Karin Slaughter : Unverstanden

Unverstanden
Originalausgabe: Martin Misunterstood The Random House Group, London 2008 Unverstanden Übersetzung: Klaus Berr Blanvalet, München 2009 ISBN: 978-3-442-37281-2, 163 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Mit 36 wohnt Martin Reed noch bei seiner verwitweten Mutter Evelyn. Seit 16 Jahren arbeitet er als Buchhalter bei Southern Toilet Supply. Wie schon in der Schule von den Mitschülern wird er von den Kollegen gehänselt. An diesem Morgen hängt seine Stoßstange herunter. Er reißt sie ab und verletzt sich dabei an den Händen. Das Blut bestärkt die Detectives An Albada und Bruce Benedict in dem Verdacht, Martin habe seine Kollegin Sandra Burke mit dem Auto umgefahren und ermordet ...
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Kritik

In "Unverstanden" imitiert Karin Slaughter mit viel Witz und Sarkasmus den Stil eines Groschenromans und schreckt auch nicht vor derben Späßen zurück. Die Lektüre des knapp gehaltenen Buches ist sehr unterhaltsam.
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Obwohl Martin Harrison Reed sechsunddreißig Jahre alt ist, wohnt er noch bei seiner verwitweten Mutter. Evelyn Reed behauptet zwar, ihr Mann sei durch einen Unfall gestorben, in Wirklichkeit handelte es sich jedoch um Selbstmord: Er stürzte sich im 30. Stockwerk des Bürogebäudes, in dem er als Buchhalter beschäftigt war, in den Müllschlucker. Seit sechzehn Jahren arbeitet Martin nun nach dem Vorbild seines Vaters als Buchhalter, und zwar bei Southern Toilet Supply in einer Kleinstadt in Georgia. Schon in der Schule wurde er gehänselt. Das hat sich nicht geändert, zumal sein damaliger Mathematiklehrer Norton Shaw inzwischen sein direkter Vorgesetzter ist. Täglich muss er Spott und Streiche von Kollegen ertragen.

Erst neulich hat ihm jemand das Wort „Schlappschwanz“ in den Lack seines Autos gekratzt. Martin versucht, den Schaden von seiner Versicherung ersetzt zu bekommen, aber der Gutachter Ben Sabatini gehörte bereits zu seinen schlimmsten Peinigern, als sie noch miteinander zur Schule gingen.

An diesem Morgen stellt Martin fest, dass die Stoßstange weghängt. Um losfahren zu können, bricht er sie ab und wirft den Schrott in den Kofferraum. Dabei verletzt er sich. Daryl Matheson, der bei Southern Toilet Supply als Qualitätskontrolleur am Fließband arbeitet, bemerkt das Blut an Martins Händen und weist ihn darauf hin, bevor er fragt, wann er endlich das Wort „Schlappschwanz“ von seinem Auto entfernen lasse und ihm rät, sich an Ben Sabatini zu wenden, denn dieser habe ihm unlängst zu einer raschen und kulanten Schadensregulierung verholfen. Im Büro versucht Martin, das Blut vom Griff seines Aktenkoffers mit einem Putzmittel zu entfernen, aber die Chemikalie frisst das Material auf. Dabei glaubte er, einen Koffer aus echtem Leder gekauft zu haben. Immerhin kostete er 300 Dollar. Offenbar ließ er sich jedoch ein Imitat andrehen. Zornig trampelt er auf dem Koffer herum.

Einige Zeit nach ihm trifft seine Assistentin Unique Jones ein. Er ist zwar ihr Vorgesetzter und stellte sie vor drei Jahren ein, aber sie hat das Sagen. Dabei hatte sie die Highschool abgebrochen und kann nichts anderes vorweisen als einen einmonatigen Sekretärinnenkurs und einen doppelt so langen Kurs über Buchhaltung. Als sie sich zum ersten Mal an den Schreibtisch setzte, beobachtete Martin interessiert, wie sie es anstellte, trotz ihres üppigen Busens mit der Tastatur des Computers zu arbeiten. Als sie merkte, dass er sie anstarrte, sagte sie:

„Honey, du hast nicht den Schmackes, um diese Glocken zu läuten!“ (Seite 42)

