Rafik Schami : Das Geheimnis des Kalligraphen

Das Geheimnis des Kalligraphen
Das Geheimnis des Kalligraphen Originalausgabe: Carl Hanser Verlag, München 2008 ISBN: 978-3-446-23051-4, 458 Seiten dtv, München 2014 ISBN: 978-3-423-14291-5, 548 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Hamid Farsi gilt in den Fünfzigerjahren als der beste Kalligraph in Damaskus. Um seine Reformideen verwirklichen zu können, gründet er im Frühjahr 1957 eine eigene Schule. Dadurch zieht er sich den Zorn fundamentalistischer Muslime zu, die jede Veränderung der arabischen Schrift für Häresie halten. Als Hamids Ehefrau Nura mit seinem christlichen Schüler Salman durchbrennt, er aber den Unternehmer Nassri Abbani für den Liebhaber seiner Frau hält und auf Rache sinnt, stolpert er in eine von seinem Gegner Karam Midani gestellte Falle ...
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Kritik

In der Künstlertragödie "Das Geheimnis des Kalligraphen" plädiert Rafik Schami für Toleranz und gegen die gewaltsame Unterdrückung von Reformen durch Fundamentalisten. Statt stringent einen Plot zu entwickeln, mäandert er wie ein orientalischer Märchenerzähler durch viele Geschichten.
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Hamid Farsi gilt in den Fünfzigerjahren als der beste Kalligraph in Damaskus. Er versteht sich als Erbe von Ibn Muqla, des bedeutendsten arabischen Kalligraphen überhaupt, und fühlt sich einer tausendjährigen Tradition verpflichtet.

Seine Eltern waren bei einem Busunfall umgekommen, als er elf oder zwölf Jahre alt war. Damals lernte er bereits bei Salem Serani, dem großen Meister der Kalligraphie. Nach neun Jahren Ausbildung nahm ihn der Lehrherr beiseite und bot ihm den Meistertitel an. Das Zertifikat sollte er selbst als Abschlussarbeit anfertigen.

„Und sobald ich es unterschrieben habe, nimmst du es mit dir nach Hause. Du bist noch viel zu jung, und der Neid der anderen könnte dir schaden. Lass es unser Geheimnis sein.“

Danach berichtete ihm Meister Serani vom Geheimbund der Wissenden und der Geheimschrift Siyakat. Gegründet worden war der Geheimbund von Yakut al Musta’simi, einem Schüler des Meisters aller Meister Ibn Muqla. Hamid ließ sich aufnehmen und wurde zwei Jahre später zum Großmeister ernannt. Seither bemüht er sich um eine Verbesserung der arabischen Schrift und hält seine geheimen Erkenntnisse über die Kalligraphie in einem dicken Buch fest.

Maha, die Tochter des Meisters Serani, Hamids erste Ehefrau, starb zwei Jahre nach der Eheschließung.

Später machte Hamid sich selbstständig. Zum Verdruss seines früheren Meisters übernahm er auch Aufträge der katholischen und der orthodoxen Kirche. Die Einnahmen ermöglichten es ihm, das schöne Haus des Juden Ehud Malaki in Damaskus zu kaufen.

Nura, die einzige Tochter des Scheichs Rami Arabi, eines Sufigelehrten, wurde Hamids zweite Ehefrau.

Nura hatte eine der besten muslimischen Schulen in Damaskus besucht. Allerdings rebellierte ihre analphabetische Mutter Sahar gegen die Absicht ihres Mannes, Nura das Abitur machen zu lassen. Sahar bestand darauf, dass Nura die Schulausbildung mit der mittleren Reife beendete. Im Alter von 15 Jahren begann das Mädchen eine Lehre bei der Schneiderin Dalia. Mit 17 musste Nura ihre Mutter und die Nachbarin Badia ins Hammam begleiten, wo Hamid Farsis Tante Majda ihren nackten Körper begutachtete. Danach wurde sie mit dem Kalligraphen verheiratet. Seither darf sie nicht mehr arbeiten, obwohl sie sich zu Hause langweilt. Ein halbes Jahr nach der Eheschließung schlug Hamid sie zum ersten Mal, und er verbot ihr, das Haus ohne Kopftuch zu verlassen. Neue Bücher darf sie sich nicht ohne seine Genehmigung kaufen, und ihre bisherigen Vorschläge lehnte er allesamt mit der Begründung ab, das seien moderne Autoren, deren Schriften das Familienleben und die Moral zerstören. Nura versuchte, sich mit den Nachbarinnen zu unterhalten, aber sie fand keine Frau, mit der sie ein sinnvolles Gespräch führen könnte.

