Seyran Ates


Ahmet, ein in Erzurum geborener sunnitischer Landwirt, herrschte über drei Ehefrauen, neun Kinder und schließlich auch noch vier Schwiegertöchter. Seine kurdische Herkunft verschwieg er in dem Dorf Kömürkaya bei Sivas in Zentralanatolien, das zu seiner Wahlheimat geworden war, nach Möglichkeit. Doch als sich sein Sohn Mehmet in ein Mädchen aus dem Dorf verliebte, verweigerte er seine Zustimmung zu einer Eheschließung, denn Hatun gehörte nicht zu den Kurden. Ahmet verstand sich zwar gut mit Hatuns Vater Cafer, aber eine Männerfreundschaft zwischen einem kurdischen und einem nicht kurdischen Türken war etwas ganz anderes als eine eheliche Verbindung. Cafer, der wie Ahmet neun Kinder hatte, aber nur mit einer Frau verheiratet war, dachte genauso: Auf keinen Fall sollte Hatun einen Kurden heiraten. Als der siebzehnjährige Mehmet die ein Jahr jüngere Hatun deshalb 1954 mit ihrem Einverständnis entführte, lief Cafer den beiden mit einem Gewehr nach, doch sie entkamen unverletzt. Die Väter tobten. Cafer fühlte sich in seiner Ehre verletzt. Wenn es nicht zu einer blutigen Fehde zwischen den Familien kommen sollte, mussten Ahmet und Cafer verhandeln und sich über den Brautpreis einigen. Nachdem das geschehen war, konnte das Paar am 20. Oktober 1954 getraut werden.

Von da an lebte Hatun mit Mehmet in seiner Familie. So gehörte es sich, und Ahmet, der viel für sie bezahlt hatte, verlangte als Gegenleistung ihre Arbeitskraft auf seinem Bauernhof.

Während Mehmet seinen Militärdienst leistete, erkrankte 1959 sein zweijähriger Sohn Kemal an Masern und starb. Ein Arzt hätte ihn vielleicht retten können, aber keiner der Männer in der Familie Ates nahm sich die Zeit für eine Fahrt mit dem Kind in die nächste Stadt, und die Behandlungskosten hätte auch niemand bezahlt. Einen Monat nach Kemals Tod, am 20. Juni 1961, kam Hatun erneut mit einem Sohn nieder. Der bekam einfach die Identität seines toten Bruders, weil man auf diese Weise den Aufwand für die amtliche Registrierung sparte. Was machte es schon, dass Kemal auf dem Papier zwei Jahre älter als in Wirklichkeit war?!

Nach der Militärdienstzeit kehrte Mehmet nicht mehr zu seiner Familie zurück, sondern nahm sich mit seiner Frau und Kemal eine Einzimmer-Wohnung in Istanbul und fand Arbeit in einer Färberei. Nicht einmal am 20. April 1963, als seine Tochter Seyran geboren wurde, bekam er frei.

Hatuns Familie, die bereits 1955 nach Istanbul gezogen war, baute im Bezirk Mecidiyeköy-Gültepe nach und nach so genannte Gecekondular. Darunter versteht man in der Türkei Häuser, die ohne Genehmigung auf öffentlichem Boden errichtet werden. Sobald es einer Familie gelungen ist, über Nacht heimlich einen Rohbau zu errichten, dürfen die Behörden sie nicht daran hindern, das Gebäude fertigzustellen und einzuziehen, und man spricht von einem Gecekondu. – Weil es keine Erschließung der Baugrundstücke gab, mussten Hatun und die anderen Frauen das Wasser von einem öffentlichen Brunnen heranschleppen.

