Anja Snellman : Zeit der Haut

Zeit der Haut
Originalausgabe: Ihon aika Werner Söderström, Helsinki 1993 Zeit der Haut Übersetzung: Angela Plöger btb, Wilhelm Goldmann Verlag, München 2001 ISBN 3-442-75047-4, 224 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

In ihrem Roman "Zeit der Haut" zeigt die finnische Schriftstellerin Anja Snellman eine gleichaltrige Romanfigur mit autobiografischen Zügen, die ihre sterbende Mutter pflegt und sich dabei an frühere Zeiten erinnert. Nach dem Tod der Mutter begreift sie, dass diese Frau auch Seiten hatte, die ihr bis dahin verborgen blieben: Charaktereigenschaften, die sie an sich selbst auch beobachtet hat.
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Kritik

Die 84 Kapitel von "Zeit der Haut" sind nicht chronologisch, sondern assoziativ angeordnet. Es handelt sich um einen ernsten, aber unpathetischen Roman in einer unverblümten, spröden und doch sehr sensiblen Sprache.
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Die finnische Erzählerin ist noch keine vierzig. Vor drei Jahren sah sie zum ersten Mal die offenen, eitrigen Wunden an den Beinen ihrer verwitweten, einundachtzigjährigen Mutter. Fünf Monate lang versuchten die Erzählerin und ihre zehn Jahre ältere Schwester, ihre Mutter zu Hause gesund zu pflegen. In dieser Zeit gebar die Erzählerin ihre erste Tochter.

Ihre Schwester ist klein und rundlich, geht nie aus, und weil sie einen Wolfsrachen hat, fällt es anderen außer ihrer Mutter schwer, sie zu verstehen.

Die eine spricht undeutlich, und die andere hört schlecht. (Seite 138)

Schließlich lassen die Geschwister ihre Mutter gegen deren Willen ins Krankenhaus bringen. Als eine Krankenschwester der Patientin den Schlüpfer vom Leib schneidet, betrachtet die Erzählerin die ihr jetzt ausgelieferte nackte Mutter erbarmungslos und so neugierig, wie sie es als vierjähriges Kind getan hatte.

In den untersten Etagen des Krankenhauses pflegen Frauen Frauen, in den oberen sitzen die männlichen Angestellten und treffen die maßgeblichen Entscheidungen. Die kranke Mutter empfindet es als demütigend, dass die Ärzte sich niemals direkt an sie wenden, sondern ihre Anweisungen immer einer Krankenschwester geben.

Männliche Humanität und männliches Einfühlungsvermögen brachten in dieses Reich der Frauen nur die jungen Männer ein, die in ihre Sommerjobs als Pfleger und Bader ausschwärmten – meistens waren es Hilfskräfte aus dem Ausland. (Seite 82)

In dem Krankenzimmer liegen sechs sterbende Frauen. Eine von ihnen befindet sich seit zehn Jahren in einem Wachkoma. Die Erzählerin, die in der Nähe des Krankenhauses wohnt, besucht ihre Mutter vormittags und abends; ihre Schwester geht am Nachmittag nach dem Büro und an den Wochenenden hin.

Ich bin überrascht und fast erschüttert von Mutters Fähigkeit, mit anderen Menschen Umgang zu pflegen. Meine Mutter, die Frau, die ich bisher gekannt hatte, ist ihrem Wesen nach eine Einsiedlerin, misstrauisch und immer auf das Schlimmste gefasst, jemand, der ausweicht, sich Sorgen macht. Jetzt sehe ich an Mutter eine gesellige Seite, eine gesprächige, neugierige, unbefangene, die nicht nur im Sarkasmus, sondern auch sonst komisch sein kann.
Für die meisten Menschen wäre dies alles selbstverständlich: die eigene Mutter mit anderen Menschen sprechen zu sehen. Für mich nicht. Die Frau, die ich seit meiner Geburt studiert habe, ist einsam, ein vom Leben brutal enttäuschtes Mädchen aus guter Familie, bitter, verschlossen, pedantisch, menschenscheu. Die Frau eines Alkoholikers. Die ewig besorgte Mutter von zwei sehr unterschiedlichen Töchtern. (Seite 20f)

Auch die anderen todkranken Patientinnen erhalten regelmäßig Besuch von ihren erwachsenen Töchtern.

