: 978-3-608-10750-0
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Auf einen Abriss der Geschichte des Nach­denkens über die Frage nach dem Zusam­men­hang von Leib und Seele folgt eine Beschreibung des Gehirnaufbaus. Im Mittelteil geht es um die Entwicklung des Gehirns, der kindlichen Psyche und der Persönlichkeit. Ausführungen über das Bewusstsein, das Vorbewusste und das Unterbewusste leiten über zum letzten Teil, in dem sich die Autoren aus Sicht der Hirnforschung mit psychischen Erkrankungen, Persönlich­keits­störungen und Psychotherapien beschäftigen.
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Kritik

Bei einem Buch mit dem Titel "Wie das Gehirn die Seele macht" könnte man Ausführungen von Hirn­forschern über allgemein­psycho­logische Vorgänge wie Wahrnehmen und Denken erwarten. Gerhard Roth und Nicole Strüber beschäftigen sich jedoch mehr mit psychischen Erkrankungen und Therapien.
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Die Suche nach dem Sitz der Seele

Im ersten Kapitel des Buches „Wie das Gehirn die Seele macht“ beschäftigen sich Gerhard Roth und Nicole Strüber mit der Geschichte des Nachdenkens über die Frage nach dem Zusammenhang von Leib und Seele.

[…] war die Einengung des Seelenbegriffs von einem Lebensprinzip, Anima, Spiritus oder Odem genannt, auf empirisch erfassbare perzeptive, emotionale und kognitive Vorgänge ein Prozess der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte, der sich über zweieinhalb Jahrtausende hinzog, und ebenso lange dauerte die Suche nach dem „Sitz“ dieser Vorgänge.

Der Mensch gehört zur belebten Natur, denn wie eine Pflanze altert er und reagiert auf äußere Reize. Außerdem bewegt er sich zweckhaft wie ein Tier. Aber darüber hinaus verfügt er über Verstand und Vernunft, die Fähigkeit zu logischem Denken und sittlichem Handeln. Das mittelalterliche Christentum entwickelte die Idee von einer unsterblichen Seele, die sich bei der Zeugung oder Geburt eines Menschen mit dem Körper verbindet und ihn schließlich beim Tod entseelt zurücklässt. René Descartes (1596 – 1650) ging davon aus, dass eine ausgedehnte Substanz (res extensa, Materie) und eine unausgedehnte Substanz (res cogitans, Geist) zu unterscheiden seien.

Geist und Gefühle kann man – so scheint es – grundsätzlich nicht messen und wiegen; sie haben offenbar gar keine Ausdehnung und kein Gewicht, keinen definitiven Ort, und ihre zeitlichen Eigenschaften sind verwirrend.

Bis ins 19. Jahrhundert herrschte die Auffassung vor, Lebewesen würden von anderen Kräften (vis vitalis) und Prinzipien bestimmt als die unbelebte Natur. Dementsprechend hielt man „anorganische“ und „organische“ Chemie für grundverschieden. Während die Materie den Naturgesetzen folge, sei der Geist diesen nicht unterworfen, hieß es. Offen blieb die Frage, wie immaterielle Prozesse auf den Körper einwirken, ihn beispielsweise bewegen, ohne die Naturgesetze zu verletzen. Heute noch gibt es Geisteswissenschaftler, die überzeugt sind, dass sich seelisch-geistige Vorgänge einer naturalistischen Erklärung entziehen.

Gerhard Roth und Nicole Strüber halten die These über eine Dualität von Geist und Körper für unvereinbar mit den vorliegenden empirisch-experimentellen Erkenntnissen. Sie vertreten die naturalistische Sichtweise, demzufolge es sich auch beim Geistig-Psychischen um einen Naturprozess handelt.

Grundlage unserer Überlegungen ist eine „naturalistische“ Sicht des Seelischen, der zufolge sich Psyche und Geist in das Naturgeschehen einfügen und dieses nicht transzendieren.

Eine zentrale Frage in der Geschichte der Hirnforschung war die nach der Erregungsleitung. Experimente von Luigi Galvani (1737 – 1798) und Alessandro Volta (1745 – 1827) legten die These nahe, dass die Erregungsfortleitung in den Nerven nicht durch ein „Nervenfluidum“, sondern elektrisch geschieht. Der Schweizer Neuroanatom Wilhelm His (1831 – 1904) entdeckte, dass Nervenzellen wie andere Körperzellen auch, als diskrete Einheiten entstehen und Fortsätze (Axon, Dendriten) entwickeln. Dem britischen Neurophysiologen Charles Scott Sherrington (1857 – 1952) verdanken wir den Begriff der Synapse.