[…] offen gesagt langweilten sie die Frauen. Sie waren einfache Menschen, die, sobald das Gespräch nicht um Männer, Kochen und Kinderkriegen ging, worin sie wahre Expertinnen waren, nichts über das Leben zu sagen hatten. Sie konnten weder lesen noch schreiben. Nach mehreren jämmerlich gescheiterten Versuchen, den Frauen irgendetwas über die Welt außerhalb ihres Ehetrotts beizubringen, blieb auch Nura stumm.

Nura beginnt Tagebuch zu schreiben, und mit jeder vollen Seite vergrößert sich ihre Distanz zu Hamid.

Salman, Hamid Farsis vielversprechendster Gehilfe, ist ein Christ.

Er wurde 1937 im so genannten Gnadenhof – einem Armenviertel von Damaskus – geboren, und weil seine Eltern kein Geld hatten, kümmerte sich die Hebamme statt um die erste (und einzige) Niederkunft der 20-jährigen Mariam um die gleichzeitig gebärende Frau eines Gärtners, von dem sie wenigstens Obst und Gemüse erhielt. 1945 wurde Salman in die Sankt-Nikolaus-Schule für arme Christen aufgenommen, aber nach drei Jahren brach er den Schulbesuch ab. Er zog es vor, sich von der Nachbartochter Sarah unterrichten zu lassen.

Tatsächlich wurde Sarah später eine der besten Lehrerinnen des Landes und heiratete nach einer stürmischen Liebesaffäre einen Busfahrer, der sie bis zum letzten Tag seines Lebens verehrte. Neben ihrem Beruf erzog sie zwölf Kinder zu tüchtigen Handwerkern, Lehrern und Händlern. Sogar eine Ärztin und eine Rechtsanwältin waren unter ihren Kindern […].

Mit der Mutter zusammen floh Salman vor seinem gewalttätigen Vater in das leer stehende Haus eines Verstorbenen, und nachdem er sich eines Hundes angenommen hatte, den er „Flieger“ nannte, wagte der Vater es nicht mehr, sie dort zu belästigen. Allerdings mussten Mariam und Salman das Haus nach einem Jahr wieder verlassen, weil sich die Erben der Verstorbenen geeinigt hatten und es der katholischen Kirche verkauften, die dort ein konfessionell gebundenes Altersheim einrichtete.

Während Mariam nichts anders übrig blieb, als in den Gnadenhof zurückzukehren, hatte Salman Glück, denn Flieger und er retteten einem im seichten Wasser des Flusses bewusstlos liegenden Mann namens Karam Midani das Leben, und der beschäftigte Salman dann nicht nur als dritten Laufburschen in seinem Kaffehaus, sondern stellte ihm außerdem ein Zimmer zur Verfügung. Warum man ihn zusammengeschlagen und ins Wasser geworfen hatte, verriet Karam zwar nicht, aber Salman fand später heraus, dass es vermutlich mit Karams Homosexualität zu tun hatte. Er liebte den Friseur und Bodybuilder Badri.

Im Herbst 1955 überredete Karam Salman, sich bei dem angesehenen Kalligraphen Hamid Farsi zu bewerben. Dabei solle er auf keinen Fall mit seiner Bildung prahlen, rät der Kaffeehausbesitzer:

„Du kannst ruhig sagen, du warst nur bis zur zweiten Klasse in der Schule und hast kein Interesse an Büchern. Und dann kannst du seine Kunst heimlich lernen. Kalligraphen hüten eifersüchtig ihre Geheimnisse. Du musst also dieses goldene Handwerk heimlich lernen.“

Salman wird von dem Kalligraphen eingestellt, lernt eifrig und gewinnt dessen Vertrauen. Obwohl Hamid seiner Frau jeglichen Umgang mit Christen verboten hat, beauftragt er Salman, jeden Tag vom Atelier zum Wohnhaus des Meisters zu laufen und dessen Mittagessen zu holen. So lernen Nura und Salman sich kennen.