Norton Shaw führt zwei Detectives von der Mordkommission zu Martin: Anther („An“) Albada und Bruce Benedict. Sie möchten wissen, wo Martin am Vorabend war. Er gibt an, er habe seine Mutter in den Pfingstrosenklub und von dort wieder nach Hause gefahren, denn wegen ihres grauen Stars tue sie sich am Steuer eines Autos schwer. Was er danach gemacht habe? Das möchte Martin für sich behalten. Es ist ihm peinlich. Am Nachmittag war Martin drei Stunden damit beschäftigt gewesen, die Reste eines vibrierenden Gummidildos zu entfernen, den ihm seine Kollegin Sandra Burke auf den Schreibtisch geklebt hatte. Danach schmerzte ihn der Rücken. Deshalb fuhr er zu „Madam Glitter’s“, nachdem er seine Mutter zu Hause abgesetzt hatte. Ihr Schild, auf dem sie „professionelle Massage zu vernünftigen Preisen“ anbietet, war ihm unterwegs aufgefallen. Eine überaus korpulente Frau forderte ihn auf sich auszuziehen, nahm 50 Dollar aus seinem Portemonnaie, rieb sich die Hände mit Lotion ein und masturbierte ihn unaufgefordert. Sie entschuldigte sich dafür, dass sie kalte Hände hatte und wegen ihres kranken Sohnes in Eile war.

„Gah! Gah! Gah!“ Er kam wie ein oszillierender Rasensprenger mit einem Knick im Schlauch. (Seite 116)

Während An Albada und Bruce Benedict noch überlegen, ob sie Martin festnehmen sollen, kommt Daryl Matheson herein. Er ist auf dem Weg zur Toilette, die nur durch Martins Büro zu erreichen ist. (Kolleginnen beschwerten sich bereits über Martin, er belausche sie beim Urinieren. Aber was soll er machen; er sitzt nun mal neben der Toilettentür.) Ohne gefragt worden zu sein, erwähnt Daryl, dass Martin an diesem Morgen Blut an den Händen gehabt habe. Außerdem sei er von der Fließbandarbeiterin Darla Gantry beim Zertrampeln seines Aktenkoffers beobachtet worden. Martin wird verhaftet. Die Polizei verdächtigt ihn, die Kollegin Sandra Burke ermordet zu haben.

Die Spurensicherung findet Sandras Blut an der abgerissenen Stoßstange von Martins Auto. Es ist mit seinem vermischt. Im Profil des rechten hinteren Reifens werden Fragmente der Zähne des Opfers sichergestellt. Es besteht kein Zweifel daran, dass sie mit Martins Auto überfahren wurde. Der Gerichtsmediziner rekonstruiert folgenden Tatverlauf: Sandra wurde mit dem Auto umgestoßen und dann mit einem stumpfen Gegenstand erschlagen. Anschließend überfuhr sie jemand noch dreimal und zerquetschte ihr den Kopf und den Oberkörper. – Sandra hinterlässt zwei Kinder, die in staatlicher Obhut aufwachsen, denn ein Gericht hatte der drogensüchtigen und alkoholkranken Mutter das Sorgerecht aberkannt.

Der Rechtsanwalt Max Ständer, den Martin rufen lässt, bevor er bei der Vernehmung Fragen beantwortet, hält den Fall für aussichtslos.

Ständer fragte: „Hat er ein Alibi?“
„Nein.“
„O weh“, machte Ständer. Er schaute auf seinen Notizblock hinunter, auf dem er Ans Namen mit seinem Füller einkreiste. Als er merkte, dass sie ihm zusah, zwinkerte er ihr zu und machte ein Herz aus einem der Kreise. (Seite 84)

Ständer kritzelte wieder auf seinem Block. An sah, dass er einen Galgen gezeichnet hatte, mit einem Mann, der an der Schlinge baumelte. (Seite 89)

Am Ende rät der Rechtsanwalt seinem Mandanten, sich im Gefängnis von Atlanta an die weißen Mithäftlinge zu halten, aber in der Gemeinschaftszelle ist Martin der einzige Weiße unter lauter Schwarzen. Als An ihn nach vierzig Minuten herausholt, stöhnt Martin, es sei wie in der Hölle gewesen. An lässt Martin bis zur Gerichtsverhandlung gegen ein Kautionsversprechen frei. Sie hält ihn für unschuldig – und findet ihn sympathisch.

