Johannes Mario Simmel : Es muss nicht immer Kaviar sein

Es muss nicht immer Kaviar sein
Es muss nicht immer Kaviar sein Die tollkühnen Abenteuer und auserlesenen Kochrezepte des Geheimagenten wider Willen Thomas Lieven Originalausgabe: Schweizer Druck- und Verlagshaus, Zürich 1960
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Thomas Lieven wollte eigentlich nur seine Privatbank in London führen, kochen, und mit schönen Frauen speisen, aber er wurde von seinem Seniorpartner hereingelegt und 1939 bei einem Deutschlandbesuch von der Gestapo verhaftet. Spionage für die deutsche Abwehr konnte ihn retten. Weil ihn aber auch der britische und der französische Geheimdienst haben wollten, kam er 17 Jahre lang nicht zur Ruhe ...
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Kritik

"Es muss nicht immer Kaviar sein", das ist eine Mischung aus Abenteuer-, Schelmen- und Politroman, zugleich auch eine Parodie auf diese Genres. Die Handlung besteht aus einer Abfolge zahlreicher origineller, spannender, amüsanter Episoden.
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Erstes Buch:

„Wir Deutschen, liebe Kitty, können ein Wirtschaftswunder machen, aber keinen Salat“, sagte Thomas Lieven. (Seite 5)

Mit diesen Worten beginnt Johannes Mario Simmel seinen Roman „Es muss nicht immer Kaviar sein.“ Thomas Lieven, ein am 2. Januar 1910 geborener Deutscher, war Ende der Dreißigerjahre der jüngste Privatbankier in London (Bankhaus Marlock und Lieven), ein friedliebender Mensch, der sich dann allerdings durch die Umstände gezwungen sah, „in fünf Kriegs- und zwölf Nachkriegsjahren sechzehn falsche Pässe von neun Ländern zu benutzen“ (Seite 7).

Thomas Lieven liebte:
Schöne Frauen, elegante Kleidung, antike Möbel, schnelle Wagen, gute Bücher, kultiviertes Essen und gesunden Menschenverstand.
Thomas Lieven hasste:
Uniformen, Politiker, Krieg, Unvernunft, Waffengewalt und Lüge, schlechte Manieren und Grobheit. (Seite 6f)

Am 24. Mai 1939 ersuchte Robert E. Marlock seinen fünfzehn Jahre jüngeren Kompagnon Thomas Lieven, bei einer bevorstehenden Brüssel-Reise einen Abstecher nach Köln einzuplanen und dort nach Marlocks Freundin Lucie Brenner zu suchen, die ohne Abschied nach Deutschland zurückgekehrt war, als sie von einem Seitensprung ihres Geliebten erfahren hatte. Zwei Tage später traf Thomas Lieven in Köln ein und nahm sich ein Zimmer im Dom-Hotel. Als er Lucie Brenner besuchte, wurde er von zwei Gestapo-Offizieren festgenommen.

„Junge, Junge, wenn ich das im Club erzähle.“ (Seite 33)

Thomas Lieven war überzeugt, dass es sich um ein Missverständnis handelt, aber im Verlauf der ersten Vernehmung begriff er den Ernst seiner Lage. Lucie Brenner war von der Gestapo überwacht worden, weil man wusste, dass sie mit einem der beiden Inhaber der Londoner Privatbank Marlock & Lieven ein Verhältnis gehabt hatte. Das Bankhaus hatte im Frühjahr 1936 durch eine illegale Transaktion mit deutschen Pfandbriefen sehr viel Geld verdient, und deshalb sollte Thomas jetzt wegen eines schweren Devisenvergehens vor Gericht gestellt werden.

Am 27. Mai tauchte unvermittelt der Geheimdienst-Major Fritz Loos bei dem Häftling auf und machte ihm klar, dass es nur einen Ausweg gab: Er musste sich verpflichten, in Großbritannien für die deutsche Abwehr zu spionieren. In London werde sich ein John Smythe bei ihm melden, um den Gasofen im Badezimmer nachzusehen. Diesem Mann schulde er unbedingten Gehorsam, erklärte Major Loos.

Thomas war guter Dinge, als er noch am selben Tag nach London zurückflog, und er hatte selbstverständlich nicht vor, sich an die erzwungene Abmachung zu halten.

Im Flughafen wurde er angehalten. Peter Lovejoy vom Secret Service zeigte ihm eine Zeitung mit der Schlagzeile „Londoner Bankier in Köln verhaftet“ und fragte ihn, wieso er nun wieder frei war. Weil sich seine Unschuld herausgestellt habe, behauptete Thomas, aber da lachte Lovejoy, denn er wusste nur zu gut, dass sein Gegenüber bei einem deutschen Geheimdienst eine Verpflichtungserklärung hatte unterschreiben müssen, um ausreisen zu dürfen. Einen deutschen Agenten wollte man aber nicht ins Land lassen. Einen Ausweg gäbe es allerdings, deutete Peter Lovejoy an: Thomas sollte sich umdrehen lassen und fortan für den Secret Service in Deutschland spionieren. Diese Zumutung lehnte der junge Bankier rundweg ab; er zog es vor, sich nach Paris abzusetzen.

Am 28. Mai 1939 aß Thomas Lieven mit einer attraktiven Französin namens Mimi Chambert in einem Pariser Restaurant. Dass es sich bei Mimi um eine Agentin des Deuxième Bureau handelte, konnte er nicht ahnen. Die Franzosen hatten herausgefunden, dass er zur deutschen Abwehr gehörte. Eine Verurteilung wegen Spionage konnte er nur vermeiden, indem er sich von Oberst Jules Siméon für das Deuxième Bureau anwerben ließ.

In der Nähe von Nancy wurde er zusammen mit siebenundzwanzig anderen Männern ausgebildet. Die prügelten sich beim Überlebenstraining um das „Viertel einer Waldmaus“ (Seite 53), während Thomas Lieven heimlich eine Gänseleberpastete verzehrte, die er verbotenerweise eingepackt hatte. Er bestand den Kurs mit Auszeichnung und erhielt den Decknamen Jean Leblanc.

Weil Oberst Siméon über die unzulängliche finanzielle Ausstattung des Deuxième Bureau klagte, dachte Thomas sich etwas aus: Mit einem amerikanischen Diplomatenpass auf den Namen William S. Murphy fuhr er am 12. September nach Brüssel, legte an der Hotelrezeption einen belgischen Pass vor, demzufolge er Armand Deeken hieß, kaufte für 3 Millionen FF, die er dem französischen Geheimdienst aus seiner kleinen Bank in Brüssel vorstreckte, US-Dollar und kehrte mit dem Geld im Diplomatengepäck wieder nach Paris zurück. Dort ließ sich das amerikanische Geld mit beträchtlichem Gewinn tauschen, da die Nachfrage nach Dollar aufgrund panischer Angst vor einer sich beschleunigenden Franc-Abwertung entsprechend groß war und es den Franzosen aufgrund eines Kapitalausfuhrverbots, das der Finanzminister auf Anraten „Jean Leblancs“ erlassen hatte, nicht möglich war, ihr Geld ins Ausland zu schaffen. Bis zum 10. Mai 1940 reiste „William S. Murphy“ immer wieder zwischen Paris und Brüssel hin und her und füllte damit die Kasse des Deuxième Bureau auf.

Am 13. Juni 1940, einen Tag bevor die Deutschen in Paris einmarschierten, verließ Thomas mit Mimi Chambert und Jules Siméon die Stadt in südwestlicher Richtung. Unterwegs gerieten sie in eine Kolonne deutscher Panzerspähwagen und wurden angehalten. Oberleutnant Fritz Egmont Zumbusch prüfte den amerikanischen Diplomatenpass des Herrn am Steuer: William S. Murphy; dann ließ er sich Mimis Papiere zeigen. Siméon drohte die Nerven zu verlieren und presste die schwarze Mappe mit den Namen, Adressen und Erkennungszeichen Dutzender Geheimdienstagenten, die er bei sich trug, fest an sich. Weil das dem deutschen Oberleutnant auffiel, griff er nach der Mappe, aber da fuchtelte Siméon mit einer französischen Armeepistole herum und schoss in seiner Panik durchs Wagendach. Daraufhin wurden die Fahrzeuginsassen festgenommen und zu General Erich von Felseneck eskortiert.

Optimismus und Selbstbewusstsein halfen Thomas, den General von seinem Diplomatenstatus zu überzeugen. Während er ihm jedoch erklärte, wie ein schmackhafter Eintopf zubereitet wird, telefonierte Oberleutnant Zumbusch mit der amerikanischen Botschaft und erfuhr, dass man dort keinen William S. Murphy kannte. Jetzt blieb Thomas nur noch die Flucht nach vorne: Er behauptete, mit zwei äußerst wichtigen, zur Zusammenarbeit bereiten französischen Geheimnisträgern im persönlichen Auftrag von Admiral Wilhelm Canaris, dem Chef der deutschen Abwehr, unterwegs zu sein und sich selbst als amerikanischer Diplomat zu tarnen, während er in Wirklichkeit ein Agent der Abwehr sei. Zum Beweis zeigte er dem General seinen von Major Fritz Loos in Köln ausgestellten Ausweis. Daraufhin stellte ihm General von Felseneck einen Passierschein aus, um sicherzustellen, dass er nicht noch einmal angehalten wurde.

