Was bleibt

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Was bleibt

Originaltitel: Was bleibt – Regie: Hans-Christian Schmid – Drehbuch: Bernd Lange – Kamera: Bogumil Godfrejow – Schnitt: – Musik: The Notwist – Darsteller: Lars Eidinger, Corinna Harfouch, Sebastian Zimmler, Ernst Stötzner, Picco von Groote, Egon Merten, Birge Schade, Eva Meckbach u.a. – 2012; 85 Minuten

Inhaltsangabe

Der Verleger Günter Heidtmann ist überzeugt, alles unter Kontrolle zu haben: Seine bipolare Ehefrau Gitte schluckt seit 30 Jahren Psychopharmaka. Der ältere Sohn lebt zwar in Berlin, aber dem jüngeren hat Günter am Heimatort eine Zahnarztpraxis eingerichtet, damit er ihn dabei unterstützen kann, auf Gitte aufzupassen. Als diese verkündet, dass sie vor zwei Wochen ihre Pillen absetzte, zerrüttet sie ungewollt die Struktur der Familie. Was für sie eine Befreiung aus der Unmündigkeit ist, erleben die anderen als Verunsicherung ...
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Kritik

Das Familiendrama "Was bleibt" zeigt, dass die Schonung Kranker entmündigend sein kann. Corinna Harfouch verkörpert die bipolare Frau ohne Gefühlsausbrüche. Ruhig und zurückhaltend ist auch Hans-Christian Schmids Inszenierung.
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Vor einem halben Jahr haben sich Marko Heidtmann (Lars Eidinger) und Tine Gronau (Eva Meckbach) in Berlin getrennt. Als Markos Mutter Gitte (Corinna Harfouch) zu einem Familienwochenende am Heimatort im Rhein-Sieg-Kreis einlädt, lässt Tine sich unter einem Vorwand entschuldigen und verabredet sich mit Marko an einer U-Bahn-Station, um ihm den kleinen gemeinsamen Sohn Zowie (Egon Merten) zu übergeben. Weil Marko sie warten lässt, ist Tine verärgert. Sobald er mit Zowie bei seinen Eltern ist, soll er sie anrufen. Marko verspricht es – wird es aber vergessen.

Im Speisewagen des Zuges möchte Zowie statt des vom Vater vorgeschlagenen Essens einen Kuchen wie ihn die Dame am Nachbartisch serviert bekommt. Sie hört es und reicht Zowie ihren Teller. Beim Aussteigen stellt sich heraus, dass es sich bei der Mitreisenden um Ella Staudt (Picco von Groote) handelt, die in Berlin studierende Freundin von Markos jüngerem Bruder Jakob (Sebastian Zimmler).

Jakob hat von seinem Vater Günter Heidtmann (Ernst Stötzner) nicht nur ein Nachbarhaus, sondern auch eine Zahnarztpraxis eingerichtet bekommen. Anders als der nach Berlin gezogene Schriftsteller Marko ist er zu Hause geblieben, um mit dem Vater gemeinsam auf die seit 30 Jahren wegen ihrer Bipolarität unter starken Medikamenten stehende Mutter aufzupassen. Dass er in dem kleinen Ort nicht genügend Patienten findet, um wenigstens die Kosten der Praxis zu decken, verschweigt Jakob den Eltern ebenso wie sein Bruder die Trennung von Tine.

Günter eröffnet Marco, dass er soeben seinen Verlag verkauft hat. Nun will er endlich ein Buch über die Sumerer schreiben und für die Recherche in den Nahen Osten reisen. Die Tickets sind gebucht; in vier Wochen soll es losgehen. Als Gitte erfährt, wie konkret die Reisepläne ihres Mannes sind, ist sie überrascht, denn bisher erzählte er ihr nur vage von seinen Absichten. Sie erkundigt sich beim Reisebüro und findet heraus, dass im Flugzeug noch Plätze frei sind. Aber als sie es Günter sagt, begreift sie rasch, dass er sie nicht dabei haben möchte.