Bei der Siebenundzwanzigjährigen handelt es sich um die Tochter niederländischer Immigranten: Ihr Vater ist Botaniker, ihre Mutter Kunstlehrerin. Seit zwanzig Jahren arbeitet sie bei der Polizei. Weil sie anfangs gegen sexistische Äußerungen ihrer Kollegen protestierte, hielt man sie für lesbisch. Ihr Leugnen galt als Zeichen dafür, dass sie sich dafür schämte, und ihre Ehe betrachtete man als Gipfel der Selbstverleugnung. Ihr Mann Charlie verprügelte sie regelmäßig – bis er vor fünfzehn Jahren in der Badewanne ausrutschte und sich den Schädel einschlug. An, die zur Sparsamkeit erzogen worden war, drehte das Wasser ab und setzte sich dann vors Fernsehgerät, während er langsam verblutete. Dann erfand sie eine krebskranke lesbische Lebensgefährtin. Das verschaffte ihr bei den Kollegen Respekt und Mitgefühl, besonders nachdem Jill angeblich gestorben war. An ist einsam, und aufgrund der Erfahrung mit einem gewalttätigen Ehemann sehnt sie sich nach einem Partner, der sie nicht anfassen würde.

Evelyn Reed wundert sich, als ihr Sohn nach Hause kommt. Wieso er nicht mehr im Gefängnis sei, fragt sie. Nachdem er es ihr erklärt hat, teilt sie ihm mit, dass Norton Shaw angerufen und ihm gekündigt habe. Obwohl es bereits Abend ist, fährt Martin daraufhin mit dem Wagen seiner Mutter zu Southern Toilet Supply, um seine Sachen abzuholen. Auf dem Parkplatz wundert er sich, dass Uniques Auto noch da ist, denn sie macht gewöhnlich keine Überstunden. Er überrascht sie beim Diebstahl von Büromaterial. Ob er Sandra wirklich umgebracht und ob er sie auch vergewaltigt habe, möchte sie wissen. Martin hat den Eindruck, dass sie ihm erstmals etwas wie Respekt entgegenbringt.

Plötzlich packten ihre Hände seinen Kopf. Sie riss ihn vom Tisch weg und rammte sein Gesicht in ihren üppigen Busen. Martin bekam keine Luft mehr. Seine Füße rutschten auf dem Fliesenboden weg, als er versuchte, sich zu befreien.
[…] Sie packte seine Arschbacken so fest, dass er sich vorkam, als würde sie seinen Hintern mit ihren Händen zu Henkeln quetschen […]
„Oh! Gott! Gott! Gott!“, schrie er.
„Nein, das tust du nicht!“, warnte sie ihn und bremste ihn mit den Händen.
Es war zu spät. Er kam mit einer Wucht, die jedem Geysir zur Ehre gereicht hätte. Sein Körper erschauerte in männlicher Erleichterung, seine Muskeln spannten sich an, während Welle um Welle ihn durchströmte.
„Nee-e“, murmelte Unique. „Nicht ohne mich, Männeken.“
Wieder packte sie seinen Hinterkopf und drückte sein Gesicht zwischen ihre Schenkel […] Sie rieb sich an seinem Gesicht, seine Nase glitt auf und ab […] Er fing an zu hyperventilieren, in seinem Kopf drehte sich alles […] (Seite 124ff)

Dann stößt sie ihn von sich.

„Was bist denn du für einer?“, blaffte sie und zog sich die Unterwäsche hoch. Ihr Bauch quoll über den Slip wie ein Muffin über seine Papiermanschette […]
„Trag mir den Karton da zum Auto“, befahl sie. „Und hör auf mich so anzustarren. Nur weil du mal am Honig geschleckt hast, heißt das noch nicht, dass du diesen Bienenstock zum Summen bringen kannst.“ (Seite 126f)

Noch am selben Abend wird Martin erneut verhaftet. Nachdem der Wachmann von Southern Toilet Supply einen Joint geraucht hatte, wunderte er sich darüber, dass Uniques Wagen noch auf dem Parkplatz stand. Er sah nach und fand in der Toilette ihre Leiche. Es roch intensiv nach Lavendel. Offenbar wurde ihr mit einem Lufterfrischer der Schädel eingeschlagen. Man hat ihr den Rock hochgeschoben, die Beine gespreizt und einen Besenstiel in die Vagina geschoben. Die Aufzeichnungen der Überwachungskamera beweisen, dass ein auf Evelyn Reed zugelassenes Auto als letztes neben dem von Unique auf dem Parkplatz stand.

Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.

Vor Gericht belasten Daryl Matheson, Darla Gantry, Gloria Koslowski alias Madam Glitter, Uniques Schwester Renique und Evelyn Reed den Angeklagten durch negative Einschätzungen.

Dazu kamen die forensischen Indizien – Martins Sperma in Unique, sein Speichel und Sperma auf dem Boden des Büros und in seinem Schuh. (Seite 137f)

Martin wird zum Tod verurteilt.