Während der Zeit, in der Thomas und seine beiden Begleiter in Toulouse auf einen hohen französischen Geheimdienstoffizier warteten, dem Oberst Siméon die brisante Liste übergeben sollte, lernte der unfreiwillige Agent in einem Restaurant den Bankier Walter Lindner kennen, der vor Hitler zunächst aus Wien und dann auch aus Paris geflohen war. Lindner beabsichtigte, mit seiner Frau nach Südamerika auszuwandern, um dort eine Bank zu gründen und schlug Thomas vor, sein Partner zu werden. Das Angebot fand Thomas sehr verlockend, denn er wollte gern wieder unbehelligt von Geheimdiensten eine Bank leiten.

Auf der Suche nach Nahrungsmitteln fuhr er auf dem Land herum. So kam er eines Tages nach „Les Milandes“ bei Castelnau-Fayrac und staunte nicht schlecht, als ihm Josephine Baker die Tür öffnete. Sie lud ihn zum Essen ein, obwohl nicht einmal sie über besondere Delikatessen verfügte. „Es muss nicht immer Kaviar sein“, meinte Josephine Baker (Seite 88).

Begeistert akzeptierte Thomas die Einladung, ließ sich aber – wie bei ihm üblich – das Kochen nicht nehmen. Während er noch in der Küche hantierte, tauchte ein Freund der schwarzen Entertainerin auf: Maurice Débras, der Geheimdienstoffizier, der das Verzeichnis nach Lissabon bringen sollte! Weil er sich nicht nach Toulouse wagte, hatte er Oberst Siméon aufgefordert, den Deutschen nach „Les Milandes“ zu schicken und ihm die Mappe unbemerkt in den Kofferraum zu legen. Thomas, der die Ermordung von Agenten, deren Namen auf der Liste standen, verhindern wollte, überlegte fieberhaft, was er tun konnte – und überredete Débras dann, ohne die Mappe nach Lissabon zu fahren und ihn damit reisen zu lassen. Das sei sicherer, meinte er. Er müsse ohnehin nach Lissabon, um sich dort mit dem Ehepaar Lindner nach Südamerika einzuschiffen.

Etwa zur gleichen Zeit aß General Otto von Stülpnagel, der deutsche Militärbefehlshaber in Frankreich, im „Hôtel Majestic“ in Paris, wo er sein Stabsquartier eingerichtet hatte, mit Admiral Wilhelm Canaris, General Erich von Felseneck und einigen anderen Herren zu Abend. Von Felseneck brachte das Gespräch andeutungsweise auf den vermeintlichen Abwehr-Offizier, mit dem er kürzlich zu tun gehabt hatte, Canaris horchte auf, ließ sich mehr darüber berichten und telefonierte dann mit Major Loos in Köln. Der sollte Thomas Lieven aufspüren und vor allem die Mappe mit dem Agentenverzeichnis besorgen, die dieser bei sich hatte.

Walter Lindner erhielt am 20. August 1940 vom argentinischen Konsul in Marseille Visa für sich, seine Ehefrau und seinen Partner Jean Leblanc. Am 10. September wollten sie in Lissabon an Bord des portugiesischen Passagierdampfers „General Carmona“ gehen und nach Buenos Aires reisen.

Am Abend vor seinem Flug von Madrid nach Lissabon verführte Thomas die Stewardess Mabel Hastings, und am Morgen, als er ihr beim Kofferpacken half, schmuggelte er die Mappe mit den Listen in ihren Koffer. Die Maschine rollte zur Startbahn. Thomas atmete auf. Da wurde der Start noch einmal verschoben, damit ein deutscher Major, der sich verspätet hatte, an Bord kommen konnte: Major Loos! Die Zollkontrolle in Lissabon war außergewöhnlich gründlich, aber Thomas hatte nichts Besonderes dabei. Loos hängte sich an seine Fersen, und Thomas machte sich zunächst einen Spaß daraus, ihn quer durch die Stadt zu führen, dann redete er ihn an und erfuhr, dass der deutsche Geheimdienstoffizier den Auftrag hatte, ihm auf jeden Fall die schwarze Mappe abzukaufen und ihn möglichst auch selbst nach Deutschland zu bringen. Thomas bat sich Bedenkzeit aus.

Er rief im Hotel an, ließ sich mit Mabel verbinden, entschuldigte sich, dass er noch geschäftlich zu tun habe und bat sie, die „versehentlich“ eingepackte Mappe auf seinen Namen im Hotelsafe zu deponieren. Vor der Telefonzelle stieß er mit Peter Lovejoy zusammen: Der Secret Service hatte aus abgehörten deutschen Funksprüchen mitbekommen, dass Major Loos Thomas Lieven nach Lissabon gefolgt war, um in den Besitz eines Agentenverzeichnisses zu kommen. Thomas wurde schwindelig: Maurice Débras vom Deuxième Bureau, Fritz Loos von der deutschen Abwehr und Peter Lovejoy vom Secret Service waren jetzt hinter seiner Liste her!

Unverzüglich kaufte er ein paar deutsche und französische Zeitungen sowie eine Schreibmaschine und zwei weitere schwarze Mappen. Dann tippte er in seinem Hotelzimmer eine neue Liste mit den Namen, Adressen und erfundenen Erkennungszeichen in dreifacher Ausfertigung. Den Toten konnte niemand mehr etwas antun. Die echte Liste zerriss er und spülte die Schnipsel in der Toilette hinunter.

Willibald Lohr, Düsseldorf, Sedanstraße 34; 1. „Haben Sie vielleicht einen kleinen grauen Zwergpudel mit rotem Halsband gesehen?“ 2. „Nein, aber in Lichtenbroich draußen wird noch Honig verkauft.“ (Seite 115)

Maurice Débras war beim Aufenthalt seines Zuges in Madrid der Pass abgenommen worden; er konnte also Spanien nicht verlassen und schickte Thomas eine Nachricht mit der Bitte, ihm einen Pass zu besorgen. Thomas hatte zwar vor, ihn mit der Liste zu betrügen, aber er wollte ihn auf keinen Fall hängen lassen. In dieser Situation kam es ihm zugute, dass er im Casino Estrella Rodrigues, die fünfunddreißigjährige Konsulin von Costa Rica, kennen gelernt hatte, die durch ihre Spielsucht hoch verschuldet war. Nach einer Liebesnacht erklärte Thomas, der wieder den Namen Jean Leblanc gebrauchte, der deutschfeindlichen Konsulin, wie sie zu Geld kommen konnte: durch den Verkauf gefälschter Pässe! Sie eilte mit ihm auf den Speicher des Konsulats, wo sie siebenunddreißig abgelaufene Pässe fand. Damit begab Jean Leblanc sich am 4. September 1940 in die Alfama zu dem Kunstmaler Reynaldo Pereira, dem besten Fälscher von Lissabon, und besorgte als Erstes einen Pass für Débras. Weil der jedoch rund um die Uhr von drei sich abwechselnden deutschen Agenten beschattet wurde, ließ Thomas alias Jean Leblanc am 5. September vor der britischen Botschaft in Madrid eine deutsche Protestdemonstration anzetteln, worauf die drei Geheimdienstagenten Helmut Löffler, Thomas Weise und Jakob Hart als Rädelsführer in ihrem Hotel verhaftet wurden.

Dadurch konnte Débras nach Lissabon und von dort am 8. September weiter nach Dakar fliegen – mit den gefälschten Listen, versteht sich, die Thomas inzwischen auch Loos und Lovejoy verkauft hatte. Als Thomas nach dem Abschied von Maurice Débras das Flughafengebäude verließ, wurde er von vier Männern in einen bereitstehenden Wagen gestoßen und auf einen Fischkutter gebracht, der ohne Positionslichter aufs Meer hinausfuhr. Plötzlich sah Thomas, wie im Dunkeln etwas auf sie zukam, unterdrückte aber seine Furcht und warnte die Männer nicht. Die Yacht „Baby Ruth“ rammte den unbeleuchteten Kutter, der sofort kenterte. Captain Edward Marks ließ die Schiffbrüchigen an Bord holen. – Der Secret Service hatte rechtzeitig erfahren, dass eine offenbar äußerst wichtige Person mit dem Decknamen „Kaufmann Emil Jonas“ mit einem U-Boot nach Deutschland entführt werden sollte und daraufhin die Yacht der fünfundsechzigjährigen fünffachen Witwe Ruth Woodhouse gemietet, um den Deutschen den Mann abzujagen.

Dummerweise hörte Estrella Rodrigues – die ihren Jean vermisste – die Nachricht von dem Schiffsunglück und einem in der Nähe georteten U-Boot im Radio, suchte daraufhin voller Sorge Ruth Woodhouse auf, erfuhr von ihr, wer die Yacht gemietet hatte und erkundigte sich dann beim Chef des britischen Geheimdienstes in Portugal nach dem Schiffbrüchigen Jean Leblanc. Auf diese Weise erfuhr der Secret Service, um wen es sich bei „Kaufmann Jonas“ handelte.