Inzwischen wissen wir, dass es zwar auch rein elektrische Synapsen gibt, zumeist aber elektrische und chemische Prozesse bei der Übertragung von Erregungen zusammenwirken: Ein Aktionspotenzial verursacht an der Präsynapse die Ausschüttung eines Transmitters, der den synaptischen Spalt überbrückt und an der Postsynapse eine weitere elektrische Erregung auslöst. Neurotransmitter können dabei sowohl Erregung verstärken (Exzitation) als auch hemmen (Inhibition).

Der Frage, ob die verschiedenen Gehirnfunktionen räumlich lokalisierbar sind, oder das Gehirn holistisch arbeitet, wird seit den Achtzigerjahren mit der Positronen-Emissions-Tomographie und funktionellen Magnetresonanz-Tomographie nachgegangen.

Gehirn und limbisches System

Im zweiten Kapitel beschreiben Gerhard Roth und Nicole Strüber zunächst den Aufbau des menschlichen Gehirns aus Neuronen, die Verlängerungen ausbilden: Axone für Afferenzen bzw. den Input und Dendriten für Efferenzen bzw. den Output.

Synapsen, Neuromodulatoren, Neuronen und dergleichen sind aber […] nur Kommunikationsmittel, nicht die eigentlichen Ursachen.

Die Tätigkeit einer einzelnen Gehirnzelle ist verhältnismäßig unbedeutend. Entscheidend ist das Zusammenwirken zahlreicher vernetzter Neuronen. Perzeptive, kognitive, affektiv-emotionale, exekutive, motorische – alle Leistungen des Gehirns sind Funktionen von neuronalen Netzwerken.

Das psychische Geschehen ist unabdingbar an die Aktivitäten corticaler und subcorticaler limbischer Zentren und deren Wechselwirkungen gebunden.

Größeren Raum in „Wie das Gehirn die Seele macht“ nehmen die Erläuterungen zum limbischen System ein, das Gerhard Roth und Nicole Strüber als „Sitz des Psychischen“ verstehen.

Beim limbischen System handelt es sich nicht um einen räumlich abgegrenzten Bereich des Gehirns, sondern um eine Funktionseinheit. Die untere Ebene des limbischen Systems reguliert die überlebenswichtigen Körperfunktionen und Verhaltensweisen.

Hier geschieht auch die Auslösung und Kontrolle angeborener Verhaltensweisen wie Flucht, Erstarren, Verteidigung, Aggression, Stressregulation und elementarer affektiv-emotionaler Zustände wie Wut und Zorn, Freude oder Trauer. Diese Funktionen bedingen auch die grundlegenden Eigenschaften unserer Persönlichkeit, Temperament genannt.

Auf der mittleren Ebene verorten Gerhard Roth und Nicole Strüber unbewusste Vorgänge der Emotionsentstehung und -kontrolle, der Verhaltensbewertung und Konditionierung. Sie wird vor allem durch die frühkindliche Bindungserfahrung geprägt.

Die obere, durch Areale der Großhirnrinde (Cortex) gebildete limbische Ebene hängt mit bewussten Gefühlen und Motiven zusammen, aber auch mit der Sozialisation. Diese Ebene ermöglicht Impulshemmung und Belohnungsaufschub, Frustrationstoleranz, Empathie, Reflexion, Zielsetzung und Planung zukünftigen Handelns. Auf der oberen Ebene des limbischen Systems wird versucht, die Welt zu erklären und das eigene Verhalten zu rechtfertigen.

Auf dieser Ebene findet das bewusste emotional-soziale Lernen statt. Hier werden die emotionalen Reaktionen der beiden unteren limbischen Ebenen verstärkt oder abgeschwächt, je nachdem wie es die Sozialisation vorgibt. Bewertungen auf dieser Ebene bilden die Grundlage für Gewinn- und Erfolgsstreben, für Freundschaft, Liebe, Hilfsbereitschaft, Moral und Ethik. Diese Ebene entwickelt sich in der späten Kindheit und Jugend aufgrund sozial-emotionaler Erfahrungen und ist entsprechend vornehmlich durch solche veränderbar. Für die kognitiv sprachliche Ebene sind im Gehirn Sprachzentren […] wichtig.