Bei einem gemeinsamen Essen steht Gitte unerwartet auf, um eine kleine Ansprache über den Grund des Familientreffens zu halten. Sie habe vor zwei Wochen ihre Medikamente abgesetzt, sagt sie. Statt zu applaudieren, bleiben die Männer starr sitzen, denn sie befürchten, dass Gitte ohne Psychopharmaka jeden Augenblick einen hysterischen Anfall bekommen könnte. Ohne die Pillen ist sie unberechenbar. Und Günter sieht dadurch seine Reisepläne gefährdet. „Sie war eingestellt!“, klagt Jakob, als er mit seinem Bruder allein ist.

Gitte versorgt in aller Ruhe den Haushalt. Für sie ist es ein Neuanfang, eine Befreiung aus der Unmündigkeit. Die Männer wissen dagegen nicht, wie sie mit der neuen Situation umgehen sollen, und Jakob sucht die Adresse eines Psychiaters heraus.

Als Marko sich ans Klavier setzt und seinem kleinen Sohn etwas vorspielt, fängt Gitte zu singen an und nach Marko beginnt auch Günter das Chancson „Du lässt dich geh’n“ von Charles Aznavour mitzusingen.

Marko ist der einzige der drei Männer, der sich vorstellen kann, dass Gitte ohne Medikamente auskommt. Er glaubt sogar, seiner Mutter nun die Wahrheit über seine gescheiterte Beziehung mit Tine zumuten zu können.

Jakob verkraftet die Belastung nur, indem er trinkt. Als Günter wissen möchte, warum Jakob nicht mehr nüchtern ist, erfährt er von den finanziellen Schwierigkeiten seines Sohnes und verspricht generös, am Montag mit ihm zur Bank zu gehen. Durch den Verkauf des Verlags besitzt er genügend Geld, um Jakob weiter zu unterstützen. Ella sagt dazu nichts, solange Günter im Raum ist, aber sie weiß, dass es aussichtslos ist, die Zahnarztpraxis erfolgreich betreiben zu wollen. Erst später streitet sie mit Jakob darüber.

Gitte spürt die angespannte Atmosphäre und merkt, dass Jakob betrunken ist. Als sie über die Situation aufgeklärt werden möchte, wiegeln die Männer ab und versichern, es sei alles in Ordnung. Gitte empfindet die Schonung als ausgrenzend und entwürdigend.

In dieser Nacht schläft Marko auf einer Couch im Wohnzimmer und überlässt sein Bett Ella, die nicht neben Jakob liegen möchte. Am anderen Morgen ist Gitte als Erste auf. Als Zowie aufwacht und nach seinem Vater fragt, führt sie ihn ins Wohnzimmer, legt ihn zu Marko auf die Couch und deckt ihn zu. Liebevoll schaut sie die beiden Schlafenden an.

Dann geht sie mit ruhigen Schritten zu ihrem Renault R4 und fährt weg.

Wo Gitte sei, fragt Günter nach dem Aufstehen. Niemand weiß es. Ella bleibt mit Zowie im Haus, während die Männer nach Gitte suchen. Am Abend entdecken sie den R4 am Waldrand. Die Türen sind nicht verschlossen, und der Zündschlüssel steckt. Aber von Gitte fehlt jede Spur. Die Polizei durchkämmt das Gelände am nächsten Morgen mit Suchhunden. Aber gefunden wird nichts.

Als die Männer nach Hause kommen, ist die Buchhändlerin Susanne Graefe (Birge Schade) da, die von Gittes Verschwinden gehört hatte. Günter erklärt den anderen, dass er seit zwei Jahren mit Susanne ein Verhältnis hat und mit ihr nach Jordanien fliegen wollte. 30 Jahre lang habe er den Laden zusammengehalten und Gitte umsorgt, sagt er, er habe sein Leben in diese Ehe investiert, und jetzt wolle er endlich noch etwas unternehmen.

Marko ist entsetzt über die Untreue seines Vaters. Obwohl es dunkel ist, fährt er zum Wald und macht sich noch einmal auf die Suche nach seiner Mutter – bis er ausrutscht und sich so am Bein verletzt, dass er nicht mehr auftreten kann.

Während er hilflos am Boden liegt, träumt er, dass seine Mutter zu ihm kommt, ihm einen Ast reicht, auf den er sich stützen kann und ihn zu ihrem Lagerfeuer führt. Dort schaut sie sich sein verletztes Bein an und bettet dann seinen Kopf in ihren Schoß. „Was man liebt, muss man loslassen“, sagt sie. „Wenn’s zurückkommt, dann bleibt’s.“

Am nächsten Morgen findet die Polizei Marko und fliegt ihn mit einem Hubschrauber ins Krankenhaus.

