Ángeles Saura : Der Zweifel

Der Zweifel
Originalausgabe: La duda Nueva Galaxia Gutenberg, Barcelona 2002 Der Zweifel Übersetzung: Jürgen Dormagen Suhrkamp Verlag, Frankfurt (Main) 2003 ISBN 3-518-41434-8, 119 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Brunhild Cornelius Björnsrom behauptet, eines der bedeutendsten Werke des spanischen Barockmalers Francisco Meltán stamme nicht von ihm, sondern von einer Neapolitanerin. Da kann Don César Rinconeda, der 66 Jahre seines Leben der Wiederentdeckung Meltáns widmete, nicht untätig bleiben ...
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Kritik

Weitaus das meiste erfahren wir aus einem mäandernden inneren Monolog des Protagonisten. "Der Zweifel" ist ein witziger, furioser, giftig funkelnder Roman voller Esprit von Ángeles Saura.
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I. Don César faciebat

César Rinconeda war ein bettelarmer Briefträger, der einmal sogar sein Hündchen Chuso töten und heimlich essen musste, um nicht zu verhungern, doch abends studierte er fleißig und später brachte er es durch die Wiederentdeckung des vergessenen spanischen Barockmalers Francisco Meltán (1587 – 1632) zum anerkannten Kunsthistoriker. Der Kauf eines von ihm als „Bodegón de Ysalbos“ in die Kunstgeschichte eingeführten Gemäldes von Francisco Meltán, auf das er in einem heruntergekommenen Adelspalast gestoßen war, bedeutete die entscheidende Zäsur in seinem Leben. Seither fühlt er sich als Wiedergänger und Alter Ego des Barockmalers.

Ich, Excmo. Señor Don César Rinconeda, Lehrstuhlinhaber, Kunsthistoriker und Ehrenmitglied der Akademie der Bildenden Künste mit mehrfacher Auszeichnung, habe dem Barockmaler Francisco Meltán sechsundsechzig meiner jüngst vollendeten vierundachtzig Jahre gewidmet, und ich bin er und er ist ich […]

[…] weil er also war, wie er war, schmerzlich vergessen, und weil ich nicht dazu geboren war, Licht und Glanz der Malerei zu schaffen, sondern Schatten zu sein, wusste ich an diesem Tag in einem Blitz quid divinum, dass ich dies sein würde, Schatten, ja, aber nicht mehr und nicht weniger als der Schatten seiner Malerei; tätiger Schatten, der schließlich zu unser beider Glanz führen würde, denn als ich dieses kleine Bodegón betrachtete, das da vor sich hin kümmerte im modrigen Saal des Palastes von Ysalbos […] spürte ich, dass ich nicht nur vor dem Gipfelpunkt seines Tuns und Schaffens stand, […] sondern auch vor dem Gipfelpunkt meines Tuns […]

Mit 51 heiratete Don César Rinconeda zum dritten Mal, und zwar eine bildschöne Biochemikerin namens Inés, mit der er über Kunst reden konnte. Sie waren glücklich …

[…] bis jenes vermaledeite Jahr kam, das zehnte, und außerdem im März, als du mir zum erstenmal mit dem Lied vom Kind in den Ohren lagst, und schon war der erste Klecks auf dem Gemälde; denn was für ein Dickkopf, Inés, was für eine Litanei; den lieben langen Tag ging es, von wegen, was ich für ein Egoist sei, von wegen Liebe ohne Frucht, von wegen du fühltest dich nicht als vollständige Frau, nicht selbstverwirklicht, kurz, all diese Zuchtperlen eures weiblichen Dialektes, aufgereiht in Tränenform, Tränengüssen, bis ich eines Tages entnervt sagte „also denn!, dann eben ein Kind“; und noch am selben Tag machten wir uns ans Einpflanzen, und in einem weiteren kalten März ist uns ein Ros‘ entsprungen […]

Er liebte seine Tochter Inesita. Zehn Jahre lang, dann wurde sie zu einem verzogenen Sukkubus, der seine siebentausend Launen austobte und von der er sich ausgebeutet fühlte.

[…] die dich auf die leidige Rolle eines Verpflegungsautomaten beschränken, wie es sie im Eingang des Zentralarchivs gibt, wo du auf einen Knopf drückst, und zack!, hast du ein Brötchen, anderer Knopf, zack, Getränke, ein weiterer, zack, eine Schachtel Zigaretten, und wenn du drückst und sie zieren sich, verpasst du ihnen einen anständigen Stoß, und die Ärmsten spucken aus, was du wolltest, und manchmal sogar noch eine Zugabe, um deinen Zorn zu besänftigen, eine einsame Münze; nein, wahrlich, das traute Heim verwandelt sich in einen schlichten Fressalienautomaten […]

Da ließ er sich von Inés scheiden.