Die Sprache der Seele

Gerhard Roth und Nicole Strüber beschäftigen sich in diesem Kapitel mit Neuromodulatoren, Neuropeptiden und Neurohormonen wie zum Beispiel Dopamin, Serotonin, Acetylcholin, Noradrenalin, Opioide.

Das interne Beruhigungssystem ist überwiegend durch den Neuromodulator Serotonin bestimmt. […]
Generell vermag ein Mangel an Serotonin Depressionen, Ängstlichkeit, Risikoscheu, reaktive Aggression und Impulsivität hervorzurufen. Menschen erfahren die Welt dann typischerweise als bedrohlicher und sind fortwährend beunruhigt, was sich bei Männern oft in reaktiver körperlicher Gewalt äußert, bei Frauen eher in Schuldgefühlen und Selbstmordtendenz und bei beiden Geschlechtern in Depressionen.

Die Entwicklung des Gehirns und der kindlichen Psyche

Nach der Geburt wächst das Gehirnvolumen rasant weiter, weniger durch die Bildung weiterer Neuronen als durch die Entwicklung von Verzweigungen und Synapsen. Parallel dazu entstehen neue Blutgefäße und Gliazellen (Stützgewebe).

Neugeborene verfügen einem Modell zufolge über fünf „Vorläuferemotionen“: (1) Kummer/Sorge, (2) Interesse, (3) Wohlbehagen, (4) Erschrecken/Furcht, (5) Ekel. Die psychosomatische Entwicklung geht mit einer Differenzierung und Verfeinerung dieser Emotionen einher. Genom, frühkindliche Erfahrungen und Reifung bringen ein individuelles Temperament hervor, ein charakteristisches Muster der Reaktivität und Selbstregulation. Dabei gibt es offenbar in der Entwicklung des Kindes sensible Phasen ähnlich den beispielsweise von Konrad Lorenz in der Tierwelt beschriebenen Prägungsvorgängen.

Persönlichkeit und ihre neurobiologischen Grundlagen

Auf den griechischen, ab 161 in Rom tätigen Arzt Galen (um 129 – 216) geht die Lehre von vier Körpersäften zurück, die für die Ausprägung der Temperamente entscheidend sind: Blut (sanguis, Sanguiniker), Schleim (phlegma, Phlegmatiker), schwarze Galle (melas cholé, Melancholiker), gelbe Galle (cholé, Choleriker). Die Grundlage des Temperaments – eine wesentliche Eigenschaft der Persönlichkeit – ist demzufolge physiologischer Natur.

Moderner ist ein nach den Grundfaktoren Extraversion, Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit, Neurotizismus und Offenheit/Intellekt aufgeschlüsseltes Persönlichkeitsprofil („Big Five“).

Der Faktor Neurotizismus bezieht sich in hoher Ausprägung auf die Eigenschaften gespannt, ängstlich nervös, launisch, besorgt, empfindlich, reizbar, furchtsam, selbstbemitleidend, instabil, mutlos und verzagt, und in niedriger Ausprägung auf die Eigenschaften stabil, ruhig und zufrieden.
Der Faktor Offenheit/Intellekt schließlich bezeichnet in hoher Ausprägung die Eigenschaften breit interessiert, einfallsreich, phantasievoll, intelligent, originell, wissbegierig, intellektuell, künstlerisch, gescheit, erfinderisch, geistreich und weise, und in geringer Ausprägung die Eigenschaften gewöhnlich, einseitig interessiert, einfach, ohne Tiefgang und unintelligent.

Manche Forscher unterscheiden bei jedem der Big Five zwei Facetten.

Danach setzt sich Neurotizismus zusammen aus Rückzug (withdrawal) und Unbeständigkeit (volatility), Verträglichkeit aus Mitgefühl (compassion) und Höflichkeit (politeness), Gewissenhaftigkeit aus Fleiß (industriousness) und Ordnungsliebe (orderliness), Extraversion aus Begeisterungsfähigkeit (enthusiasm) und Durchsetzungsfähigkeit (assertiveness) und schließlich Offenheit/Intellekt aus eben Offenheit gegenüber Neuem (openness) und Intellekt (intellect) mit Nähe zu Kreativität und Intelligenz.

Andere Autoren differenzieren aufgrund von Überlappungen dieser Persönlichkeitsmerkmale nur zwei kontrastierende oder sich polar gegenüberstehende Grundfaktoren: Extraversion und Neurotizismus.