Einige Monate später dekoriert Günter den Christbaum. Jakob und Ella sind nach Schweden gereist, um Weihnachten nicht mit ihm verbringen zu müssen. Aber Marko ist aus Berlin gekommen. In ein paar Tagen will Günter mit Susanne – die über Weihnachten bei ihrer Schwester zu Besuch ist – die verschobene Reise in den Nahen Osten antreten. Vorher beantragt er noch, Gitte für tot zu erklären, aber er rechnet damit, dass der Vorgang einige Zeit dauern wird.

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Der fast 60 Jahre alte Verleger Günter Heidtmann ist überzeugt, alles unter Kontrolle zu haben: Seine bipolare Ehefrau Gitte schluckt seit 30 Jahren Psychopharmaka, und die Dosierung ist offenbar optimal „eingestellt“. Der ältere Sohn Marko lebt zwar in Berlin, aber dem jüngeren Sohn Jakob hat Günter am Heimatort nicht nur eine Wohnung, sondern auch eine Zahnarztpraxis eingerichtet, damit er ihn dabei unterstützen kann, auf Gitte aufzupassen. Als diese ihren Angehörigen verkündet, dass sie vor zwei Wochen ihre Pillen absetzte, zerrüttet sie ungewollt die Struktur der Familie. Was für sie eine Befreiung aus der Unmündigkeit ist, erleben die anderen als Verunsicherung. Da stürzen Fassaden ein, die vor allem zur Schonung der Kranken errichtet wurden, und die zum Bildungsbürgertum gehörende Familie zerbricht. Paradoxerweise wirkt in diesem Prozess ausgerechnet Gitte als Einzige ruhig und ausgeglichen.

In dem Familiendrama „Was bleibt“ beschäftigen sich Bernd Lange (Drehbuch) und Hans-Christian Schmid (Regie) mit der Schonung einer Kranken, die dies als ausgrenzend und entwürdigend empfindet. Es geht aber auch um Haben und Aufgeben, (Selbst-)Täuschung und Verlässlichkeit.

Der Regisseur Hans-Christian Schmid, preisgekrönt für seine Filme Requiem 2006 und Sturm 2009, […] hat das Thema am Exempel einer bürgerlichen Verleger-Familie durchgeführt, allesamt ansehnlich liberal-normale, ratlose Wohlstandsbürger […], und er hat die Geschichte dieser Dreigenerationenfamilie in minimalistischen Szenen abgefilmt.
Die Kamera ist mit strenger Disziplin auf die banalsten Küchensituationen wie auf die überquellenden Bücherschränke gerichtet. Die Kamera sieht hin, wie diese gebildete Familie zerbricht, ohne dass ihr irgendeines der Bücher in ihren Regalen helfen könnte. Die Bücher stehen einfach stumm rum, Dekoware, alle Bildung umsonst. Kein Blatt scheint zwischen Fiktion und Echtheit zu passen, wie eine Haut legt sich der Film um den Zuschauer. Der atemberaubende Lars Eidinger ist Marko, er ist der Sohn, der Vater, der Verlässlichkeit will und die Wahrheit des Scheiterns doch auch für zumutbar hält.
Der Regisseur Hans-Christian Schmid hat sich für die Schlichtheit und Ruhe des Unglücks entschieden. Er verzichtet auf schrille Tränen, kreischende Stimmen und alles Laute, auf alle abgedroschene Offensichtlichkeit. So ist ein ergreifender Film entstanden, der die Frage nach der Wahrheit einer Familie stellt und sie außerdem aushält.
(Elisabeth von Thadden in „Die Zeit“, 37/2012)

Corinna Harfouch verkörpert Gitte ohne Gekreische, ohne Weinkrämpfe und Gefühlsausbrüche, ganz ohne Hysterie. Ruhig, zurückhaltend und unspektakulär ist auch die Inszenierung von „Was bleibt“. Umso beklemmender wirkt das Drama.

Sehenswert ist vor allem die erste Hälfte des Films „Was bleibt“, in der schrittweise die Familiendynamik offengelegt wird.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2014

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