Seyran Ates bekam noch zwei jüngere Geschwister: Ahmet und Serpil. Als ihre kleine Schwester gerade einmal vier Monate alt war, verschwand die Mutter. Ein halbes Jahr später, im Februar 1969, ging auch der Vater fort. In keinem der beiden Fälle erhielt Seyran eine Vorankündigung oder eine Erklärung. Erst später fand sie heraus, was geschehen war: Mehmet Ates hatte seit 1965 vergeblich versucht, einen Arbeitsplatz in der Bundesrepublik Deutschland zu erhalten. Weil die Chancen von Frauen besser waren, schickte er 1968 Hatun vor. Im Rahmen der Familiennachführung durfte er dann ebenfalls als »Gastarbeiter« nach Berlin kommen. – Für eine dreißigjährige Frau, die nahezu ohne Schulbildung in einem anatolischen Dorf aufgewachsen war, stellte das eine erhebliche Belastung dar, zumal ihr Vater sie verstieß, weil er arbeitende Frauen grundsätzlich als Huren ansah.

Bald nach Mehmets Ankunft in Berlin wurde Hatun erneut schwanger. In der Lage, in der sie sich befanden, kam ein weiteres Kind für sie nicht in Frage, und weil Abtreibungen damals zwar in der Bundesrepublik, aber nicht in der Türkei verboten waren, nahm Hatun Urlaub und fuhr im vierten Monat der Schwangerschaft nach Istanbul. Ein Arzt verschrieb ihr Tabletten und Sitzbäder. Als der Urlaub endete, war sie zwar noch immer schwanger, aber sie musste zurück, und bei dieser Gelegenheit nahm sie auch Kemal, Seyran und Ahmet mit. Serpil ließ sie für ein Jahr bei ihren Eltern zurück. Während der dreitägigen Zugfahrt kam es unerwartet zum Abortus. Eine Hebamme, die sich zufällig unter den Mitreisenden befand, half Hatun – und warf anschließend den in ein Stück Stoff eingewickelten toten Embryo aus einem Fenster des fahrenden Zuges.

Seyran musste ihrer Mutter im Haushalt helfen und sowohl ihren Vater als auch ihre Brüder bedienen, ihnen beispielsweise die Haare waschen. Die Eltern arbeiteten Schicht, und während ihrer Abwesenheit tyrannisierte Kemal seine vier Jahre jüngere Schwester, die das Haus ohne Begleitung nur verlassen durfte, um zunächst in einer Spielschule Deutsch zu lernen und dann die Volksschule zu besuchen. Während sich Mitschülerinnen verabredeten, musste Seyran unverzüglich nach Hause. »Ich fing an, von einem besseren Leben zu träumen«, erinnert sich Seyran Ates 2007 in einem Interview. »In der Schule sah ich, dass die deutschen Mädchen viel freier lebten als ich. Ich träumte davon, so frei zu sein wie sie […] Ständige Kontrolle umgab mich […] Mein Jungfernhäutchen […] war von größerem Interesse für die Großfamiliengemeinschaft als mein Gehirn.«

Im Unterricht kam es häufig vor, dass Seyran Ates als Einzige aufzeigte, wenn eine Frage gestellt wurde. Das vermied sie allerdings, seit ein Lehrer ihre Mitschülerinnen mit der Bemerkung, nun müsse ihnen schon eine Türkin die richtige Antwort verraten, herausgefordert hatte. Als Klassenbeste sollte sie aufs Gymnasium wechseln, und damit war auch Mehmet Ates einverstanden. Um möglichst wenig zu Hause sein zu müssen, bat Seyran darum, eine Gesamtschule besuchen zu dürfen, in der auch nachmittags unterrichtet wurde, und weil ihre Eltern nichts über das deutsche Schulsystem wussten, glaubten sie, es ginge nicht anders und stimmten zu.