Einen Tag bevor die „General Carmona“ auslaufen sollte, kaperten die Deutschen das Schiff, und weil alle Schiffspassagen auf Monate ausgebucht waren, saßen Thomas und das Ehepaar Lindner in Lissabon bis auf weiteres fest. Um sich in der Zwischenzeit vor den deutschen, englischen und französischen Geheimdienstagenten in Sicherheit zu bringen, überredete Thomas seine Geliebte, ihn wegen des angeblichen Diebstahls eines Armbands anzuzeigen: Am 9. September 1940 wurde er verhaftet und eingesperrt.

Zweites Buch:

Als die deutschfeindliche Konsulin Estrella Rodrigues erfuhr, dass es sich bei ihrem Geliebten nicht um einen Franzosen, sondern um einen deutschen Agenten handelte, rächte sie sich in blinder Wut an ihm. Eigentlich war geplant, dass sie nach einiger Zeit die Anzeige zurückziehen sollte, weil sie ihren Armreif angeblich wieder gefunden hatte, doch sie hielt sich jetzt nicht mehr an den Plan, sondern erzählte Walter Lindner, Jean Leblanc sei spurlos verschwunden. Dann besorgte sie dem Ehepaar Lindner Schiffskarten und verließ auch selbst am 1. November 1940 Europa. Als Thomas fünf Tage später bei seiner ersten Vernehmung durch Untersuchungsrichter Eduardo Baixa erfuhr, dass Estrella abgereist war und man bei der Durchsuchung ihres Hauses den Wandsafe – in dem er sein gesamtes Vermögen deponiert hatte – offenstehend vorgefunden hatte, vertraute er sich dem buckligen, kahlköpfigen Kleinganoven Lazarus Alcoba an, mit dem er die Gefängniszelle teilte. Der half ihm daraufhin bei der Vorbereitung seiner Flucht: Sie schleusten einen gefälschten Entlassungsbefehl für Alcoba in die Gefängnispost, und als ein Aushilfswächter kam, um ihn aus der Zelle zu holen, folgte ihm Thomas, der sich von Alcoba die Haare hatte abfackeln lassen, dessen Mantel trug, mit einem Kissen im Rücken den Buckel simulierte und mit gebeugten Knien humpelte. Die Flucht wurde rasch bemerkt, aber Alcoba, der drei starke Schlaftabletten geschluckt hatte, behauptete, von seinem Mitinsassen durch ein Mittel im Morgenkaffee betäubt worden zu sein und pochte auf den Entlassungsbefehl, der seinen Namen trug.

Kurz zuvor, am 9. November, hatten Fritz Loos und Peter Lovejoy sich bei einem konspirativen Treffen gegen Thomas verschworen. Der Secret-Service-Agent schlug dem deutschen Abwehroffizier vor, den Mann umzubringen, der sie mehrmals an der Nase herumgeführt hatte. Dann könnte Loos melden, der britische Geheimdienst habe Thomas Lieven getötet, und Lovejoy würde in London behaupten, die Deutschen hätten ihn ermordet. Die beiden Geheimdienstagenten glaubten, auf diese Weise ihre Entlassung verhindern zu können. Sobald Lovejoy von Thomas‘ Flucht aus dem Gefängnis erfuhr, beauftragte er den portugiesischen Gangster Luis Guzmao mit dem Mordanschlag und schärfte ihm ein, dass der Gesuchte sich als Buckliger mit Glatze tarnte und vermutlich versuchen würde, sich bei dem Kunstmaler Reynaldo Pereira in der Rua do Poco des Negros einen gefälschten Pass zu besorgen. Am 17. November wurde in der Rua do Poco des Negros ein Buckliger erschossen: Lazarus Alcoba. Thomas war im Atelier Pereiras, traf jedoch den Künstler nicht an. Stattdessen tauchte eine Frau auf, die Thomas mit Reynaldo Pereira verwechselte, bis dieser nach Hause kam und seinen Besucher mit „Jean Leblanc“ ansprach. Die Dame hieß Chantal Tessier, schmuggelte Menschen über die Grenzen zwischen Frankreich, Spanien und Portugal und benötigte sieben Pässe. Weil der Maler aber keinen einzigen alten Pass mehr besaß, den er hätte fälschen können, blieb Thomas nichts anderes übrig, als sich Ende November von Chantal heimlich nach Marseille bringen zu lassen.

Nach der Ankunft lud sie ihn zum Essen ein. Plötzlich begann sie zu weinen und gestand Thomas alias Jean Leblanc, ihn an Oberst Jules Siméon verraten und absichtlich aus Lissabon nach Marseille gelockt zu haben, weil der sie wegen der Diebstähle ihrer Räuberbande erpressen konnte. Jetzt, wo sie Thomas kannte und sich in ihn verliebt hatte, bedauerte sie ihr Verhalten – aber es war zu spät: Siméon stand bereits im Treppenhaus. Thomas wäre verloren gewesen, wenn Josephine Baker sich nicht bei ihrem Freund Maurice Débras für ihn eingesetzt hätte. Im Gegensatz zu den Männern verstand sie, dass er das Agentenverzeichnis nur gefälscht hatte, um Menschenleben zu retten. Débras verlangte allerdings, dass „Jean Leblanc“ wieder für das Deuxième Bureau arbeitete.

„O Gott, geht es also schon wieder los –!“ (Seite 224)

Thomas erhielt auch gleich einen Auftrag: Unter dem Namen Pierre Hunebell verabredete er sich am 4. Dezember 1940 mit Jacques Bergier und Paul de Lesseps, von denen das Deuxième Bureau wusste, dass es sich um Gold- und Devisenbeschaffer der Gestapo handelte. Bergier und de Lesseps waren an der von „Pierre Hunebell“ angebotenen Goldlieferung sehr interessiert. Unverzüglich machten sich Thomas und Bastian Fabre, ein Mitglied aus Chantals Räuberbande, auf den Weg zu dem Zahnarzt Dr. René Boule und ließen sich sieben je ein Kilogramm schwere Goldbarren mit Bleikernen und gefälschten Prägungen der Bank von Lyon anfertigen, die sie Bergier am 6. Dezember ins Hotel brachten und verkauften. De Lesseps hatte inzwischen in Südfrankreich große Mengen an Schmuck und Devisen besorgt und beabsichtigte, sie nach Paris zu bringen. Beim Aufenthalt seines Zuges am 7. Dezember in Marseille sollte Bergier ihm auch die sieben Goldbarren übergeben. Während das Deuxième Bureau dafür sorgte, dass Bergier und de Lesseps im Bahnhof St. Charles festgenommen wurden, drang Thomas mit einigen Kumpanen in Bergiers Hotelzimmer ein und raubte die Schrankkoffer mit dem Geld, das zum Aufkauf weiterer Schätze dienen sollte.

Jacques Bergier wurde zwar mit sieben Goldbarren im Koffer ertappt und wegen Devisenschmuggels angeklagt, aber bei Paul de Lesseps fand die Polizei keinerlei Wertgegenstände. Da ahnte Thomas, wo er suchen musste: Er fuhr zu „Chez Papa“ und fragte nach Bastian Fabre, der dort in einem Hinterstübchen wohnte. Auf dem Tisch türmten sich Goldbarren, Schmuck und Münzen, die unter der Kohle im Tender des Zugs versteckt gewesen waren. Chantal hatte Thomas nicht eingeweiht, weil sie seine Gesinnung kannte, und wie von ihr befürchtet, bestand er darauf, die Wertsachen Jacques Cousteau – dem späteren Tiefseeforscher – auszuhändigen, der für das Deuxième Bureau arbeitete, denn sie gehörten dem französischen Staat. Nur das Geld aus den Schrankkoffern durfte Chantals Bande behalten, denn es stammte von der Gestapo.

Bei ihrer ersten Vernehmung wiesen Bergier und de Lesseps Ausweise vor, die ihnen Sturmbannführer Walter Eicher vom SD (Sicherheitsdienst der deutschen Polizei) in Paris ausgestellt hatte. Eicher, von der französischen Polizei verständigt, fuhr selbst mit seinem Adjutanten Fritz Winter nach Marseille, um die beiden betrogenen Gold- und Devisenbeschaffer abzuholen. Aufgrund ihrer Aussagen fahndete der SD nach Pierre Hunebelle. Beim Lesen der Fahndungsmeldung erinnerte sich Hauptmann Brenner von der Abwehr in Paris an Thomas Lieven alias Jean Leblanc und informierte Admiral Wilhelm Canaris, der auf diese Weise erfuhr, dass Thomas Lieven nicht – wie von Major Loos gemeldet – tot war.