Mehr als zweihundert Mal wiederholte sich diese Szene in den sieben Monaten zwischen Oktober 1955 und April 1956.

Eines Tages küsst Nura den Boten ihres Mannes. Salman erzählt Karam, dass er sich in die Ehefrau seines Meisters verliebt habe, und der Kaffeehausbesitzer stellt ihm daraufhin ein Fahrrad zur Verfügung. Das soll er bei dem mit Karam befreundeten Töpfer Yassin unterstellen und dem Kalligraphen verheimlichen. Auf diese Weise kann er mehr Zeit mit Nura verbringen. Bald darauf zieht sie ihm ohne lange Erklärungen die Hose herunter und lässt sich von ihm penetrieren.

Um die arabische Schrift reformieren zu können, gründet Hamid Farsi eine eigene Schule für Kalligraphie in Damaskus, für die ihm Nassri Abbani, einer seiner reichen Kunden, ein leer stehendes Haus mietfrei zur Verfügung stellt. Dass der Mäzen dann nicht zur Eröffnungsfeier kommt, obwohl sogar der syrische Staatspräsident Schukri al-Quwatli daran teilnimmt, wundert Hamid Farsi, und er überlegt, was der Grund sein könnte.

Nassri Abbani hat seinen Vater beerbt, einen reichen Fabrikanten, Makler und Großgrundbesitzer. Zum Glück übernahm er auch dessen Geschäftsführer Taufiq, denn er selbst verfügt weder über den Verstand noch die Disziplin, die für einen erfolgreichen Unternehmer erforderlich wären.

Nassri hatte Taufiq von seinem Vater geerbt, der auf dem Totenbett gesagt haben soll: „Deine zwei Brüder haben Verstand und du hast Taufiq. Achte auf ihn, denn wenn er weggeht, gehst du unter.“

Während Taufiq sich um das Geschäft kümmert, beschäftigt Nassri Abbani sich am liebsten mit Frauen. Im Januar 1952 beauftragte er Hamid Farsi mit einer ersten Kalligraphie für den Staatspräsidenten Adib ibn Hasan asch-Schischakli. Dazu hatte ihm Taufiq geraten. Das Geschenk sollte es möglich machen, eine größere Anzahl von importierten Maschinen am Zoll vorbeizuschleusen. Tatsächlich erhielt Nassri Abbani daraufhin eine persönliche Einladung des Präsidenten zum Abendessen, und dem durch einen Putsch an die Macht gekommenen Oberst gefiel der charmante Frauenheld.

Farsis Kalligraphien wurden von Oberst Schischakli geschätzt. Nassri schenkte ihm fast jede Woche eine Kalligraphie mit klassischer Dichtung. Hamid Farsi freute sich über die Aufträge, denn nun kamen viele Bekannte des Präsidenten auf den Geschmack und bestellten bei ihm.

Bald gehörte Nassri zur Entourage des Staatschefs. Der wurde allerdings im Frühjahr 1954 durch einen Aufstand gestürzt.

Nassri war bereits mit Lamia, Saide, Nasime verheiratet, als er im Januar 1955 die Kontrolle über sich verlor und Karam Midanis Nichte Almas schwängerte. Er und Taufiq hätten das gern mit Geld geregelt, aber Almas‘ Vater bestand darauf, dass er das Mädchen heiratete. Das geschah im März 1955. Außer seinen vier in verschiedenen Häusern wohnenden Ehefrauen besucht Nassri regelmäßig die schöne Prostituierte Asmahan.