Obwohl Seyran Ates auch am Gymnasium zu den Außenseiterinnen zählte und mitunter als »Scheißausländerin« beschimpft wurde, kandidierte sie für das Amt der Kerngruppensprecherin und ließ sich vom Misserfolg nicht entmutigen. Beim zweiten Versuch erhielt sie genügend Stimmen. Das motivierte sie dazu, sich bei der Wahl der Schulsprecherin aufstellen zu lassen,

und dass sie auch in dieses Amt gewählt wurde, stärkte ihr Selbstbewusstsein sehr. Umso schwerer fiel es ihr, in der Familie weiterhin unterwürfig aufzutreten und ihre Individualität zurückzustellen. Sie litt darunter, das neue Selbstwertgefühl »wie einen Mantel ablegen« zu müssen, sobald sie die Wohnung ihrer Familie betrat. »Ich wanderte täglich zwischen zwei Welten und wurde von meinen Gefühlen und Gedanken zerrissen«, schreibt Seyran Ates in ihrer Autobiografie »Große Reise ins Feuer«. »Zu Hause musste ich die Türkin sein, die traditionell leben und denken sollte. In der Schule war ich mit der deutschen Kultur konfrontiert, in der mir mehr Freiraum geboten wurde. Hier durfte ich eine eigene Persönlichkeit entwickeln, während mir zu Hause ständig Vorschriften gemacht wurden, wie ich als Türkin zu sein hätte. In meiner Familie wurde ich in erster Linie darauf vorbereitet, irgendwann zu heiraten und meinen Ehemann und meinen Gästen das Leben angenehm zu gestalten. In der Schule wurde mir hingegen vermittelt, dass ich viel lernen und eine Berufsausbildung machen sollte, um selbstständig und selbstbestimmt zu leben.«

Arglos vertraute Seyran Ates mit fünfzehn einer Cousine an, dass ihr der acht Jahre ältere Cousin Mustafa gut gefiel. Kurz darauf wussten es die Mütter, und aus der Türkei kam ein Brief von Mustafas Eltern, in denen sie um Seyrans Hand anhielten. Mehmet Ates geriet außer sich über die Eigenwilligkeit der Frauen, zumal er gerade dabei war, eine Eheschließung zwischen seinem Sohn Kemal und Mustafas Schwester Mariye einzufädeln.

1979 begleitete Seyran ihre Eltern auf einer Türkeireise. Obwohl Mustafa inzwischen mit einer anderen Frau verlobt war, gab es noch immer Leute, die ihn mit Seyran zusammenbringen wollten. Die sorgten dafür, dass die beiden jungen Leute mehrere Nächte miteinander im Sommerhaus eines Onkels verbrachten, ohne dass Seyrans Vater etwas merkte. (Ob es dabei zum Geschlechtsverkehr kam, verrät Seyran Ates in ihrer Autobiografie nicht, aber sie weist darauf hin, dass ihr Hymen danach noch intakt war.) Aus der Eheschließung wurde dennoch nichts, aber Mariye reiste mit nach Berlin, um nach dem Willen der Familien Kemal zu heiraten. Dass dieser sich dagegen sträubte, tat man als vorübergehende Laune ab.

Mit sechzehn glaubte Seyran Ates, den Spagat zwischen ihrer Rolle in der Familie und ihrer eigenen Persönlichkeit nicht länger ertragen zu können. Der blonde, elf Jahre ältere Lehrer, mit dem sie ein Liebesverhältnis angefangen hatte – Stefan heißt er in ihrer Autobiografie – wollte es nicht riskieren, mit einer minderjährigen Lebensgefährtin in seiner Wohnung ertappt zu werden. Also brachte er sie am 23. Dezember 1979, als sie von zu Hause ausriss, zum Kinder- und Jugendnotdienst in Berlin, wo man sie zwar aufnahm, aber darauf bestand, ihre Eltern zu informieren. Verwandte überredeten sie, zu einer Tante zu ziehen, und nachdem Seyran dort ihre Eltern an Silvester wiedergesehen hatte, kehrte sie zu ihnen zurück.