Die Résistance verübte am 27. Dezember 1940 auf der Strecke Nantes – Angers einen Bombenanschlag auf einen deutschen Truppentransport. Fünfundzwanzig Soldaten starben, über hundert wurden verletzt. Zur Vergeltung erschossen die Deutschen dreißig französische Geiseln. Radio London berichtete darüber und meldete, dass der Résistance in Marseille gewaltige Werte aus Raub- und Plünderungsaktionen der Nazis in die Hände gefallen waren, die sie jetzt zur Ausweitung des Partisanenkampfs gegen die Deutschen nutzte. Als Thomas das hörte, erbleichte er: Das hatte er nicht gewollt! Vielleicht hätte er doch auf Chantal hören sollen. Nach diesem Schock ließ er sich von der Bandenchefin zum Partner machen und organisierte von Januar 1941 bis August 1942 zahlreiche Coups gegen Menschen, die es nicht anders verdienten, wie zum Beispiel der Juwelier Marius Pissoladière in Marseille, der die Not gestrandeter Flüchtlinge ausnützte, die ihren letzten Schmuck verkaufen mussten, um weiterzukommen. Die Erfolge erweckten den Neid von Dante Villaforte, genannt „die Glatze“, dessen Bande mit der von Chantal und Thomas konkurrierte. Dante Villaforte ließ Thomas deshalb am 18. September 1942 von seinen Männern überfallen und der Gestapo übergeben, die ihn im Zentralgefängnis von Frèsnes bei Paris einsperrte.

Erst Wochen später wurde Thomas erstmals nach Paris zum Verhör bei Walter Eicher und Fritz Winter gebracht und weil er schwieg, im Keller gefoltert. Das wiederholte sich drei Tage lang. Dann tauchte Oberst Erich Werthe von der Abwehr auf und drängte Thomas, wieder für den deutschen Geheimdienst zu arbeiten, dann werde man ihn aus den Klauen der Gestapo befreien. Am 3. Februar 1943 erklärte Thomas sich gegenüber Admiral Canaris einverstanden.

„Herr Canaris, ich werde für Sie arbeiten, weil mir nichts anderes übrig bleibt. Aber ich gebe zu bedenken: Ich töte niemanden, ich bedrohe niemanden, ich ängstige, drangsaliere und entführe niemanden.“ (Seite 303)

Wilhelm Canaris ging auf Thomas‘ Vorbehalte ein und beauftragte ihn, eine von Professor Débouché neu aufgebaute Gruppe der Résistance in der Auvergne lahmzulegen, die mit London in Verbindung stand. Zu diesem Zweck ließ Thomas sich zum Fallschirmspringer ausbilden. In der Nacht vom 3./4. April 1943 sprang er über einem Waldgebiet zwischen Limoges und Clermont-Ferrand aus einer Maschine mit RAF-Kennung ab und wurde von drei Männern und einer Frau in Empfang genommen. Er brachte das Funkgerät, das die Widerstandsgruppe von London erbeten hatte. Der Sender, den „Captain Robert Almond Everett“ bei sich trug, war allerdings so manipuliert, dass er Verbindungen nicht mit London, sondern mit der deutschen Abwehr in Paris herstellte. Auf diese Weise sollte die Résistance irregeführt und von tödlichen Anschlägen abgehalten werden. Yvonne Dechamps, die Assistentin Débouchés, versuchte den vermeintlichen Briten zu verführen, aber der ließ sie trotz ihrer Schönheit aus Treue gegenüber Chantal stehen und zog sich deshalb ihren Hass zu. Argwöhnisch beobachtete Yvonne, wie er achtzehn Stunden nach seiner Landung von einer von der RAF erbeuteten „Lysander“ abgeholt wurde.

Drittes Buch:

Die französische Widerstandsgruppe von Professor Débouché und seiner Assistentin Yvonne Dechamps ließ sich einige Zeit von der deutschen Abwehr hinhalten, aber am 1. August 1943 warfen die Deutschen aus einem erbeuteten RAF-Bomber Plastikstrengstoff für die Guerillakämpfer ab, und drei Tage später ordneten die Abwehrleute in Paris, die sich nach wie vor für Beauftragte der englischen Regierung ausgaben, per Funk die Sprengung einer Brücke an, die Thomas allerdings sorgfältig ausgewählt hatte, damit der Schaden gering blieb. Außerdem achtete er darauf, dass zum Zeitpunkt der Sprengung niemand auf der Brücke war. Das Résistance-Mitglied, das die verschlüsselte Vollzugsmeldung sendete, bat in seiner Eitelkeit darum, General Charles de Gaulle in London von dem Erfolg zu berichten und gab die Namen der Beteiligten durch. Hauptmann Brenner übermittelte die Liste sofort nach Berlin, und Thomas sah nur noch eine Möglichkeit, das Leben der Betroffenen zu retten: Er meldete sich freiwillig als Leiter der geplanten Aktion in der Auvergne.

Mit einer „Lysander“ flog Thomas am 6. August nach Clermont-Ferrand. Hauptmann Oellinger, der seine Instruktionen bereits per Funk erhalten hatte, stellte ihm ein Auto zur Verfügung, mit dem er im Morgengrauen zur Universität fuhr, wo Professor Débouché eine Dienstwohnung hatte. Er unterrichtete ihn darüber, dass sein Name zusammen mit anderen unvorsichtigerweise durchgegeben worden war. Dann gestand er ihm, kein britischer Captain zu sein, sondern für die deutsche Abwehr zu arbeiten, klärte ihn darüber auf, dass seine Résistance-Gruppe seit Monaten nicht mit London, sondern mit der deutschen Abwehr in Verbindung gestanden hatte und warnte ihn vor einem unmittelbar bevorstehenden Gebirgsjägereinsatz zur Zerschlagung seiner Widerstandsgruppe. Um blutige Kämpfe zu verhindern, müsse Débouché sich mit seinen Leuten freiwillig in deutsche Gefangenschaft begeben. Yvonne Dechamps, die inzwischen herbeigeeilt war, sollte sich von Thomas nach Paris bringen lassen; er versprach jedoch, ihr unterwegs die Flucht zu ermöglichen. Im Gegensatz zu Yvonne, die erst einmal vor Wut schäumte, begriff Professor Débouché rasch, dass er keine andere Wahl hatte und erklärte sich mit den Vorschlägen einverstanden.

Nach diesem Erfolg erhielt Thomas von der Abwehr den Auftrag, die schlimmsten Schiebereien auf dem Schwarzmarkt in Paris zu unterbinden. Als Erstes konzentrierte Thomas sich auf den Privatbankier Jean-Paul Ferroud und lud ihn am 10. September 1943 zum Essen ein. Ferroud folgte der Einladung, obwohl er wusste, dass sein Gastgeber für die deutsche Abwehr arbeitete, denn er wollte sich mit ihm „arrangieren“. Als Thomas nicht darauf einging, stand Ferroud wütend auf und ging. Überraschenderweise lud er Thomas drei Tage später seinerseits zum Essen ein. In seiner Villa tauchte auch Yvonne Dechamps auf. Sie war die Cousine von Ferrouds Ehefrau Marie-Louise. Weil sie sich nach ihrer „Flucht“ dem Marquis von Limoges angeschlossen hatte, wurde sie jetzt von der Gestapo gejagt und befand sich in Lebensgefahr. Um die Verwandte zu retten, erklärte Jean-Paul Ferroud sich bereit, über die Machenschaften auf dem Schwarzmarkt auszusagen. Als Gegenleistung sollte Thomas Yvonne außer Landes bringen.

Thomas überzeugte seine Vorgesetzten von der Bedeutung dieses Zeugen und begleitete Yvonne dann im Schlafwagen nach Marseille. Zufällig kam in dem Augenblick, als der Schaffner Champagner servierte, Stabshauptführerin Mielke an dem offenen Abteil vorbei und erkannte den Mann, über dessen mangelnde Unterwürfigkeit sie sich unlängst geärgert hatte. Sie ließ die Papiere des Paares kontrollieren und erfuhr auf diese Weise, dass die Dame unter dem Namen Madeleine Noël reiste. Unverzüglich zeigte die Stabshauptführerin Thomas Lieven wegen des Verdachts auf Fluchthilfe an. Sturmbannführer Walter Eicher ließ den Fall überprüfen und fand heraus, dass es sich bei „Madeleine Noël“, die inzwischen in einer deutschen Kuriermaschine von Marseille nach Madrid und weiter nach Lissabon geflogen worden war, um die gefährliche Widerstandskämpferin Yvonne Dechamps handelte. Daraufhin unterrichtete er den Reichsführer-SS, Heinrich Himmler, über den Vorfall – und da konnte selbst Admiral Wilhelm Canaris seinem Schützling nicht mehr helfen. Thomas gab sich jedoch noch nicht verloren …

Bevor Jean-Paul Ferroud auspacken konnte, wurde er vom SD unter Hausarrest gestellt. Man verdächtigte ihn, für die Ermordung des Untersturmführers Erich Petersen verantwortlich zu sein. Da es sich bei dem Toten um einen Blutordensträger handelte, schlug der Fall Wellen bis nach Berlin, und Admiral Canaris – der wusste, wie wichtig Ferrouds Aussagen sein würden – erreichte in einer Unterredung mit Heinrich Himmler, dass die Aufklärung vom SD und der Abwehr gemeinsam betrieben wurde. Thomas fuhr nach Toulouse zu Fred Meyer und Paul de la Rue, zwei Mitglieder der Bande von Chantal Tessier, die sich auf seine Bitte umhörten und herausfanden, dass Petersen von dem Korsen Louis Monico umgebracht worden war. Der hatte sich mit dem Untersturmführer, von dem er wusste, dass er Gold aufkaufte, in einem Hotelzimmer getroffen und zwei schwere Koffer mit Goldmünzen und -barren mitgebracht. Als Petersen unvermittelt seinen Ausweis zog und ihn verhaften wollte, um sich die Wertsachen ohne Bezahlung zu verschaffen, wurde er von Louis Monico erschossen. Der Täter hatte inzwischen einen Blutsturz erlitten, lag seither todkrank im Hospital und war bereit, eine offizielle Aussage zu machen. Petersens Dienstwohnung fanden die Ermittler ausgeräumt vor; die Concierge berichtete, Obersturmführer Ernst Redecker, ein Freund Petersens, habe alles abgeholt. Von einer Frau namens Lilly Page, die Petersen zu einem sexuellen Verhältnis gezwungen hatte, erhielt Thomas dessen Tagebuch, das er noch in derselben Nacht las. Auf diese Weise durchschaute er eine enorme Schieberei: In Frankreich aufgekauftes, requiriertes, erpresstes und geraubtes Gold wurde mit Kuriermaschinen des SD nach Berlin geflogen und von dort nach Bukarest transportiert, wo SD-Offizieren es zu besonders günstigen Kursen gegen Reichskreditkassenscheine eintauschten, die man als „Geheime Kommandosache“ über Berlin nach Paris brachte.