Auf jeden Fall charakterisiert der Umgang mit körperlichen und psychischen Belastungen eine Person.

Zweifellos bildet die Art, wie ein Mensch mit körperlichen Belastungen wie Krankheit und Schmerz sowie mit psychischen Belastungen wie Bedrohung, Herausforderungen, Enttäuschungen und Niederlagen, Beschämung und Ausgrenzung umgeht, den Kern seiner Persönlichkeit.

Gerhard Roth und Nicole Strüber beschreiben sechs psychoneuronale Grundsysteme: Stressverarbeitung, Selbstberuhigung, Bewertung, Belohnung bzw. Belohnungserwartung, Impulshemmung, Bindung und Realitätssinn.

An der Ausprägung der Persönlichkeitsmerkmale sind Genom, Umwelt und Entwicklung beteiligt.

So sind zwar die Gene in der Regel über wenige Generationen unveränderlich, sie werden aber als väterliche und mütterliche Allele bei jedem Zeugungsakt neu gemischt, und zudem greifen teils vorgeburtlich und teils früh nachgeburtlich Umwelteinflüsse wie die Qualität der mütterlichen Fürsorge über epigenetische Prozesse verändernd in die Genexpression ein.

Das Bewusstsein, das Vorbewusste und das Unterbewusste

Mit der Entdeckung des Unbewussten wird Sigmund Freud assoziiert. Weniger bekannt ist, dass er vergeblich versuchte, eine Theorie des „seelischen Apparates“ auf der Grundlage der Neuronentheorie zu entwickeln. (Die Schrift „Entwurf einer Psychologie“ aus dem Jahr 1896 wurde erst 1950 posthum veröffentlicht.) Von Freud stammt die Schichtung des Psychischen in ein Unbewusstes, ein Vorbewusstes und ein Bewusstes bzw. Es, Ich und Über-Ich.

Das bewusste Ich ist nach Freud also eingezwängt in ein Netzwerk von dreierlei Einflüssen, nämlich denen des Es bzw. Unbewussten, denen des Über-Ich und denen der Realität.

Freud vermutete seinerzeit zu Recht, dass alle Hirnvorgänge, die außerhalb der Großhirnrinde, also subcortical ablaufen, dem Bewusstsein unzugänglich sind. Was er nicht wusste oder wissen konnte, war die Tatsache, dass auch viele Prozesse, die innerhalb der Großhirnrinde stattfinden, nicht von Bewusstsein begleitet sind.

Es gebe keine bewussten Prozesse ohne damit verbundene neuronale Vorgänge, postulieren Gerhard Roth und Nicole Strüber. Aber die meisten neuronalen Prozesse laufen ab, ohne bewusst zu werden.

Geist und Bewusstsein beruhen auf Prozessen im Gehirn, die größtenteils unbewusst oder vorbewusst ablaufen.

Nach den Erkenntnissen der Hirnforschung scheint das neuronale Geschehen die psychischen Erlebniszustände zu verursachen und nicht umgekehrt.

Jeder bewussten Wahrnehmung geht eine 200 bis 300 Millisekunden lange unbewusste Verarbeitung von Erregungen voraus. Das prozedurale Gedächtnis (Fertigkeitsgedächtnis) arbeitet ebenfalls weitgehend unbewusst: Beim Autofahren schalten wir, ohne darüber nachzudenken, und beim Tippen bewegen sich die Finger ohne bewusste Steuerung. Bewusstheit ist allerdings eine Voraussetzung bei der Verankerung von Informationen im Langzeitgedächtnis. Als Träger oder Produzent des Bewusstseins gilt das selbstorganisierende System der Großhirnrinde.

Als Neurobiologen gehen wir davon aus, dass unsere Erlebniswelt – also unsere Wahrnehmungen, Gedanken, Gefühle, Vorstellungen und Erinnerungen – ein „Konstrukt“ unseres Gehirns sind.

Bewusstseinsprozesse haben eine sehr spezielle Funktion: Sie schaffen einen mentalen oder virtuellen Raum, in dem Körper, Welt und Ich direkt, ohne Vermittlung des Gehirns miteinander zu interagieren scheinen. Ein solcher mentaler Raum hat große Vorteile für komplexe Informationsverarbeitung und ist Voraussetzung für vielschichtiges Problemlösen, längerfristige Handlungsplanung und die Verankerung von Inhalten im deklarativen Langzeitgedächtnis.