Doch es ging nicht lange gut: Im Januar 1980 riss Seyran erneut aus und versteckte sich eine Woche lang bei einer Lehrerin, bevor sie in die Wohngemeinschaft zweier Frauen aufgenommen wurde. Weil sie befürchtete, dass ihr Vater vor der Schule auf sie warten könnte, ließ sie sich von einer Psychologin einige Wochen lang krankschreiben. Bei jedem Klingeln des Telefons oder an der Haustür zuckte sie zusammen. Um gegen ihre Angst anzukämpen, aß sie zu viel und nahm innerhalb von kurzer Zeit von 52 auf 57 Kilogramm zu (bei 1,65 Meter Körpergröße).

Auf Seyrans Antrag entzog das Familiengericht ihren Eltern zwar nicht das
Sorge-, aber das Aufenthaltsbestimmungsrecht und übertrug es einem Mitarbeiter der Arbeiterwohlfahrt, der ihr erlaubte, in der WG zu bleiben.

Als sie wieder zur Schule ging, holte ihr jüngerer Bruder Ahmet sie hin und wieder von dort ab. Einmal fiel ihr auf, dass er zögerte, die von ihr angebotene Zigarette anzunehmen und sich ängstlich umsah. War der Vater in der Nähe? Kurz darauf sah sie ihn tatsächlich – und rannte sofort weg.

Die Eltern bemühten sich weiterhin um einen Kontakt mit ihrer Tochter, und nach drei Monaten wagte Seyran es, sie zu besuchen. Sie war zwei Stunden da, als das Telefon klingelte und eine Freundin nach ihr fragte. Ihr Vater begriff sofort, dass es sich um einen vorher vereinbarten Kontrollanruf handelte, seine Tochter also mit der Möglichkeit gerechnet hatte, gewaltsam festgehalten zu werden. Das ging ihm nah.

Sobald Seyran Ates volljährig war, zog sie zu Stefan. Gemeinsam beteiligten sie sich an Demonstrationen beispielsweise von Hausbesetzern; auch nach Brokdorf und Gorleben fuhren sie, um mit anderen Atomkraftgegnern zu demonstrieren. Das alles verheimlichte sie ihrer Familie bei Besuchen, bei denen sie auch die Korrespondenz der Eltern erledigte.

Im Mai 1982 zog das Paar in eine Wohngemeinschaft, und bald darauf gründeten Seyran und Stefan mit einem anderen Paar im Stadtteil Wilmersdorf eine eigene WG. Als dort eine Mitschülerin einzog und schließlich auch ihren Freund mitbrachte, merkte Seyran verwundert, dass sie eifersüchtig auf das andere Mädchen reagierte.

Der Stress der bevorstehenden Abiturprüfungen lenkte sie im Frühjahr 1983 von der irritierenden Konfrontation mit lesbischen Neigungen ab. Das Abitur bedeutete für sie Zukunft. Stolz erwähnt Seyran Ates in ihrer Autobiografie, dass sie in Deutsch als Beste an ihrer Schule abgeschnitten habe.

Nach dem Abitur immatrikulierte sie sich an der juristischen Fakultät der Freien Universität und fing im »Treff- und Informationsort für türkische Frauen« (TIO) als Beraterin an.

Obwohl die Bewohner der WG in Wilmersdorf gerade erst mit viel Aufwand ihre Räume renoviert hatten, zwang Seyran Ates ihren Freund, im Mai 1984 mit ihr nach Kreuzberg umzuziehen, wo das Leben bunter war.

Um das Versteckspiel mit ihrer Familie nach vier Jahren endlich zu beenden, weihte Seyran ihre Mutter Schritt für Schritt in einige ihrer Geheimnisse ein und lud sie im August 1984 zu einem gemeinsamen Essen in die WG ein. Dabei waren alle recht aufgeregt, Hatun Ates nicht zuletzt deshalb, weil sie befürchtete, sich gegenüber den »Intellektuellen« zu blamieren. Der Besuch verlief harmonisch, obwohl Seyran und Stefan gerade eine Beziehungskrise durchmachten – unter anderem, weil Seyran inzwischen akzeptiert hatte, dass nicht nur Männer, sondern auch Frauen sie erregen konnten.

Um sich stärker aufs Studium konzentrieren zu können, kündigte Seyran Ates beim TIO zum 30. September 1984.