Asmahans Mutter stammte aus einer reichen Familie. Sie hatte 1930, zwei Jahre vor Asmahans Geburt, als dritte Frau in Syrien das Abitur gemacht. Der Vater, Spross einer wohlhabenden Händlerfamilie, leitete eine Tabakfabrik. Im Alter von zehn oder elf Jahren verliebte sich Asmahan in den 15-jährigen blassen Nachbarsohn Malik, der nicht nur aufmerksam zuhörte, wenn sie ihm etwas erzählte, sondern ihr auch die Poesie nahebrachte. Fünf Jahre lang trafen sie sich fast jeden Tag heimlich, aber Malik wurde nur 20 Jahre alt. Nach seinem Tod schwor Asmahan sich, niemanden mehr zu lieben. Ein Jahr später heiratete sie ihren zehn Jahre älteren Cousin, einen grobschlächtigen Gerichtsmediziner, der mehr von Leichen als von lebenden Menschen verstand. Nachdem der Vater durch Spekulationen sein ganzes Geld verloren hatte, wanderten die Eltern 1950 nach Florida aus – und Asmahan, die nun keine Rücksicht mehr auf sie nehmen musste, verlangte von ihrem Mann die Scheidung. Allerdings verweigerte er zunächst seine Zustimmung.

Eine Woche später hatte Asmahan ihren ersten Liebhaber. Auf einem Empfang beim damaligen Kultusminister Fuad Schajeb wurde sie von den Frauen beneidet und von den mächtigsten Männern umschwärmt. Sie brauchte nur zu wählen. Sie genoss den Champagner und beobachtete die Gockel, die ihr wie kleine Jungen vorkamen, eitel, kopflos und unzuverlässig. Und sie sah, wie ihr arroganter Mann plötzlich vor dem Gesundheitsminister klein und bucklig wurde, und dieser vor dem Ministerpräsidenten, und dieser wiederum vor dem Armeechef.

Asmahan begann eine Affäre mit dem Innenminister Said Badrachan und sorgte dafür, dass darüber getuschelt wurde. Um einen Skandal zu vermeiden, willigte ihr Mann in die Scheidung ein. Zwei Monate später kam Said Badrachan bei einem Autounfall ums Leben. Jemand hatte die Bremsleitungen beschädigt.

Danach schlief Asmahan erstmals gegen Geld mit einem Abgeordneten. Und drei Monate nach der Scheidung wurde Nassri Abbani einer ihrer Freier.

Weil sie nicht ahnt, dass die wundervollen Liebesbriefe, die sie von ihm erhält, nicht von ihm, sondern von dem Kalligraphen Hamid Farsi geschrieben wurden, vergisst sie ihren Schwur, niemals wieder jemand zu lieben. Doch als sie Nassri fragt, ob er sich ein gemeinsames Leben mit ihr vorstellen könne, bricht dieser die Beziehung abrupt ab.

Durch das Fenster der Mansarde in Almas‘ Haus entdeckt Nassri eines Tages eine Frau, die er sogleich begehrt. Immer wieder schleicht er sich hinauf, um einen Blick auf die betörende Nachbarin zu erhaschen. Wie soll er sie auf sich aufmerksam machen? Wieder lässt er sich von Hamid Farsi Briefe schreiben.

Nassri zitterte und näherte sich dem Fenster. Er warf einen Blick auf den Hof hinunter, in dem die Frau sich in einem großen Stuhl am Brunnen sonnte. Sie las. Als er das Fenster aufstieß, schaute sie herauf und lächelte. Nassri hätte sterben können vor Glück. Er grüßte sie mit einem Nicken und zeigte ihr das Papier. Der Wind war nun still. Er ließ den Streifen hinunter segeln und sah das Staunen auf dem Gesicht der Frau. Sie lachte und legte sich die Hand auf den Mund.

Drei Kalligraphien schickt Nassri der Begehrten auf diese Weise. Aber dann hält eine Leitersprosse seinem Gewicht nicht stand; Nassri stürzt und bricht sich das linke Bein. Als der Gips endlich ab ist und er wieder nach oben klettern kann, erblickt er Hamid Farsi bei der Angebeteten. Er hält den Kalligraphen für einen Liebhaber der Frau, denn er weiß nicht, dass sie in dem verwinkelten Viertel Nachbarn sind und es sich bei der Schönen um Nura handelt.