Am 29. September 1943 suchte Thomas Sturmbannführer Eicher in der Pariser Dienststelle des SD auf. Der wunderte sich über seine Dreistigkeit, aber bevor er ihn festnehmen ließ, erzählten er und sein Adjutant Winter, wie sie von der Fluchthilfe für Yvonne Dechamps erfahren hatten. Sie ahnten nicht, was inzwischen geschehen war. Oberst Werthe hatte am Vortag Admiral Canaris über Thomas‘ Ermittlungsergebnisse informiert, und der war unmittelbar darauf zu Heinrich Himmler geeilt. Noch in der Nacht hatte man die Schieber in Bukarest und Berlin festgenommen und Reichskreditkassenscheine im Wert von zweieinhalb Millionen Mark aus dem Gepäck eines SD-Kuriers sichergestellt. Während Thomas bei Eicher saß, ließen sich drei SS-Gruppenführer melden und forderten den Sturmbannführer auf, Ernst Redecker rufen zu lassen. Der Obersturmführer, der sich sicher gefühlt hatte, weil der Reichsführer-SS sein Schwager war, erbleichte, als ihn die drei aus Berlin angereisten Offiziere wegen der Millionenschiebungen festnahmen und dann Thomas Lieven den persönlichen Dank Heinrich Himmlers übermittelten.

Thomas ermittelte weiter und entlarvte im Frühjahr 1944 Oskar Lakuleit, den Alleininhaber der „Intercommerciale SA“ in Paris, der von den Deutschen hofiert wurde, weil er ihnen dringend benötigte gebrauchte Kraftfahrzeuge für die Wehrmacht lieferte. Mit Hilfe des von Lakuleit entlassenen Buchhalters Anton Neuner fand er heraus, dass der Geschäftsmann in Nizza auf eigene Rechnung mindestens 350 Luxuskarrossen besorgt und mit erschlichenen Ausfuhrgenehmigungen, als Ersatzteile deklariert, nach Madrid verschoben hatte. Das Deutsche Reich war von ihm um Millionen geprellt worden.

Am 30. Mai wurde Thomas zum Reichsführer-SS in Berlin befohlen. Die Abwehr war am 18. Februar von Hitler aufgelöst worden, und Heinrich Himmler hatte die Aufgaben von Admiral Canaris übernommen. Der Akte über Thomas Lieven war zu entnehmen, dass der erfolgreiche Abwehr-Agent auch schon mit dem Secret Service und dem Deuxième Bureau in Verbindung gestanden hatte. Himmler hätte ihn eigentlich erschießen lassen müssen, aber er brauchte ihn für eine delikate Aufgabe: Thomas sollte den englischen Oberstleutnant Henry Booth nach Lissabon bringen, denn über ihn wollte Himmler heimlich Friedensfühler nach London ausstrecken.

Thomas meldete sich am 8. Juni 1944 bei Hauptsturmführer Heinrich Rahl, dem SD-Chef in Marseille, der ihm weisungsgemäß seine Hilfe anbot, einen Kommandowagen zur Verfügung stellte und für Thomas die Adresse von Bastian Fabre ermittelte, der zur Durchführung der äußerst wichtigen Geheimmission benötigt wurde. Als Bastian berichtete, dass Dante Villaforte („die Glatze“) Anfang 1943 Chantal erschossen hatte, bat Thomas seinen Freund, Oberstleutnant Booth über die Grenze nach Spanien zu bringen. Er selbst blieb zurück und wartete, bis die Briten und Amerikaner an der Riviera landeten. Eine Woche später, am 23. August, ließ er Dante Villaforte vom SD festnehmen und im Keller des Gebäudes einsperren. Nachdem sich die SD- und Gestapo-Leute am 27. August abgesetzt hatten, schloss Thomas die Zellentüren auf, ließ die Häftlinge frei, wies sie auf den SD-Spitzel im Keller hin und riet ihnen, den Mann bis zum Eintreffen der Alliierten gut zu bewachen.

Thomas wollte sich als Captain Robert Almond Everett nach London ausfliegen lassen, aber im letzten Augenblick nahm Oberst Jules Siméon ihn fest und brachte ihn am 15. September wieder in das inzwischen von den Franzosen zurückeroberte Gefängnis von Frésnes. Am 3. Oktober 1944 wurde Thomas aus seiner Zelle geholt und nach Paris gefahren, zum Verhör, wie er aufgrund seiner früheren Erfahrungen zunächst glaubte, aber seine Bewacher meinten: „Nein, zum Erschießen!“ Sie lieferten ihn bei Maurice Débras ab, der inzwischen nicht mehr für das Deuxième Bureau arbeitete, sondern für den Kriegsverbrecher-Suchdienst. Um Thomas aus dem Gefängnis zu befreien, hatte er ihn auf die Liste der Kriegsverbrecher gesetzt und nach Paris bestellt. Aber jetzt musste Thomas selbstverständlich für ihn arbeiten.

Viertes Buch, Prolog und Epilog:

Als „Captaine René Clairmont“ nahm Thomas am 7. Juli 1945 in Baden-Baden seinen Dienst beim Kriegsverbrecher-Suchdienst auf. Dort war auch Lieutenant Pierre Valentine beschäftigt. Als Thomas erfuhr, dass Valentine am 3. November wieder einmal eine geheime Hausdurchsuchung plante, folgte er ihm unbemerkt und beobachtete, wie der Kollege im Wintergarten einer Villa sieben Pflanzen aus ihren Blumentöpfen riss, sonst jedoch nichts anfasste. Was machte er da? Sobald Valentine fort war, klingelte Thomas. Der verärgerte Hausherr, Graf von Waldau, musste sich wegen seines Verhaltens im „Dritten Reich“ vor dem Kriegsverbrecher-Suchdienst in Acht nehmen. Kürzlich hatte er den Rat einer Verwandten – einer Agentin des britischen Geheimdienstes – befolgt und den Familienschmuck in sieben Blumentöpfen versteckt. Valentine musste davon erfahren haben.

Unverzüglich fuhr Thomas zum britischen Geheimdienst nach Hannover. Bei der Verwandten des Grafen von Waldau handelte es sich um Vera Prinzessin von C., eine knapp dreißig Jahre alte Agentin, die Thomas bei einer Abendgesellschaft am 23. März 1944 in Paris kennen gelernt hatte. Zunächst zögerte er, aber dann ließ er sich von Vera überreden, in ihre Wohnung mitzukommen. Er merkte, dass sie ihn betrunken machen wollte, glaubte jedoch, über ein größeres Stehvermögen als sie zu verfügen; am Ende fielen beide betrunken im Bett übereinander her. Danach erzählte Thomas unvorsichtigerweise von dem Bankkanto, das er unter dem Namen Eugen Wälterli in Zürich eingerichtet hatte. Am anderen Morgen, als er wieder halbwegs nüchtern war, nahm er Vera fest, um sie in Baden-Baden Lieutenant Pierre Valentine gegenüberzustellen. Sie bat darum, in seinem Büro kurz mit Valentine unter vier Augen reden zu dürfen. Als Thomas fünf Minuten später wieder ins Zimmer kam, stand das Fenster offen und die beiden waren nicht mehr da. Pierre Valentine wurde am 7. November in Nancy verhaftet, aber von Vera fehlte jede Spur.

Bei der Überprüfung der Personalakte von Captaine René Clairmont durch das französische Kriegsministerium stellte jemand fest, dass er früher für die deutsche Abwehr gearbeitet hatte. Da musste Thomas seinen Schreibtisch räumen. Das Schloss klemmte ein wenig, als er seine falschen Pässe aus der Schublade nahm. Es war alles da, bis auf den Schweizer Pass auf den Namen Eugen Wälterli und die Bankunterlagen. Ein Anruf in Zürich brachte Gewissheit: „Seine Frau“ hatte sein ganzes Vermögen bis auf 20 Franken abgehoben!