[…] haben wir die Angelegenheit schließlich mit Anstand und einer gewissen Sauberkeit über die Bühne gebracht; einer gewissen, sage ich, denn ich vergesse nicht die Version, die du einigen Freunden dargeboten hast, indem du das Ereignis auf deine Weise an die große Glocke gehängt, es nämlich meiner unmenschlichen Gefühllosigkeit angekreidet hast, un-menschlich, hast du ihnen unter die Nase gerieben, was mir doch allerlei Gerede und Gewitzel hinter meinem Rücken eingehandelt hat […]

Don César Rinconeda ist ein Misanthrop.

Wenn er an seiner Zeit etwas rundum ablehnte, dann war das die miserable Erziehung, die sich aller bemächtigt hatte und mit der alle sich großtaten als Zeichen von Zeitgemäßheit und Jugendlichkeit und demokratisch-moderner Gesinnung.

1992 fällt dem 84-Jährigen auf, dass sowohl das Geburtsjahr als auch das Todesjahr des von der Pest hingerafften Barockmalers ebenso wie das aktuelle Jahr und sein eigenes Lebensalter die Quersumme drei ergeben (1587: 21: 3; 1632: 12: 3; 1992: 21: 3; 84: 12: 3). Gerade jetzt gerät sein Lebenswerk in Gefahr: Die skandinavische Doktorandin Brunhild Cornelius Björnstrom will herausgefunden haben, dass ausgerechnet Francisco Meltáns Meisterwerk, das Bodegón, nicht von ihm, sondern von Frasquina Mazzanzini stammt. Zwei kaum noch leserliche Briefe und zwei Quittungen beweisen angeblich die Urheberschaft der in Spanien als Tochter des neapolitanischen Malers Pietro Mazzanzini – eines mittelmäßigen Klein- und Hungerkünstlers – geborenen Künstlerin.

[…] jemand, der behauptet, das Bodegón könne von einer Frasquina stammen, jemand, der Weihnachten mit roter Schlafmütze auf dem Kopf feiert und an ein Walhalla glaubt, worin obskure Götter sich Bier einschenken lassen, dieses derbe Gebräu, und der einen echten August nicht ertragen kann, Iss bin sson hier, Don Ssésar, sagte sie gestern Abend, als sie gleich nach der Ankunft bei mir anrief, Iss bin sson hier, in der Pension ssön untergebracht, aber was für ssreckliche Hitze macht es hier!, nicht? das hat sie zu mir gesagt, nun also, so ein Trampel […]

Ausgerechnet eine Frau bedroht sein Lebenswerk.

[…] diese Schicksen, die sich mit unermüdlicher Inbrunst gegenseitig die Leiter halten und ihre Schäfchen ins Trockene bringen, während sie die Welt mit ihren Launen, ihrem Unverstand und ihrer Berechnung ins Chaos stürzen […]

Durch die Bedrohung erhält Don César Rinconeda neuen feurigen Schwung. Vor 122 Tagen – im April 1992 – arbeitete er einen minuziösen Plan aus und lud Brunhild Cornelius Björnstrom in sein kastilisches Landhaus ein. Vier Monate lang warb er um ihr Vertrauen. Drei Monate lang trocknete er Bitterkürbis, Königskerze und Alraune. Dann zermahlte er sie zu einem zinnoberroten Pulver, dessen Wirksamkeit er gestern erfolgreich ausprobierte, und zwar an der rattenfelligen Katze „Chatryn“, die er „Charybdis“ zu rufen pflegte.

Heute Vormittag erwartet er den Besuch der jungen Skandinavierin.

II. César reverenter absolvit

Abends erhält Don César Rinconeda einen Anruf, und er antwortet:

„Was für eine schreckliche Nachricht!, das ist doch nicht möglich, so gesund und voller Leben … aber so ist das Leben … natürlich, die Hitze, bestimmt war es das … ja, so ist es, noch heute Vormittag war sie hier … Sie wissen ja nicht, wie Leid mir das tut […]

Er erinnert sich, wie sich Brunhild Cornelius Björnstrom vertrauensvoll bei ihm aufs Sofa setzte.

Ton Tsesar, hier habe ich Ihnen alles ssön aufgessrieben und mit alle ssugehörige Anmerkungen ssön belegt, hat sie gesagt, als sie mir ihre Studie über das Bodegón und Frasquina übergab.