Neben der allgemeinen Wachheit und der gezielten Aufmerksamkeit gibt es auch eingeschränkte Bewussteinszustände: Dösen, Benommenheit, Stupor, Koma.

Psychische Erkrankungen und Persönlichkeitsstörungen

Die Psychoanalyse Freuds geht davon aus, dass neurotische Störungen durch Verdrängungen – also unbewusste Prozesse – verursacht werden.

Zentraler Ausgangspunkt der psychoanalytischen Therapie, wie Freud sie verstand, ist die Annahme, dass gegenwärtige psychische Störungen vornehmlich durch unbewusste oder unbewusst gewordene psychische Vorgänge in Kindheit und Jugend verursacht werden, die von der Psyche als unangemessen angesehen und deshalb ins Unbewusste „verdrängt“ wurden.

Neurowissenschaftler interessieren sich vor allem dafür, ob sich bei psychischen Erkrankungen Auffälligkeiten im Gehirn erkennen lassen. Sie fanden Zusammenhänge zwischen Depressionen und neurochemischen Auffälligkeiten sowie Änderungen in der Struktur bzw. Funktion verschiedener Hirnbereiche. Ähnliches gilt für andere psychische Erkrankungen wie posttraumatische Belastungsstörungen oder das Borderline-Syndrom. Gerhard Roth und Nicole Strüber sind der Auffassung, dass psychische Erkrankungen „von jeweils spezifischen neuromodulatorischen Fehlregulationen sowie von strukturellen und funktionellen Veränderungen limbischer Hirnregionen begleitet werden“.

In der Tat kann man mithilfe bildgebender Verfahren, vornehmlich der funktionellen Magnetresonanztomographie und zum Teil des Elektro- bzw. Magnetenzephalogramms, nachweisen, dass diese Zentren bei psychischen Erkrankungen wie Depression, Angststörungen, posttraumatischer Belastungsstörung, Zwangsstörungen, der Borderline-Persönlichkeitstörungen und der antisozialen Persönlichkeitsstörungen deutlich von der Norm abweichende Aktivitätsmuster aufweisen.

Psychotherapien

Auf breitem Raum erläutern Gerhard Roth und Nicole Strüber in ihrem Buch „Wie das Gehirn die Seele macht“ Psychoanalyse und Verhaltenstherapie.

Sie sind der Meinung, dass zumindest die kurzfristige Wirkung jeder Psychotherapie, gleichgültig, ob Psychoanalyse oder Verhaltenstherapie, auf einem Vertrauensverhältnis zwischen Patient und Therapeut basiert, auf der Erwartung des Patienten, dass der Therapeut ihm hilft und der Überzeugung des Therapeuten, dass er dazu fähig ist („therapeutische Allianz“).

Dieses häufig als „Placeboeffekt“ bezeichnete Phänomen ist hochwirksam und besteht aus neurobiologischer Sicht in einer deutlich erhöhten Ausschüttung von Oxytocin und endogenen Opioiden, was stärkend auf das Selbstberuhigungssystem und das Belohnungssystem wirkt und die Stressreaktion abschwächt.

Dementsprechend propagieren Gerhard Roth und Nicole Strüber in „Wie das Gehirn die Seele macht“ ein Zwei-Phasen-Modell der Psychotherapie:

In der ersten Phase ist der Hauptwirkfaktor die therapeutische Allianz, verbunden mit einer massiven Ausschüttung von Oxytocin und endogenen Opioiden, die dann eine spürbare Besserung der Symptomatik bewirkt. In leichteren Fällen psychischer Störung kann dies tatsächlich einen guten Behandlungserfolg erbringen. Bei schwereren psychischen Störungen, die auf einer Interaktion zwischen genetisch-epigenetischen Vorbelastungen und frühkindlichen negativen Erfahrungen beruhen, ist eine zweite und eher „implizite“ Phase der Therapie notwendig, in der sich wie erwähnt strukturelle Änderungen im Bereich der Basalganglien ergeben müssen.

Die Wirkungsweise von Psychotherapien aus Sicht der Neurowissenschaften

Einen Schwerpunkt der Darstellung bilden Ausführungen über die Wirksamkeit von Psychotherapien aus Sicht der Hirnforschung. Im Zentrum steht dabei die Frage, wie Korrelate einer erfolgreichen Psychotherapie im Gehirn aussehen und mit welchen Mitteln die Hirnforschung sie erfassen könnte.