Karam bringt Salman dazu, das dicke, in schwarzes Leinen gebundene Buch zu entwenden, in dem Hamid Farsi seine Geheimnisse aufzeichnet. Ein Fotograf kopiert die 420 Seiten, bevor der Dieb es wieder an seinen alten Platz zurücklegt.

Vierhundertzwanzig Seiten. Der Fotograf hatte eine sehr gute Kamera und machte zweihundertzehn Aufnahmen, jeweils eine von einer Buchdoppelseite. Salman stand abseits und sein Herz fiel ihm in die Hose, als der Buchrücken in der Mitte hörbar knackte, weil der Fotograf eine glatte Oberfläche brauchte.

Der gebrochene Rücken des Buches bleibt dem Besitzer nicht verborgen, und er entlässt Salman, auf den sein Verdacht fällt.

Salman hätte sich ohrfeigen können für seine Naivität. Er hatte wirklich geglaubt, dass Karam alles nur aus Neugierde wissen wollte. Salman hatte ihm einen Abdruck des altmodischen Schrankschlosses angefertigt. Nach ein paar Tagen händigte Karam ihm ein Schlüsselduplikat aus, mit dem Salman, als der Meister verreist war, den Schrank – unter Mühen – aufmachen und das schöne dicke Buch mit den Geheimnissen des Kalligraphen herausholen konnte.

Weil Salman nun vermutet, dass Karam ihn von Anfang an missbrauchte, um den Kalligraphen auszuspionieren, dessen Reformbemühungen ihm und anderen fundamentalistischen Muslimen missfallen, beschließt er, seine eigenen Notizbücher in Sicherheit zu bringen, sich von Karam zu trennen und Damaskus zu verlassen.

Er weiht Nura in seine Pläne ein, und sie rät ihm, sich von dem Fotografen die Negative der Ablichtungen aus dem geheimen Buch ihres Mannes geben zu lassen, denn als Hamid ihr von dem Vorfall berichtete, erwähnte er, dass die Aufzeichnungen alles enthalten, was er über die tausendjährige Geschichte und Technik der Kalligraphie herausgefunden hat.

Am 10. April 1957 steigen Nura und Salman in den Linienbus von Damaskus nach Aleppo.

Vor der Abreise schaute Nura noch kurz bei ihrem Vater vorbei, übergab ihm einen Abschiedsbrief und die drei Liebesbriefe, die sie von Nassri Abbani erhielt.

Als Hamid von der gerade erst eröffneten Kalligraphenschule nach Hause kommt, ist Nura nicht da. Zunächst hofft er, dass sie Nachbarn besuche, aber dann taucht ihr Vater Rami Arabi auf und bestätigt seine Befürchtung, dass Nura ihn verlassen habe. Rami Arabi wirft ihm die Liebesbriefe auf den Tisch, die der Kalligraph für Nassri schrieb. Nachdem Hamid begriffen hat, dass seine eigene Frau die Adressatin der Liebesbriefe war, nimmt er an, Nura sei mit Nassri Abbani zusammen verschwunden, zumal der Frauenheld nirgendwo aufzufinden ist.

In Damaskus verbreitet sich das Gerücht, die begehrenswerte Frau des wohlhabenden Kalligraphen Hamid Farsi sei mit einem Liebhaber durchgebrannt, der sie mit von ihrem eigenen Ehemann geschriebenen Liebesbriefen bezirzt habe. Es sieht so aus, als sei der Kalligraph der Zuhälter seiner Frau gewesen.

Obwohl Hamid Farsi gerade ebenso arbeitsreiche wie lukrative Aufträge bekommen hat, vernachlässigt er das Atelier und entlässt alle Angestellten. Er denkt nur noch an Rache.

Am 19. April stürmen Gegnern seiner Reformen die Schule für Kalligraphie, und Anfang Mai muss sie zum Schutz der Schüler geschlossen werden. Die fundamentalistischen Muslime halten die Reformbemühungen Hamids für Häresie und wollen die Reinheit der heiligen Schrift bewahren. Hamid Farsi ahnt nicht, dass Karam Midani einer der Drahtzieher ist. Stattdessen hält er Nassri Abbani für seinen Gegner und sucht überall nach ihm, um sich an ihm zu rächen.