Wir schlurfen tagaus, tagein dieselben Bahnen entlang, zu den Betten und zurück zum Waschbecken. Wir schleppen die skelettartigen Wesen zur Toilette und zurück. Wir bürsten die fratzenhaft grinsenden künstlichen Gebisse, holen mit einem Streichholzende Speisereste aus den Zwischenräumen zwischen den Zähnen, summen Psalmen und Schlager, schieben in den weit aufgesperrten Rachen ein Stück Brot und reichen zum Nachtrinken dünnen Saft, riechen die frisch herausgerutschte Scheiße und können schon allein dem Geruch nach genau deren jeweilige Farbschattierung und Konsistenz bestimmen, schneiden die gekrümmten Nägel, unter denen sich ein Pilz oder wer weiß was noch für schwarzer Bewuchs eingenistet hat. Wir kämmen die Haare, von denen der größte Teil im Kamm zurückbleibt. Wir entfernen still und ausdruckslos blutige Klümpchen bald aus den Ohren, bald zwischen den Zehen. (Seite 112)

Die Atmosphäre dieser Krankenhausabteilung für todgeweihte Patienten empfindet die Erzählerin nicht nur als morbid, sondern zugleich als erotisch:

Ich könnte mich jederzeit zum Höhepunkt bringen, die Gegenwart des Todes versetzt mich ein ums andere Mal in heftige Erregung […]
Die Abteilung für chronisch Kranke ist unverfroren, geil, auch sadistisch. Die Abteilung für chronisch Kranke ist abstoßend schön, stark, niederwalzend […] Von ihr geht eine grandiose erotische Vibration aus […] Ich wiege mich von einer Seite des Stuhls zur anderen, ich schwelle an, werde feucht […] Meine Gedanken erregen mich, und beim Höhepunkt verspüre ich den Wunsch zu schluchzen, lauthals und ansteckend zu heulen wie nur je ein Klageweib […] (Seite 178f)

Als die Erzählerin ihre Mutter nach der Geburt ihrer zweiten Tochter darauf hinweist, dass sie nun auch zwei Töchter habe wie sie, bleibt die Kranke still. (Den Grund dafür wird die Erzählerin erst später verstehen.)

Die Mutter stirbt Anfang der Neunzigerjahre.

In der Hinterlassenschaft findet die Erzählerin orangerote, hochhackige Tanzschuhe aus der Zeit vor dem Vater und begreift plötzlich, dass ihre Mutter auch einmal eine FRAU war. Die Erkenntnis stimmt sie froh.

Die für die Beerdigung benötigten amtlichen Unterlagen treffen mit der Post ein. Die Erzählerin wundert sich, in der Rubrik Kinder nicht zwei, sondern drei Zeilen mit Namen und Geburtsdaten zu finden. Ihre Mutter hatte bereits vor der älteren Schwester der Erzählerin eine Tochter geboren, ein uneheliches Kind! Da erinnert sich die Erzählerin, wie ihre Mutter im Krankenhaus einmal unvermittelt sagte: „Ich hatte einmal einen zärtlichen Liebhaber, einen sehr zärtlichen Liebhaber.“ (Seite 73)

Die Erzählerin rechnet vom Geburtsdatum ihrer Halbschwester zurück und schließt aus dem Ergebnis, dass ihre Mutter im Herbst 1939 mit dem „zärtlichen Liebhaber“ zusammen war. Sie forscht nach und fährt nach Vyborg, den Geburtsort ihrer ältesten Schwester, wo sich herausstellt, dass die Mutter die uneheliche Tochter nach einem halben Jahr einem kinderlosen Ehepaar von einem ostfinnischen Bauernhof zur Adoption überließ und aus Vyborg fortging. Der Adoptivvater starb kurz danach an der Front. Daraufhin verließ die Adoptivmutter den Hof und zog mit dem Mädchen nach Vyborg. In einem anderen Archiv findet die Erzählerin heraus, dass ihre uneheliche Schwester selbst zwei Töchter und einen Sohn bekam, die sie nach dem frühen Tod ihres Ehemanns ihrer Adoptivmutter anvertraute. Sie starb im Alter von vierunddreißig Jahren, aber die Erzählerin erfährt nicht, an welcher Krankheit.

Als Kind erwachte die Erzählerin häufig mitten in der Nacht, weil der betrunkene Vater auf die Mutter einprügelte und sie unaufhörlich als Hure beschimpfte. Einmal zerschlug er ihr mit einem Faustschlag die Nase, bevor er selbst polternd zu Boden stürzte. Die Mutter ging dann in die Toilette, wo sie am Drehknopf der Heizung einen Frotteelappen hängen hatte, den sie in kaltes Wasser tauchte, um damit die Verletzungen zu kühlen. Damals verstand die Erzählerin nicht, was der Vater mit dem Wort „Hure“ meinte. Jetzt stellt sie sich vor, wie der Mutter die Geburtsurkunde der unehelichen Tochter nachgeschickt wurde, gerade als sie geheiratet hatte und schwanger war. Ihr Mann öffnete den eingeschriebenen Brief und erfuhr auf diese Weise von dem unehelichen Kind seiner Frau.