Wenige Tage vor Vertragsablauf führte sie ein Beratungsgespräch mit einer jungen Türkin, als ein älterer Mann Zutritt verlangte. »Was ich will, geht ganz schnell«, sagte er, betrat den Raum, zog eine Pistole aus der Brusttasche seines Trenchcoats und feuerte drei Schüsse ab. Dann lief er fort. Eine Mitarbeiterin des TIO war so aufgeregt, dass ihr die Notrufnummern nicht mehr einfielen. Sie rannte deshalb zum nahen Krankenhaus, um Hilfe zu holen. Die Ratsuchende, die der Mörder in den Bauch getroffen hatte, war nicht mehr zu retten. Seyran Ates drohte zu verbluten, weil ein Projektil die Arteria vertebralis zerfetzt hatte, bevor es zwischen dem vierten und fünften Halswirbel steckengeblieben war, glücklicherweise so, dass es nicht zu einer Querschnittlähmung kam.

Ihre Mutter meinte bei einem ihrer Besuche im Krankenhaus, das wäre alles nicht passiert, wenn Seyran zu Hause geblieben wäre.

Als Seyran Ates nach drei Wochen von Stefan mit dem VW-Bus von der Klinik abgeholt wurde, war ihr linker Arm noch gelähmt, und sie litt unter heftigen Schmerzen. In monatelanger Arbeit erreichte eine Physiotherapeutin mit der von Václav Vojta, einem tschechischen Neurologen, entwickelten Methode, dass sie den Arm wieder bewegen konnte. Die Schmerzen ließen zwar nach, aber sie verschwanden nie mehr ganz.

Während Seyran Ates vermutete, dass der Täter mit den »Grauen Wölfen« zu tun hatte, also Mitgliedern der türkischen »Partei der Nationalistischen Bewegung«, ging die Polizei von einer Beziehungstat aus und hätte möglicherweise Mehmet Ates verhaftet, wenn er nicht zur Tatzeit nachweisbar in der Fabrik gewesen wäre. Seyran Ates, zwei Kolleginnen und vier weitere Zeugen hatten den Täter gesehen. Der türkische Maurer, der schließlich festgenommen wurde, hätte sich keinen teuren Rechtsanwalt leisten können, aber Sympathisanten sammelten für ihn und sorgten dafür, dass drei Juristen die Verteidigung übernahmen. Im April 1985 begann der Prozess. Seyran Ates, die als Zeugin und Nebenklägerin auftrat, wunderte sich darüber, dass die Anklage nicht auf Mord, sondern auf Totschlag lautete und konnte es kaum fassen, dass der Beschuldigte nach sechs Verhandlungstagen aus Mangel an Beweisen freigesprochen wurde.

Um auf andere Gedanken zu kommen, fuhr sie mit Stefan im VW-Bus in die Türkei und zeigte ihm das Haus in Istanbul, in dem sie aufgewachsen war. Wenn Stefan auf dem Camping-Platz Wäsche wusch oder Geschwirr spülte, während sie ein Buch las, kam es vor, dass andere Türkinnen ihm die Arbeit abzunehmen versuchten, weil sie es nicht mit ansehen konnten, dass ein Mann solche Tätigkeiten verrichtete.

Von einer weiteren Türkei-Reise mit Stefan im Sommer 1987 kehrte Seyran Ates vorzeitig nach Berlin zurück. Damit endete auch ihre Liebesbeziehung.

Die Vierundundzwanzigjährige war zum ersten Mal in ihrem Leben unabhängig. In Hamburg, wo sie zwei Monate lang als Laiendarstellerin bei den Dreharbeiten für den Film »Kopffeuer« von Erwin Michelberger mitwirkte, stürzte sie sich ins Nachtleben. Affären hatte sie abwechselnd mit Männern und Frauen. Auch ein Alkoholkranker war darunter. Selbstmordgedanken machten ihr Angst. Nach drei Monaten in der psychosomatischen Abteilung einer Klinik in Berlin ging Seyran Ates dreimal pro Woche zu einer Psychotherapeutin.