Seine Mutter schließt sich dem Verein „Freunde und Verwandte von Gewaltkriminellen“ an und tingelt durch alle Talkshows. Als sich die Dreiundsechzigjährige in einer Aufzeichnung bei Oprah Winfrey sitzen sieht, merkt sie, wie dick sie geworden ist. Daraufhin lässt sie sich von dem neu verdienten Geld das Gesicht liften, stellt einen Koch ein und engagiert einen persönlichen Fitness-Trainer. Aus der von den Nachbarn gemiedenen Außenseiterin wird eine nationale Berühmtheit. In einem Film über Martin soll Philip Seymour Hoffman die Hauptrolle spielen, und um Stoff für ein Buch zu sammeln, besucht Evelyn Reed ihren Sohn jeden Monat im Gefängnis.

„Hallo, Mutter.“
„Warum bist du nur immer so mürrisch, wenn ich dich besuche?“, schalt sie ihn und zog Block und Füller aus ihrer Prada-Tasche. „Du machst einen ja richtig depressiv.“
„Ich sitze in der Todeszelle, Mutter.“ (Seite 144)

„Hör zu, du kleiner Scheißer. Wenn du es hier drinnen so sehr hasst, dann sage ihnen die Wahrheit. Ist es das, was du willst? Was meinst du, wie interessiert deine teure Detective noch sein würde, wenn sie wüsste, dass du ein ganz normaler, alltäglicher Spießer bist, der keiner Fliege was zuleide tun kann.“ (Seite 147)

Ohne weiteres gesteht Evelyn ihrem Sohn, wie sie die beiden Frauen ermordete. Sandra Burke erzählte sie am Telefon, sie habe in einer Schublade Drogen von Martin gefunden. Damit lockte sie die Süchtige auf die Straße. Bei Unique Jones war es kaum schwieriger: Nachdem Martin seine Sachen bei Southern Toilet Supply abgeholt hatte, ließ Evelyn den Wagen aus der Garage rollen, damit er sie nicht hörte und drehte erst auf der Straße den Zündschlüssel. Auf den Parkplatz von Southern Toilet Supply lud Unique gerade Kisten mit WC-Steinen in ihren Wagen. Evelyn mimte eine gebrechliche alte Frau und bat Unique, sie zur Toilette zu begleiten. Dort ließ sie einen 20-Dollar-Schein fallen, und als die Buchhalterin sich bückte, schlug sie mit einem Lufterfrischer zu. Dann drapierte sie die Leiche so, dass es nach Sex und Sadismus aussah.

Martin hat längst festgestellt, dass er als brutaler Mörder respektiert wird, und um An bei den Vernehmungen wiederzusehen, gesteht er auch einige seit Jahren ungelöste Verbrechen. Die beiden einsamen Außenseiter verlieben sich. Martin weist die Polizistin allerdings darauf hin, dass er das Gefängnis wahrscheinlich nicht lebend verlassen werde.

„Ich weiß“, wiederholte sie und schaute ihn an. „Sie werden nie mehr frei sein. Sie werden mich nie berühren oder mit ihr zusammen sein können oder …“ Sie ließ den Satz unvollendet. „Wir können nicht wirklich heiraten, Martin. Nicht offiziell.“
[…] Ans Stimme klang sanft und doch beschwingt: „Kein Mensch darf je etwas von uns erfahren, Martin. Es ist fast so, als wärst du nur ein Produkt meiner Fantasie.“ Ihr Gesicht war wieder rot geworden, ein wunderschöner Farbton, der das Kälte-Ekzem an ihren Nasenrändern fast verschwinden ließ. (Seite 162f)

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Mit kräftigen Strichen entwickelt Karin Slaughter (* 1971) in der Thriller-Farce „Unverstanden“ eine temporeiche Geschichte. Sie kommt mit drei Haupt- und einer Handvoll Nebenfiguren aus. Karin Slaughter imitiert in „Unverstanden“ mit viel Witz und Sarkasmus den Stil eines Groschenromans und schreckt auch nicht vor derben Späßen zurück. Die knapp und schnörkellos erzählte Handlung ist jedoch souverän aufgebaut. Man merkt dem Buch an, wieviel Vergnügen Karin Slaughter beim Schreiben empfand. Auch aufgrund seiner Kompaktheit eignet sich „Unverstanden“ bestens für eine unterhaltsame Lektüre im Wartezimmer, während einer Bahnfahrt oder am Strand.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2009
Textauszüge: © Random House

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