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Mit der Gründung des Hanse-Wissenschaftskollegs in Delmenhorst begannen 1997 Versuche, ein neurobiologisches Verständnis des Seelisch-Psychischen, der Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit als Träger dieses Seelischen, der Entstehung psychischer Erkrankungen und der Wirksamkeit von Psychotherapie zu erreichen. Dabei sollten Neurobiologen, Psychologen, Psychiater, Psychotherapeuten und Philosophen zusammenarbeiten. Einen Erfolg in diesen Bemühungen sah der Biologe und Hirnforscher Prof. Dr. Dr. Gerhard Roth (* 1942), der Rektor des Hanse-Wissenschaftskollegs von 1997 bis 2008, als er eingeladen wurde, bei der Lindauer Psychotherapiewoche vom 22. April bis 27. April 2001 eine Vorlesung mit dem Titel „Wie das Gehirn die Seele macht“ zu halten.

Außer Fachbüchern und -artikeln schrieb Gerhard Roth populärwissenschaftliche Bücher wie „Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen“ (1994), „Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert“ (2001), „Aus Sicht des Gehirns“ (2003) – und nun zusammen mit der am Institut für Hirnforschung der Universität Bremen tätigen Psychologin und Neurobiologin Dr. Nicole Strüber „Wie das Gehirn die Seele macht“.

Gerhard Roth und Nicole Strüber äußern sich zwar distanziert über den Reduktionismus, bekennen sich aber klar zum Naturalismus. Dementsprechend versuchen sie auch gar nicht, sich mit metaphysischen Vorstellungen von der Seele auseinanderzusetzen. Ohne den Begriff „Seele“ zu definieren, benutzen sie ihn implizit als Synonym für Geist, Bewusstsein und das Freudsche Ich. Was Gerhard Roth und Nicole Strüber unter „Seele“ verstehen, wird ihrer Ansicht nach vom Gehirn gemacht (so auch der Titel): Es gebe keine bewussten Prozesse ohne damit verbundene neuronale Vorgänge, postulieren sie.

Das Buch „Wie das Gehirn die Seele macht“ beginnt mit einem sehr kurzen Abriss der 2000-jährigen Geschichte des Nachdenkens über die Frage nach dem Zusammenhang von Leib und Seele. Dabei werden nur ein paar Meilensteine erwähnt. Es folgt eine sehr gut verständliche Beschreibung des Gehirnaufbaus. Dabei wird deutlich, dass Gerhard Roth und Nicole Strüber das limbische System für den „Sitz der Seele“ halten. Die „Sprache der Seele“ – so die Überschrift eines Kapitels über Neuromodulatoren, Neuropeptide und Neurohormone – besteht aus Erregungsprozessen in neuronalen Netzwerken. Im Mittelteil des Buches „Wie das Gehirn die Seele macht“ geht es um die Entwicklung des Gehirns, der kindlichen Psyche und der Persönlichkeit. Ausführungen über das Bewusstsein, das Vorbewusste und das Unterbewusste leiten über zu den drei letzten Kapiteln, in denen sich Gerhard Roth und Nicole Strüber aus ihrer Sicht, also aus der Perspektive der Hirnforschung, mit psychischen Erkrankungen und Persönlichkeitsstörungen sowie Psychoanalyse und Verhaltenstherapie beschäftigen.

Bei einem Buch mit dem Titel „Wie das Gehirn die Seele macht“ könnte man Ausführungen von Hirnforschern über Fühlen und Wahrnehmen, Lernen und Denken, Erinnern und Vergessen, Planen und Handeln erwarten. Aber darauf gehen Gerhard Roth und Nicole Strüber allenfalls im Zusammenhang mit anderen Themenbereichen ein. Auch die Kernfrage nach dem freien Willen streifen sie nur kurz und oberflächlich. Stattdessen beschäftigen sie sich auf einem Drittel der Seiten mit psychischen Erkrankungen und Persönlichkeitsstörungen, Psychoanalyse und Verhaltenstherapie.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2014
Textauszüge: © J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger

Zeruya Shalev - Späte Familie
Der Gedankenfluss der Ich-Erzählerin Ella ergibt seitenlange, nur durch Kommata getrennte Satzketten. "Späte Familie" ist ein sprachgewaltiger, unpathetischer, feinfühliger und erschütternder Roman.
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