Vorübergehend versteckte Thomas sich vor dem französischen Geheimdienst unter dem Namen Maurice Hausér im Hotel Crillon an der Place de la Concorde in Paris. In der Höhle des Löwen fühlte er sich am sichersten. Mit Hilfe seines Freundes Bastian Fabre und eines russischen Kommissars gelang es ihm, vom Ministère du Ravitaillement 3000 Hektoliter Schnaps zugeteilt zu bekommen, die er zu Pastis verarbeiten und an Offizierskasinos verkaufen ließ, um wieder zu Geld zu kommen.

Dann suchte er nach seinem früheren Kompagnon Robert E. Marlock. Das Bankhaus „Marlock & Lieven“ in London existierte nicht mehr; Marlock hatte am 14. August 1942 die Zahlungen eingestellt und war verschwunden. So sehr Thomas sich bemühte, er fand keine Spur von ihm.

Am 16. Juni 1946 besuchte er eine Party in der Münchner Villa, die Eva Braun von Hitler geschenkt bekommen hatte. Als er am nächsten Morgen in seinem Bett erwachte, lag zu seiner Überraschung eine Frau neben ihm: Christine Troll. Er hatte sie auf der Party kennen gelernt und viel mit ihr geredet, aber er konnte sich nicht erinnern, wie er mit ihr in seine Wohnung gekommen und was dann passiert war. Christine Trolls Eltern waren tot, und es fehlte ihr an Geld, um den Familienbetrieb neu zu eröffnen. Thomas investierte das Vermögen, das er inzwischen wieder besaß, und am 15. August 1946 drehten sich in der Kosmetikfabrik wieder die Räder.

Einige Zeit später wurden er und Christine Troll vom amerikanischen CID (Criminal Investigation Department) festgenommen und beschuldigt, im Auftrag einer Werwolf-Organisation einen Mordanschlag gegen General Lynton durchgeführt zu haben. Der explodierte Sprengkörper soll in einer Dose „Beauty Milk“ aus dem Troll-Unternehmen verborgen gewesen sein. Zuerst konnte Thomas sich nicht erklären, wie er in den Verdacht hatte geraten können, aber dann reimte er sich zusammen, was passiert war: Die Schönheitsmilch war aufgrund der unzureichenden Produktionsbedingungen mit Bakterien verseucht. Im überheizten Schlafzimmer des Generals und seiner Frau hatte sich in der Dose Kohlendioxid entwickelt, und dann war die Dose geborsten. Nachdem die Amerikaner die von Thomas aufgestellte Theorie überprüft hatten, ließen sie ihn frei. Er wunderte sich, wieso Christine Troll eingesperrt bleiben sollte, bis er erfuhr, dass sie die Chefin einer berüchtigten Bande gewesen war, die im Raum Nürnberg Banken überfallen und Autos gestohlen hatte. Ganz bewusst hatte sie sich an ihn herangemacht, um an sein Geld zu kommen. Und weil das beschlagnahmte Unternehmen nur auf ihren Namen im Handelsregister eingetragen war, erhielt Thomas von seinem investierten Vermögen keinen Pfennig zurück.

In der Gefängniszelle hatte Thomas den Schriftsteller Walter Lippert kennen gelernt. Der war von den Nationalsozialisten ins Konzentrationslager Dachau gesperrt worden. Nach dem Krieg hatten ihn die Amerikaner mit der Prüfung von Anträgen für Unbedenklichkeitsbescheinigungen beschäftigt. Eines Tages war ein Captain William Wallace bei ihm aufgetaucht und hatte für seine Freundin Lucie Maria Wallner einen „Persilschein“ verlangt. Weil die „Schwarze Lucie“ jahrelang die Geliebte eines Gauleiters gewesen war und andere denunziert hatte, um sich auf deren Kosten zu bereichern, hatte Walter Lippert die Ausstellung der Bescheinigung verweigert – und war bald darauf von den Amerikanern festgenommen worden.

Um ihm zu helfen, hörte Thomas sich in dem inzwischen von der „Schwarzen Lucie“ geführten Lokal um, in dem vornehmlich alte Nazis verkehrten. Dabei fand er heraus, dass es sich bei „Captain Wallace“ um SA-Sturmführer Eder handelte, der nach dem sog. „Röhm-Putsch“ geflohen war und seinen Namen gewechselt hatte. Eder alias Wallace wurde daraufhin festgenommen, Walter Lippert aus der Haft entlassen. Am 29. Mai 1947 kam eigens ein Richter aus North Carolina nach München, um die von der „Schwarzen Lucie“ und ihrem Freund organisierten Schiebereien zu untersuchen. Vierzehn US-Soldaten und fünfundzwanzig deutsche Staatsbürger wurden verhaftet, darunter die „Schwarze Lucie“, die zwar schon am 2. Juli unter strengen Auflagen freikam, aber am 23. Dezember mit durchschnittener Kehle aufgefunden wurde.

Nebenbei hatte Thomas durch seine Kontakte im Lokal der „Schwarzen Lucie“ achtundzwanzig Uran-238-Würfel aus dem Kaiser-Wilhelm-Institut in Berlin erworben und einem Vertrauten des argentinischen Präsidenten Juan Domingo Peron weiterverkauft. Außerdem besaß er jetzt geheime Konstruktionspläne eines Zielgeräts, das unter dem NS-Regime nicht mehr zur Serienreife entwickelt worden war. Dafür interessierte man sich vor allem im Osten: der tschechische Agent Gregor Marek und Oberst Wassili L. Melanin, der sowjetische Stadtkommandant von Zwickau, wollten die Pläne unbedingt haben. Thomas übergab sie mit einigen kleinen, aber entscheidenden Änderungen, um zu verhindern, dass das Zielgerät ohne weiteres nachgebaut werden konnte.

In Zwickau lernte Thomas nicht nur Oberst Melanin und dessen heißblütige Ehefrau Dunja kennen, sondern auch den Armenier Reuben Achazian. Der gründete mit Thomas als Partner ein Handelsunternehmen, das bei der Zentralen Verwertungsgesellschaft in Wiesbaden billig einkaufte und mit hohen Gewinnen verkaufte.

Unvermittelt stand eines Tages Dunja Melanin bei Thomas vor der Tür. Sein Freund Bastian Fabre und sein Geschäftspartner Reuben Achazian beobachteten mit Sorge, wie erschöpft er nach wenigen Nächten mit Dunja aussah. Als sie sich schließlich von ihrem Mann scheiden ließ und Thomas heiraten wollte, beauftragte Bastian zwei Russen, sie zu überfallen und ein wenig zu würgen. Prompt fürchtete sie sich vor der Rache Oberst Melanins und setzte sich am 27. Mai 1948 nach Amerika ab.

Zur Verwunderung seines Freundes und seines Partners gründete Thomas unter dem Namen „Jackson Taylor“ ein Autogeschäft in Hamburg und kaufte hundert Neuwagen in den USA, die auf die „Olivia“ verladen wurden, die am 10. Juni 1948 von New York auslief. Mitten auf dem Atlantik wurde das Schiff auf Anordnung des Ladungseigners einige Tage aufgehalten, aber nach der Währungsreform in den drei deutschen Westzonen am 20./21. Juni setzte es seine Fahrt fort. Durch die Währungsreform kam die Wirtschaft wieder in Schwung. Reichsmark-Guthaben wurden zwar nur im Verhältnis hundert zu fünf auf Deutsche Mark umgestellt, aber die Besitzer von Sachwerten waren fein heraus. Und Thomas freute sich, hundert fabrikneue Autos zum Verkauf anbieten zu können.

Bei einem Kinobesuch am 14. April 1949 in Zürich erkannte Thomas auf einer Aufnahme der Wochenschau vom Hamburger Frühjahrsderby Robert E. Marlock. Da ließ er sich die Filmrolle geben und Abzüge machen, mit denen er zur Bankenaufsicht in Frankfurt am Main fuhr. Dort identifizierte man den Mann auf den Fotos als den Hamburger Bankier Walter Pretorius. Für eine Anzeige fehlte Thomas das Beweismaterial, aber er dachte sich etwas aus, um sich an seinem früheren Kompagnon zu rächen: Mit einem riskanten Börsenmanöver wollte er ihn geschäftlich ruinieren.