Originaltitel: Kopffeuer – Regie: Erwin Michelberger – Drehbuch: Erwin Michelberger – Kamera: Jörg Schalk – Schnitt: Irmingard Buttler – Musik: Cyan – Darsteller: Seyran Ates, Ünal Gümüs, Peter Kern, Klaus Pawalek, Ünal Silver, Volker Spengler, Nobuyuki Takayama u.a. – 1989; 85 Minuten

1990 fühlte sie sich endlich in der Lage, ihr vor sechs Jahren im dritten Semester unterbrochenes Jura-Studium fortzusetzen.

Beim ersten Staatsexamen scheiterte Seyran Ates 1993. Zwei Jahre später schaffte sie die Prüfungen. Nachdem sie 1997 dann auch das zweite Staatsexamen bestanden hatte, eröffnete sie mit zwei deutschen Juristinnen zusammen eine Kanzlei. Die Büroräume lagen im Dachgeschoss eines Hinterhauses am Hackeschen Markt in Berlin, und im Vorderhaus mietete Seyran Ates für sich und ihre damalige Lebensgefährtin eine Wohnung. Die erforderlichen Renovierungsarbeiten wurden von Seyrans Brüdern durchgeführt, dem Malermeister Kemal und dem Bauunternehmer Ahmet. (Die Eltern waren vor einiger Zeit in die Türkei zurückgekehrt und lebten nun in einem Dorf 60 Kilometer westlich von Istanbul.)

Die drei Anwältinnen – denen sich nach zwei Monaten eine vierte anschloss – verstanden sich als linke Feministinnen und waren sich einig, dass sie ihre juristische Tätigkeit mit politischem Engagement verbanden. Vor allem für Frauen, Minderheiten und Machtlose wollten sie sich einsetzen. Zunächst erledigten sie auch alle Sekretariatsarbeiten selbst, doch als immer mehr zu tun war, schlug Seyran Ates vor, eine Bürokraft einzustellen. Das lehnten ihre Partnerinnen ab, weil sie Beschäftigungsverhältnisse grundsätzlich mit Ausbeutung gleichsetzten. Der Streit endete mit einem Zerwürfnis; Seyran Ates zahlte ihre Partnerinnen aus, nahm die Rechtsanwaltsgehilfin Yesim Pinar unter Vertrag und tat sich mit den beiden gleichgesinnten Anwältinnen Bircan Urak und Naile Tanis zusammen.

Als die dreiundzwanzigjährige Hatun Sürücü am 7. Februar 2005 von ihrem jüngeren Brüder in Berlin-Tempelhof an einer Bushaltestelle erschossen wurde, weil sie – wie Seyran Ates – die Familie verlassen hatte und ihren eigenen Weg gegangen war, beteiligte sich Seyran Ates an der Mahnwache am Tatort und an Demonstrationen gegen »Ehrenmorde«.

Die Ermordung von Hatun Sürücü löste in der Bevölkerung eine heftige Debatte über die Integration in Deutschland lebender Muslime aus, in der auch Seyran Ates sich zu Wort meldete. Waren Mädchen und Frauen muslimischer Familien selbst in Deutschland einem archaischen Codex unterworfen, der den Menschenrechten widersprach? Lebten sie in einer Parallelgesellschaft? Seyran Ates ist überzeugt, dass das Multikulti-Konzept vom friedlichen Nebeneinander verschiedener Kulturen in einem Land verantwortungslos sei. Stattdessen sollten ihrer Meinung nach die Integrationsbemühungen verstärkt werden. »Die einzige Chance ist Bildung«, erklärte Seyran Ates in einem Interview. »Die Kultur der Türken […] hat großen Respekt vor Bildung. Die Eltern wollen, dass aus ihren Kindern etwas Besseres wird als aus ihnen.« Das Ziel sei nicht eine multi-, sondern eine transkulturelle Gesellschaft, also die Auflösung kultureller Grenzen.