Nassri versteckt sich zunächst zwei Wochen lang bei Lamia, dann bei Nasime und schließlich bei Saide. Taufiq rät ihm, Damaskus zu verlassen, aber davon will Nassri nichts wissen. Statt aus seiner Heimatstadt zu fliehen, sucht er Zuflucht bei seinem Onkel Badruldin, der in Dummar, einem Dorf bei Damaskus, eine schlossähnliche Villa besitzt. Nach einiger Zeit wagt er es, Asmahan aufzusuchen. Die Prostituierte hat von den Gerüchten über ihn gehört und mutmaßt, dass auch die Briefe, mit denen er sie bezauberte, nicht von ihm selbst stammen:

„Hat der Kalligraph auch die Liebesbriefe geschrieben, die du mir gegeben hast? Hast du nicht ein einziges Wort für mich gefunden? Hast du ihn dafür bezahlt, deine Liebe auszudrücken?“ In ihrer Aufregung holte sie ein Stück Papier und legte es mit dramatischer Geste vor ihn hin. „Schreib mir hier einen kurzen Brief“, sagte sie. Nassri war aufgebracht, er tobte und führte sich auf wie toll. Aber es nützte nichts. Sie wusste nun, dass er sie belogen hatte. Ihr Mitleid schlug um in tiefe Verachtung.

Taufiq versteckt Nassri eine Weile in der leer stehenden Wohnung seiner verstorbenen Schwester, aber Hamid beschattet den Geschäftsführer und kommt Nassri auf die Spur. Der lässt sich daraufhin von seiner vierten Frau aufnehmen, ohne zu ahnen, dass Almas ihn an ihren Onkel Karam verrät, der es darauf angelegt hat, dass der Reformer sich durch einen Rachemord selbst ausschaltet. Sobald Hamid Farsi fünf Monate nach Nuras Verschwinden von dem Kaffeehausbesitzer erfahren hat, wo Nassri Abbani zu finden ist, ersticht er seinen vermeintlichen Gegner mit einem Messer.

Der Plan der Fundamentalistischen geht auf: Hamid Farsi wird zu lebenslanger Haft verurteilt.

Zum Glück handelt es sich bei dem Gefängnisdirektor al Azm, einem entfernten Verwandten des syrischen Ministerpräsidenten Chalid al Azm, um einen großen Verehrer der Kalligraphie. Deshalb sorgt er dafür, dass Hamid Farsi einer der drei Privilegierten unter den 800 Häftlingen wird.

Seit einem Jahrzehnt hat Hamid nach einem Nachfolger im Amt des Großmeisters gesucht. Einen Monat vor dem Verschwinden seiner Frau fiel seine Wahl auf den 28-jährigen Kalligraphen Ali Barake in Aleppo, aber bevor er die Nachfolge regeln konnte, geriet er in den durch Nuras Verschwinden ausgelösten Strudel der Ereignisse. Trotz der Inhaftierung sieht Hamid im Winter 1957/58 eine Chance, die Nachfolge doch noch zu organisieren. Der Gefängnisdirektor hat nämlich für eine neue Moschee in Saudi-Arabien gespendet, obwohl er Atheist ist, und nun möchte er dort eine Tafel mit dem Namen seiner Familie aufstellen lassen. Hamid soll die Kalligraphie anfertigen. Hamid gibt eine entsprechend große Holzplatte in Auftrag und erreicht, dass Ali Barake ihm bei der Arbeit helfen darf.

Bevor der Kalligraph jedoch aus Aleppo in Damaskus kommt, schließt Syrien sich am 1. Februar mit Ägypten in der Vereinigten Arabischen Republik zusammen. Alle Parteien werden aufgelöst, die Zeitungen verboten, und eine Verhaftungswelle löst die andere ab. Der Gefängnisdirektor wird Ende März abgesetzt und kurz darauf verhaftet. Ihm wird vorgeworfen, für eine von der CIA unterstützte Organisation tätig gewesen zu sein.