Am 9. Mai 1949 tauchte Reuben Achazian bei den vom Bankrott bedrohten Excelsior-Werken in Stuttgart auf und stellte der Geschäftsleitung die Rettung des Unternehmens durch Investitionen eines Schweizer Unternehmers in Aussicht. Thomas setzte dafür 900 000 Mark ein, sein ganzes Vermögen. Die Nachricht bewirkte, dass die Aktien der Excelsior-Werke kräftig anzogen. Strohmänner erkundigten sich bei Walter Pretorius‘ Privatbank in Hamburg nach den Aktien des Stuttgarter Unternehmens, um ihn darauf aufmerksam zu machen. Gierig begann Robert E. Marlock alias Walter Pretorius Aktien aufzukaufen, wodurch der Kurs in schwindelnde Höhen kletterte. Inzwischen erwarb Thomas von einigen Schweizern deren Sperrmarkkonten in Deutschland und ließ das Bankhaus Pretorius wissen, dass er damit die Excelsior-Werke sanieren wolle. Der Bankier sorgte durch seine Beziehungen dafür, dass die Sperrmarkkonten freigegeben wurden, denn er witterte das Geschäft seines Lebens. Zu diesem Zeitpunkt schickte Thomas seinen Partner Reuben Achazian mit entsprechenden Vollmachten nach Hamburg. Achazian fuhr am 7. Dezember 1949 los, leerte die Konten in Hamburg – und verschwand mit dem Geld, statt in die Schweiz zurückzukehren. Thomas und Marlock alias Pretorius wurden wegen der Sperrmarkschiebung festgenommen. Die Zweite Große Strafkammer des Landgerichts Frankfurt am Main verurteilte Thomas am 19. November 1950 zu dreieinhalb Jahren und den Bankier zu vier Jahren Haft. Die Hamburger Privatbank meldete Konkurs an. Marlock war ruiniert. Thomas hatte allerdings auch wieder einmal sein Vermögen verloren und saß ebenfalls im Gefängnis.

Bastian holte seinen Freund am 14. Mai 1954 am Gefängnistor ab und fuhr erst einmal mit ihm zur Erholung an die Riviera. Erst im Sommer 1955 kehrten sie nach Deutschland zurück und mieteten in Düsseldorf eine Villa im vornehmsten Teil der Cecilien-Allee.

Dort war am 11. April 1957 Direktor Schallenberg zu Gast bei Thomas, und Bastian spielte den Butler. Schallenbergs Papierfabrik lieferte das Wasserzeichen-Papier für die neuen Aktien der Deutschen Stahlunion-Werke (DESU). Davon wollte Thomas fünfzig Großbogen haben. Schallenberg glaubte zuerst, er habe sich verhört, dann erhob er sich aufgebracht und wollte gehen, aber da erinnerte ihn Thomas an seine Tätigkeit als Wehrwirtschaftsführer im Warthegau, die er 1945 im Fragebogen nicht angegeben hatte. Unter seinem richtigen Namen – Mack – stand er noch immer auf einer Auslieferungsliste der polnischen Regierung. Schallenberg lieferte daraufhin das Papier, und Thomas fälschte DESU-Aktien im Wert von 1 Million D-Mark. Die hinterlegte er bei der Schweizer Zentralbank in Zürich und ließ sich eine Depot-Bestätigung aushändigen, wobei er sich als Düsseldorfer Unternehmer mit dem Namen Wilfried Otto ausgab. Die Coupons der gefälschten Papiere nahm er mit, angeblich um sie selbst einzulösen, tatsächlich aber spülte er sie im WC seines Hotelzimmers fort. Danach suchte er mit einer Anzeige in der Neuen Zürcher Zeitung nach einem potenten Geldgeber. Zuerst besuchte er Hélène de Couville im Château Montenac auf dem Südhang des Zürichbergs, die sich auf die Anzeige gemeldet hatte. Als er den Betrag nannte, den er haben wollte – 750 000 Schweizer Franken –, holte sie ihren Onkel, Baron Jacques de Couville, der aber auch zögerte, auf das Geschäft einzugehen und zwischendurch ergebnislos telefonierte. Thomas machte das Geschäft schließlich mit dem Schweizer Häusermakler Pierre Muerrli. Der zahlte ihm nach Abzug der Spesen und Zinsen 718 850 Schweizer Franken aus. Falls „Wilfried Otto“ das Geld nicht bis 9. Mai 1959 zurückzahlen würde, könnte der Gläubiger über das Aktiendepot des Schuldners bei der Schweizer Zentralbank verfügen.

Die attraktive Hélène aus dem Schloss hatte es Thomas angetan: Er drängte sich ihr auf und begleitete sie bei einer Reise an die Riviera, wo sie angeblich mit ihrem Verlobten verabredet war. Am achten Tag fing sie zu weinen an und gestand Thomas, eine amerikanische Agentin zu sein, die auf ihn angesetzt worden war. Das Château Montenac hatte man gemietet, und bei ihrem angeblichen Onkel, Baron Jacques de Couville, handelte es sich um ihren Vorgesetzten, Colonel Herrick. „O Gott, fängt das denn schon wieder an?“, seufzte Thomas (Seite 25).

FBI-Chef Edgar Hoover persönlich wollte Thomas kennen lernen. Im Rhein-Main-Flughafen stellte sich dem inzwischen Siebenundvierzigjährigen eine fünfzehn Jahre jüngere Agentin mit den Namen Pamela Faber vor. Sie begleitete Thomas nach Amerika, zu einem kurzen Besuch bei Edgar Hoover im Büro und einem ausgedehnten Gespräch mit dem FBI-Chef in dessen Landhaus in Maryland.

Es ging um einen sowjetischen Spionagering. Am 4. Mai hatte sich ein Victor Morris bei der Pariser US-Botschaft gemeldet und als russischer Geheimdienstagent zu erkennen gegeben. Die Beschreibung, die er vom Kopf des Spionagerings in New York geliefert hatte, passte auf den amerikanischen Kunstmaler Emil Robert Goldfuß, doch ein bloßer Verdacht reichte nicht für eine Verhaftung. Victor Morris war in New York mit der Sprechstundenhilfe Dunja Melanin zusammen gewesen. Hoover wusste, dass Thomas vor neun Jahren eine Affäre mit der geschiedenen Frau eines sowjetischen Offiziers gehabt hatte. Jetzt sollte er sie für das FBI aushorchen.

Am 19. Juni verabredete Thomas sich mit Dunja in einem Restaurant, fand jedoch nichts über Emil Robert Goldfuß heraus. Er dachte nach und hatte einen Einfall: Goldfuß wusste vermutlich, dass man ihm nachspürte und wollte sich deshalb rechtzeitig in die Sowjetunion absetzen. Aufgrund einer gesetzlichen Regelung musste sich jeder impfen lassen, bevor er nach Europa reiste und dabei seine Geburtsurkunde vorlegen. Also begannen 277 FBI-Mitarbeiter, die 13 000 Arztpraxen in New York mit einem Foto von Emil Robert Goldfuß aufzusuchen. Am zweiten Tag stieß einer der FBI-Beamten in einem Elendsviertel auf Dr. Ted Willcox, der sich an den Gesuchten erinnerte, weil ihm dessen gute Kleidung aufgefallen war. Unter dem Namen Martin Collins hatte er sich am 16. Juni impfen lassen und eine entsprechende Geburtsurkunde vorgelegt. Im Geburtenregisteramt von Manhatten stellte sich heraus, dass man die Urkunde mit der angegebenen Nummer am 4. Januar 1898 für Emilie Woermann ausgestellt hatte, ein Mädchen, das mit vier Jahren an einer Lungenentzündung gestorben war. Nun konnte Goldfuß wegen Urkundenfälschung festgenommen werden. In seiner Atelierwohnung fand die Polizei nicht nur einen Kurzwellensender, sondern auch eine Schiffskarte für den 1. Juli.

Schließlich gab Goldfuß zu, in Wirklichkeit Rudolf Iwanowitsch Abel zu heißen und im Rang eines Oberst für den Sowjetischen Geheimdienst gearbeitet zu haben. Sein Verteidiger, James B. Donovan, war verblüfft, dass man einige schwerwiegende Anschuldigungen gegen seinen Mandanten unter den Tisch fallen ließ, sodass er am Ende eines vierwöchigen Gerichtsverfahrens nicht zum Tod, sondern zu dreißig Jahren Zuchthaus verurteilt wurde. Die Zweckmäßigkeit dieser Vorgehensweise stellte sich heraus, als am 1. Mai 1960 der dreißigjährige US-Pilot Francis Gary Powers mit seinem Aufklärungsflugzeug vom Typ „U-2“ bei Swerdlowsk abgeschossen und bald darauf zu einer zehnjährigen Freiheitsstrafe verurteilt wurde: Man tauschte ihn schließlich gegen Rudolf Iwanowitsch Abel aus.

Thomas erschien am 25. Oktober 1957 wieder bei Edgar Hoover und erinnerte ihn an das Versprechen, ihm nach der Zerschlagung des sowjetischen Spionagerings zu einer neuen Identität zu verhelfen.

„Es ist einfach unerlässlich, dass ich sterbe, damit ich endlich … endlich! … in Frieden leben kann!“ (Seite 561)

Zwei Tage später fuhr Thomas mit Pamela Faber, seiner Geliebten, zu einer Gesichtsoperation in eine Klinik. Am 7. November erfuhr er, dass man eine ihm ähnlich sehende Leiche gefunden hatte. Der Sarg wurde eine Woche später zur Tarnung mit vier anderen zusammen nach Paris geflogen – und dort versehentlich vertauscht. Am 19. November gab es wieder eine passende Leiche: Lucky Campanello, vorbestraft wegen Erpressung, Drogen– und Mädchenhandel, war bei einem Feuergefecht mit FBI-Beamten ums Leben gekommen. Zwei Tage später stießen spielende Kinder am Strand des portugiesischen Fischerdorfs Cascais auf die Leiche eines Erschossenen, der mehrere falsche Pässe bei sich hatte. An der Bestattung am 24. November 1957 nahmen unter anderem teil: Fritz Loos und Erich Werthe, Peter Lovejoy, Gregor Marek, Jules Siméon und Maurice Débras.