Nun entfernt er aus ihrer auf einer Diskette gespeicherten Arbeit alle Hinweise auf das Bodegón. Sein Plan sah vor, die erbeuteten Papiere im Reißwolf zu vernichten, aber das erscheint ihm nun zu prosaisch für das Autodafé, und er verbrennt sie deshalb ein einem stilvollen Öfchen aus dem 17. Jahrhundert.

Er tat ihr das Gift eigens in ein Glas Ribera Gran Reserva Especial – einen Wein, den ihm das Museum für Religiöse Skulptur geschenkt hatte – und reichte ihr dazu Oliven, Chorizohäppchen, Serranoschinken und gut gereiften Ziegenkäse. Im Nachhinein rechtfertigt er die Tat vor sich selbst:

[…] habe ich dir etwa mit dem Präparat deinen Ruhm genommen, nein, ich zerstörte nur so viel, wie unumgänglich ist, eine bloße Anekdote, die dir keinen Deut von deinem Talent nimmt; und musstest du etwa erleiden, was so mancher drangsalierte und bis zum Selbstmord getriebene Forscher erlitt […] ich habe dich auf einen Schlag exekutiert, ohne Folter oder Qualen und wie die Natur selbst, und es geschah nicht aus Hass, sondern in extremis, weil du mich, der ich Gewalt so verabscheue, dazu gezwungen hast, nur damit nicht mir Gewalt angetan wird […]

Don César Rinconeda zerreibt Nepenthes in einem Mörser, schüttet den Puder auf eine Marmorplatte und feuchtet ihn mit einem Gemisch aus Lein-, Nuss- und Nelkenöl an, bevor er Pinienbalsam und Sandarak hinzufügt. Dann legt er das Bodegón mit dem Gesicht nach unten hin und schreibt mit einem einfachen Pinsel und modernem Zinkweiß „César Rinconeda reverenter absolvit. Neunzehnhundertzweiundneunzig“ auf die Rückseite. Anschließend dreht er das Gemälde um, ergreift einen feinen Marderhaarpinsel und ergänzt die Signatur „F. M.“ rechts unten mit der Nepenthes-Farbe: „F. M. faciebat, MDCXXXII“.

Ein paar Stunden später stirbt Don César Rinconeda.

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Ein 84 Jahre alter, misanthroper spanischer Kunsthistoriker kämpft um sein Lebenswerk, das ausgerechnet von einer akkurat-methodisch vorgehenden jungen Skandinavierin bedroht wird, einer protestantischen Aufklärerin aus dem hohen Norden.

Das äußere Geschehen in „Der Zweifel“ findet an einem einzigen Tag im August 1992 statt. Don César Rinconeda bereitet den Mord an seiner Widersacherin vor und vernichtet anschließend das von ihr gesammelte und ihm anvertraute Material, mit dem sie beweisen wollte, dass ein Gemälde, das er für das bedeutendste Werk des von ihm wiederentdeckten spanischen Barockmalers Francisco Meltán hält, in Wahrheit von einer kaum bekannten Italienerin stammt. – Den Mord spart Ángeles Saura in „Der Zweifel“ aus.

Don César Rinconeda wird nuancenreich porträtiert; alle anderen Romanfiguren bleiben im Schatten.

Kurze Abschnitte in „Der Zweifel“ von Ángeles Saura werden in der dritten Person Singular erzählt. Nicht selten wechselt die Perspektive mitten im Satz von der dritten zur ersten Person. Weitaus das meiste erfahren wir aus einem furiosen inneren Monolog des Protagonisten, einer mäandernden Suada von teilweise seitenlangen Schachtelsätzen. (Keine Angst: Das liest sich trotzdem ganz leicht.) Don César Rinconeda spricht nicht nur mit sich selbst, sondern im Geist auch mit seinem Alter Ego Francisco Meltán, seiner Ex-Frau Inés und mit Brunhild Cornelius Björnstrom, der Ermordeten.

Da gerät nicht nur eine Repräsentantin der nordischen Welt mit einem Vertreter der mediterranen Kultur in Konflikt, sondern es stehen auch zum Beispiel Alchimie und Zahlenmystik gegen Biochemie und elektronische Datenverarbeitung.

„Der Zweifel“ ist ein rabenschwarzer, witziger, giftig funkelnder Roman voller Esprit von Ángeles Saura.

Das im Suhrkamp Verlag erschienene Buch ist fadengebunden und trägt unter dem schwarzen Schutzumschlag einen passenden zinnoberroten Leineneinband.

Bei Ángeles Saura (*1947) handelt es sich um die jüngere Schwester des spanischen Filmregisseurs Carlos Saura und des 1998 verstorbenen Malers Antonio Saura. „Der Zweifel“ ist ihr Debütroman.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2003
Textauszüge: © Suhrkamp Verlag

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