Bei seinem Nachfolger handelt es sich um einen Offizier bäuerlicher Herkunft, der froh ist, seinen Namen schreiben zu können. Aus der großen Tafel lässt er Brennholz machen.

Als im April ein von der Busreise Aleppo-Damaskus erschöpfter Kalligraph ans Gefängnistor kommt und höflich nach dem Direktor al Azm und dem Häftling Hamid Farsi fragt, scheuchen ihn die Wachen fort.

Bald darauf muss Hamid Farsi in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen werden.

In Aleppo lebt seit April 1957 ein junges Paar. Der Mann, er heißt Samir al Haurani, bietet seine Dienste als Kalligraph an.

Er war nicht übermäßig begabt, aber man sah ihm die Freude an, mit der er an die Arbeit ging. Moscheen und islamische Druckereien gaben ihm selten Aufträge, aber da er nicht so viel verlangte wie die anderen Kalligraphen, bekam er genug Aufträge für Geschäftsschilder und Plakate von Kinos, Restaurants, christlichen Druckereien und Verlagen. Pfarrer Josef Gamal ließ durch ihn alle Bücher seines neu gegründeten Verlags gestalten. Samir verkaufte im Gegenzug in seinem Laden neben Postkarten, Tinte für Kalligraphen und Schreibwaren auch Heiligenbilder. Und auf Anraten des Pfarrers beschaffte sich der Kalligraph eine kleine Maschine, mit der er Stempel für Behörden, Schulen, Clubs und Vereine herstellen konnte.

Dass es sich bei seiner Frau Laila um eine ausgezeichnete Schneiderin handelt, spricht sich rasch unter den Nachbarinnen herum, und nach einem Jahr nennen sie Samir nur noch den Mann der Schneiderin. Sarah, die einzige Tochter des Paares, wird später eine berühmte Kalligraphin.

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Dass es sich bei dem Roman „Das Geheimnis des Kalligraphen“ um eine Künstlertragödie handelt, zeigt sich erst im letzten Drittel, denn statt stringent eine Handlung zu entwickeln, mäandert Rafik Schami wie ein orientalischer Märchenerzähler durch viele Geschichten und schweift dabei immer wieder ab.

Wie in der arabischen Schrift, über die der staunende Abendländer so manches erfährt, geht es im Roman nicht allzu geradlinig zu: Auch erzähltechnisch befinden wir uns im orientalischen Souq und nicht in einer deutschen Fußgängerzone. (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27. Dezember 2008)

Nach zahlreichen Arabesken gelangt Rafik Schami zu den bereits im Prolog erwähnten Ereignissen im Frühjahr 1957 in Damaskus, und erst jetzt findet der Kalligraph Hamid Farsi die Zeit, über sich und sein Leben nachzudenken. Dadurch wird zur Hauptfigur, und Rafik Schami geht zurück bis zu Hamids Kindheit.

In „Das Geheimnis des Kalligraphen“ erfahren einiges über die Kalligraphie und die urbane syrische Gesellschaft in den Fünfzigerjahren mit ihrem Nebeneinander verschiedener Religionen. Rafik Schami thematisiert die verbotene Liebe zwischen Männern bzw. Muslimen und Christen. Vor allem aber ist der Roman ein Plädoyer gegen die Erstarrung und die gewaltsame Unterdrückung von Reformen durch Fundamentalisten. Da ist die Kalligraphie wohl nur als Beispiel gemeint; sie repräsentiert den Islam und die arabische Kultur schlechthin.

Den Roman „Das Geheimnis des Kalligraphen“ von Rafik Schami gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Markus Hoffmann und Rafik Schami (Bearbeitung: Cornelia Filter, ISBN 978-3-88698-934-8).

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2015
Textauszüge: © Carl Hanser Verlag

Rafik Schami: Die Sehnsucht der Schwalbe
Rafik Schami: Die geheime Mission des Kardinals

Nele Neuhaus - Muttertag
Wer gern spannende, farbig inszenierte Kriminalromane mit lebendigen Figuren und einem gehörigen Maß an Komplexität liest, wird an "Muttertag" − dem neunten Band einer Buchreihe von Nele Neuhaus − Freude haben.
Muttertag