Er war selbst ein illegitimes Kind und vermutete, dass ein Russe ihn gezeugt hatte. Jedenfalls war seine Mutter vor der Schande geflohen und hatte ihren Sohn bei ihren greisen Eltern zurückgelassen. Deshalb hasste und liebte der Vater seine Mutter – ebenso wie seine Ehefrau.

Einige Wochen nachdem die Erzählerin ihr Abitur gemacht hatte, kam er betrunken drohend auf sie zu. Sie schleuderte ihre Schreibmaschine nach ihm, traf ihn am Kopf, und er brach zusammen. Erst nachdem sie ihn solange getreten hatte, bis sie nicht mehr konnte, rief sie die Polizei. Am nächsten Tag zog sie von zu Hause fort.

Der Vater starb später in einem Lehnstuhl.

Die Erzählerin erinnert sich daran, wie sie von Liebhabern nach Hause kam, sich zu ihrer Mutter in die dämmrige Küche setzte und Instantkaffee aus von der Hitze des Getränks eingedellten Joghurtbechern trank.

Sie drückte ihren Brustkorb heraus und genoss es, dass die dunklen Höfe ihrer Brustwarzen sich unter der weißen Spitzenbluse abzeichneten […]
Ihre Sinnlichkeit hing immer irgendwie – wie sie damals noch glaubte – mit der völligen Gehemmtheit und Unerfahrenheit der Mutter zusammen. (Seite 67)

Jetzt, wo sie etwas mehr von der Vergangenheit ihrer Mutter weiß, ahnt die Erzählerin, die mitunter mehrere sexuelle Beziehungen gleichzeitig hatte, dass „die in ihren Adern pochende Leidenschaft doch von der Mutter stammt“ (Seite 67).

Erst jetzt wagt sie, die Tochter, auch diese dunkle Doppelseite zu betrachten: Die bekannte, von jeder Leidenschaft entleerte Frau, ganz nahe, einen Atemzug entfernt, auf dem Bett liegend, mit den Händen nach dem klitschnassen, zerwühlten Bettzeug greifend, tiefe Kehllaute ausstoßend, keuchend, nach mehr flehend, der feuchte Mund voller Speichel, die schmalen Lippen von Küssen geschwollen, erst jetzt stellt sie sich die hellen, schmalen Schenkel geöffnet vor […] (Seite 216)

Sie weiß nicht, was sie mehr erschüttert, die Erkenntnis, „dass jene im Küchenwinkel hockende Gestalt in Wirklichkeit eine lebenshungrige Frau war“ (Seite 67f) oder das Wissen, dass die Mutter ihr erstes Kind verlassen hatte, um ihrem eigenen Glück hinterherzujagen.

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In ihrem Roman „Zeit der Haut“ zeigt die finnische Schriftstellerin Anja Snellman eine gleichaltrige Romanfigur mit autobiografischen Zügen, die ihre sterbende Mutter pflegt und sich dabei an frühere Zeiten erinnert. Nach dem Tod der Mutter begreift sie, dass diese Frau auch Seiten hatte, die ihr bis dahin verborgen blieben: Charaktereigenschaften, die sie an sich selbst auch beobachtet hat.

Der kriegsversehrte, alkoholkranke Vater der Erzählerin steht für Bosheit, Bitterkeit und Rachsucht, doch sonst spielen Männer in „Zeit der Haut“ kaum eine Rolle. Wir erfahren zwar, dass die Erzählerin während der dreijährigen Pflege ihrer Mutter zwei Töchter geboren hat, aber nichts über deren Vater bzw. Väter.

Der Roman ist in vierundachtzig durchnummerierte Kapitel unterteilt, die jedoch nicht chronologisch, sondern assoziativ angeordnet sind, also in der Zeit vor und zurück springen. Außerdem wechselt die sensible Darstellung zwischen der ersten und der dritten Person Singular. „Zeit der Haut“ ist ein ernster, aber unpathetischer Roman in einer knappen und spröden Sprache. Ekel erregende Einzelheiten der Pflege sterbender Greise beschreibt Anja Snellman ebenso unverblümt wie das ausgeprägte Bedürfnis der Protagonistin nach sexueller Befriedigung.

Anja Snellman (*1954) ist eine der erfolgreichsten Autorinnen Finnlands.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2005
Textauszüge: © Wilhelm Goldmann Verlag

Wachkoma, Apallisches Syndrom
Sterbehilfe

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