Von dem Geld, das Thomas durch erfolgreiche Spekulationsgeschäfte mit den geliehenen 717 850 Franken verdient hatte, kaufte er Pamela, mit der er inzwischen verheiratet war, ein Restaurant. Im Sommer 1958 flog sie mit entsprechenden Vollmachten nach Zürich, brachte Herrn Muerrli den geliehenen Betrag zurück, nahm die gefälschten Aktien aus dem Depot bei der Schweizer Zentralbank und zerriss sie in ihrem Hotelzimmer, bevor sie am nächsten Tag zu ihrem Mann zurückkehrte.

[…] Was ist aus Thomas Lieven und seiner Pamela geworden? Wer hat uns alle seine wüsten Abenteuer erzählt? Wie sind wir überhaupt in die Lage gekommen, über geheime und geheimste Begebenheiten unserer Zeit zu berichten?
Das sind viele Fragen. Wir können sie alle beantworten. Wenn es dazu auch leider nötig ist, dass ein Mann aus dem Schatten tritt, der von Berufs wegen in den Schatten gehört und immer im Schatten zu bleiben hat.
Dieser Mann bin ich. Ich, der Autor […] (Seite 593)

Johannes Mario Simmel flog im August 1958 für einen Monat in die USA, um für einen Roman zu recherchieren, der allerdings nie geschrieben wurde. In einer Stadt, deren Namen er bewusst verschweigt, fiel ihm eine außergewöhnlich attraktive Frau auf, und er folgte ihr, lud sie schließlich in ein Feinschmeckerrestaurant ein, von dem sich dann herausstellte, dass es ihr gehörte. Sie hieß Pamela Thompson.

Meine geliebte Lulu möge mir verzeihen: sie kennt die Männer und weiß, dass sie alle gleich und nichts wert sind, wenn man sie allein auf Reisen gehen lässt. (Seite 594)

Er verabredete sich mit ihr, doch als er sie abholen wollte, öffnete ihr Mann Roger die Tür. Sie gingen zu dritt ins Kino, und Mario Simmel ärgerte sich zunächst über den verdorbenen Abend. Dann aber freundete er sich mit dem Ehepaar an und besuchte es häufiger. Für den 29. Oktober 1958 hatte er seinen Rückflug gebucht. Am Vorabend begann Roger Thompson zu erzählen, was er seit 1939 erlebt hatte, seit er von seinem Seniorpartner bei der Londoner Privatbank „Marlock & Lieven“ hereingelegt worden war. Mario Simmel blieb noch bis 2. Januar 1959 in den USA; dann erst flog er mit sechzehn von seinem Freund besprochenen Tonbandspulen zurück.

Selbstverständlich tragen Thomas und seine Frau Pamela nicht den Namen Thompson, sondern einen anderen, aber Johannes Mario Simmel wahrt ihr Inkognito, damit sie unbehelligt von den Geheimdiensten leben können.

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Durch eine perfide Intrige seines Seniorpartners wurde der neunundzwanzigjährige Bankier Thomas Lieven 1939 aus der Bahn geworfen und sah sich gezwungen „in fünf Kriegs- und zwölf Nachkriegsjahren sechzehn falsche Pässe von neun Ländern zu benutzen“ (Seite 7).

Wilfried Ott, Jean Leblanc, William S. Murphy, Armand Deeken, Kaufmann Emil Jonas, Pierre Hunebell, Eugen Wälterli, Captain Robert Almond Everett, Captaine René Clairmont, Maurice Hausér, Peter Scheuner, Ernst Heller, Jackson Taylor, Roger Thompson (von Thomas Lieven benützte Decknamen)

Er kochte gern und genoss es, mit schönen Frauen zu speisen, aber die deutsche Abwehr, das Deuxième Bureau, der Secret Service und das FBI ließen ihm keine Ruhe; sie zwangen ihn immer wieder gegen seinen Willen zu einer Agententätigkeit. Thomas Lieven geriet ständig in Schwierigkeiten, aus denen er sich clever herausstrampelte – um gleich darauf vor einem neuen Problem zu stehen. Mehrmals verlor er sein gesamtes Vermögen, weil er sich täuschen ließ. Seinen Optimismus und seine Selbstsicherheit konnte das jedoch nicht erschüttern.

Er war intelligent, gerecht und liebenswürdig, charmant und hilfsbereit. Aber er war nicht Old Shatterhand, nicht Napoleon, eine männliche Mata Hari war er nicht und auch kein Supermann. Er war keiner von den Helden, über die man in den Büchern liest – die niemals ängstlichen, die ewig siegenden, die heldischen Heldenhelden. Er war nur ein ewig gejagter, ewig verfolgter, niemals in Frieden gelassener Mensch, der stets versuchen musste, das Beste aus einer schlimmen Sache zu machen. (Seite 287)

„Es muss nicht immer Kaviar sein“, das ist eine Mischung aus Abenteuer-, Schelmen- und Politroman, zugleich auch eine Parodie auf diese Genres. Johannes Mario Simmel hat ein wenig Gesellschaftskritik mit hineingepackt und erweckt durch den Epilog sowie minuziöse Angaben von Daten und Namen den Eindruck von Authentizität. Im Prolog erfahren wir, was 1957 passierte. Im Hauptteil des Romans schreitet die Darstellung chronologisch von 1939 bis 1957 fort und wird dann noch einige Monate weitergeführt bis zum 1958 spielenden Epilog. Das Vergnügen beim Lesen entsteht nicht nur durch den Inhalt, sondern auch durch immer wieder neue Stilfiguren, beispielsweise den running gag „Junge, Junge, wenn ich das im Club erzähle“ oder wenn in den mündlich vorgetragenen Bericht einer Figur wie bei einem Kinofilm eine szenische Darstellung eingebettet ist. Hin und wieder wendet sich der Autor auch direkt an den Leser. Originell ist die Idee, Kochrezepte für die vom Protagonisten zubereiteten 106 Vorspeisen, Suppen, Hauptgerichte und Desserts einzubauen. Johannes Mario Simmel hat „Es muss nicht immer Kaviar sein“ in 205 Kapitel gegliedert. Beinahe jedes handelt von einem neuen Abenteuer. Diese unglaubliche Fülle witziger Ideen und überraschender Wendungen ist paradoxerweise der Schwachpunkt des dicken Romans: Er besteht eigentlich nur aus, sagen wir: etwa zweihundert Episoden. Jede für sich ist originell, spannend und amüsant, aber auf Dauer ermüdet die Lektüre, weil es keinen übergreifenden Spannungsbogen gibt und die Handlung nicht auf einen großen Kulminationspunkt zusteuert.

Johannes Mario Simmels Roman „Es muss nicht immer Kaviar sein“ wurde 1961 verfilmt.

„Es muss nicht immer Kaviar sein“. Regie: Geza von Radvanyi (unter Mitwirkung von Helmut Käutner und Georg Marischka), Drehbuch: Henri Jeanson, Paul Andreota und Jean Ferry, Kamera: Friedl Behn-Grund, Schnitt: Walter Wischniewsky, Musik: Rolf Wilhelm, Darsteller: O. W. Fischer (Thomas Lieven), Eva Bartok (Vera), Senta Berger (Françoise), Jean Richard (Siméon), Geneviève Cluny (Mimi), Viktor de Kowa (Loos), Geneviève Kervine (Nancy), Werner Peters (Zumbusch), Fritz Tillmann (General von Felseneck), Peter Carsten (Bastian), Karl Schönböck (Lovejoy), Wolfgang Reichmann (Hofbauer), Hans W. Hamacher (Kommissar Denis), Günter Meisner (Redner), Werner Finck (Redner), Axel von Ambesser (Erzähler)

Johannes Mario Simmel wurde am 7. April 1924 in Wien als Sohn eines Chemikers geboren und wurde selbst Chemieingenieur. Nach dem Zweiten Weltkrieg arbeitete er als Dolmetscher, Übersetzer und Journalist. Seinen internationalen Durchbruch als Schriftsteller erzielte er 1960 mit dem Roman „Es muss nicht immer Kaviar sein“. Seine Bücher wurden in zwei Dutzend Sprachen übersetzt und in schätzungsweise 70 Millionen Exemplaren gedruckt. Johannes Mario Simmel starb am 1. Januar 2009.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2004 / 2009
Textauszüge: © Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. – Die Seitenangaben
beziehen sich auf eine Lizenzausgabe der RM Buch und Medien Vertrieb GmbH, 2004, 604 Seiten

Christine Brückner - Wenn du geredet hättest, Desdemona
Die "ungehaltenen Reden" sind zwar fiktiv, aber inhaltlich und sprachlich einfühlsam zugeordnet. "Wenn du geredet hättest, Desdemona" ist ein gelungenes Beispiel ebenso engagierter wie kunstvoller Literatur. Christine Brückner beleuchtet auf diese Weise das Verhältnis von Mann und Frau in der Geschichte zwischen Antike und heutiger Zeit.
Wenn du geredet hättest, Desdemona