Nicht nur Mädchen, die sich gegen aufgezwungene Rollen weigern, werden Opfer von »Ehrenmorden«, sondern auch Frauen, die sich von ihren Männern trennen. »Siebzig Prozent meiner Mandantinnen haben große Angst davor, dass sie von ihrem Mann oder dessen Familie getötet werden, wenn sie sich scheiden lassen«, berichtete Seyran Ates.

Nach einem Scheidungstermin am 7. Juni 2006 begleitete sie ihre gehbehinderte Mandantin und deren Freundin zur U-Bahn-Haltestelle Möckernbrücke in Berlin-Kreuzberg. Dort rannte plötzlich der türkische Ehemann der Mandantin auf sie zu. »Du Hure«, brüllte er die Rechtsanwältin auf Türkisch an, »was für Flausen setzt du meiner Frau in den Kopf?!« Dann schlug er auf seine Noch-Ehefrau ein. Die drei Frauen riefen um Hilfe, aber keiner der Umstehenden unternahm etwas. Seyran Ates rannte auf die Straße und hielt einen Polizisten auf. Der telefonierte erst einmal, und als er endlich zum Tatort mitkam, war der Angreifer längst verschwunden.

Der Vorfall beunruhigte Seyran Ates, die sich ohnehin zunehmend bedroht fühlte, nicht nur von männlichen Angehörigen ihrer Mandantinnen, sondern auch wegen ihrer öffentlichen Kritik an der Unterdrückung von Frauen und der Geringschätzung des Individuums in türkischen Familien. Weil sie beispielsweise anprangerte, »dass Frauen und Mädchen in der muslimischen Community häufig zu Analverkehr genötigt werden, um die Jungfräulichkeit nicht zu gefährden und um zu verhüten« (Seyran Ates in einem Interview), beschimpfte die türkische Tageszeitung »Hürriyet« sie als »Nestbeschmutzerin«. Die Rechtsanwältin sorgte sich nicht nur um ihre eigene Sicherheit, sondern vor allem auch um die ihrer im Sommer 2004 geborenen Tochter Zoe Sultan. (Vom Vater des Kindes hatte sie sich noch während der Schwangerschaft getrennt.) Deshalb gab sie im August 2006 ihre Zulassung zurück und schloss ihre Kanzlei in Berlin. Mit diesem Schritt wollte sie zugleich darauf aufmerksam machen, dass sich viele türkische Frauen vor Gewalttätigkeiten fürchten müssen.

Am 21. Juni 2007, einen Tag nach ihrem 44. Geburtstag, erhielt Seyran Ates aufgrund ihres Engagements für Integration und Gleichberechtigung das Bundesverdienstkreuz. Bundespräsident Horst Köhler zeichnete an diesem Tag erstmals nur Frauen aus.

Nach einem Jahr Pause nahm Seyran Ates ihre Anwaltstätigkeit in Berlin am 6. September 2007 wieder auf, allerdings ohne die Adresse ihrer Kanzlei bzw. Wohnung zu veröffentlichen. »Wo Frauen und Kinder schlecht behandelt werden, gucke ich hin«, erklärte sie tags darauf.

Ilona Kalmbach und Sabine Jainski drehten 2010 für das ZDF und Arte die Filmdokumentation „Mein Leben. Seyran Ates“ (Kamera: Fariba Nilchian und Knut Schmitz, Schnitt: Thomas Wellmann, 45 Minuten).

Bücher von Seyran Ates:

© Dieter Wunderlich 2008 / 2010

Seyran Ates: Große Reise ins Feuer

Steve Sem-Sandberg - Theres
"Theres" ist keine narrative Biografie, sondern eine Collage. Steve Sem-Sandberg kombiniert in dem Roman Texte über Ulrike Meinhof und die RAF. Dabei spricht er nur den Intellekt des Lesers an und lässt keine Empathie aufkommen.
Theres