Flavio Steimann : Aperwind

Aperwind
Originalausgabe: Aperwind Benziger Verlag, Zürich / Köln 1987 ISBN: 3-545-36439-9, 96 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Ein junger, lungenkranker Mann schleppt im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts eine Seuche in einem Schweizer Dorf ein. Bevor das heruntergekommene Badhotel, in dem er arbeitet, wegen der Seuche niedergebrannt wird, bringt man den Besitzer zwangsweise in eine Irrenanstalt. Parallel dazu scheitert (vorerst) der Versuch, eine Bahntrasse zu dem Dorf zu bauen, und ein Krappfärber, der keine berufliche Zukunft mehr für sich sieht, erhängt sich. Aber der junge Mann ist genesen, als er den Ort nach einem Jahr verlässt ...
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Kritik

Die Erzählung "Aperwind" von Flavio Steimann zeichnet sich durch eine dichte, düstere Atmosphäre, eine sorgfältige Wortwahl und eine eigenwillige, kraftvolle, bildhafte Sprache aus.
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An Lichtmess (2. Februar) kommt Aloys Neff nach Grüsch im Luzerner Hinterland. Der Besitzer des auf einer Hochebene gelegenen Kur- und Heilbades erwartet den Jungen bereits. Er hatte eine Annonce für einen Badknecht im Correspondenz Blatt aufgegeben. Ein Pfarrer, der sie las, kündigte seinen Neffen an, verschwieg dabei jedoch, dass dieser es selbst auf der Lunge hat, denn er wollte seinem ausgewanderten Bruder das Leben durch die Unterbringung des kränksten Kindes erleichtern.

Blutspuckend trifft Aloys Neff in dem lottrigen Badehotel ein, das der Besitzer mit Unterstützung der Hilfskasse von der geplanten Umwandlung in eine Armenanstalt bewahrte. Er sieht noch, wie eine Kutsche mit einem Sarg auf dem Dach abfährt.

Grelles Sonnenlicht fiel in diesem Augenblick unerwartet durch ein Wolkenloch auf diese fremde Welt, und im ebenso jähen Zudunkeln sah der Knabe, wie der schwarze Glanz von einer schweren Berline an den Färberhütten vorbei in den Hohlweg bog.

Eine Gesindekammer wird ihm zugewiesen.

Neff trat in den Raum – er schien bewohnt. Vom Balken baumelte wie ein Erhängter eine erstarrte Zwilchhose, schüttere Pantoffeln aus Haarfilz standen auf einem zertretenen Kornsack, über der Lehne des Stuhls hing ein Brusthemd, die Armborten waren bis auf die Kettelung ausgefranst, der Kragenrand tabakbraun verschwitzt und voller Fraß.

Dann nimmt er seine Arbeit als Badeknecht auf.

Der Boden aus Sandstein war sinterig von der steten Nässe, aus dem beschlagenen Gussrohr strahlte Schwefelwasser im Takt des Göppelwerks in die muschelförmige Kalkwanne. An allem hing eine Haut aus dem Geruch fauler Eier.
Leiber, nass und fleischrot, hockten auf den Pritschen des Dampfbads; es tropfte von Bäuchen und behaarten Schwengeln.
Ein gewaltiger Mann lag dampfend wie ein gesottener Happen vor Aloys auf dem hölzernen Schragen, das Lendentuch aus Barchent hatte sich gelöst, zwischen seinen groben Schenkeln saß zerquetscht und wie vernäht der eutrige Knollen. […] Aloys schaute auf die helle Haut unten an den massigen Füßen. Dann tauchte er die Hände in den Tran.
Mach schon, du Bajass, sagte der Dampfbahningenieur.

Aloys ekelt sich vor der Berührung der schwitzenden Körper, der entblößten Mannheit und dem Schwefelgeruch. Er bricht zusammen.

[…] er sank, geriet mit den Händen dem Mann ins Schamgewöll, und als dieser erschreckt auf die Ellenbogen kam, sah er seinen Bauch gesprenkelt von Blut, der halbnackte Leib des kleinen Reibers glitt zuckend an ihm vorbei zu Boden, ohnmächtig, aber mit gellendem Gebell, eine schleimige Spur aus dem Mund.

In seiner Kammer kommt er wieder zu sich. Nebenan hört er die Magd und einen Mann keuchen.

Im Frühjahr stellt die Magd bestürzt fest, dass sie schwanger ist. Es muss bei der Herrenfasnacht passiert sein. Der Dampfbahningenieur, der ihr das Kind machte, will zunächst nichts davon wissen. Erst als sie damit droht, sich samt dem Balg in ihrem Bauch vor eine Zugmaschine zu werfen, lässt er ihr auf seine Kosten Präparate zukommen, die einen Abortus einleiten sollen.

Das arme Ding verzweifelte, es goss Safran auf und Kautabak, machte Elixiere von Mutterkorn und Kaffeesatz, und als es ihm schon den Leib krümmte, fraß es, immer noch nicht ohne eine Hoffnung, das Grün vom Sefibaum und kaute Haselwurzeln, bis es im Maul die Häute gerbte, soff sich voll mit Absinth, war sich für nichts zu schade – seinen Zustand aber änderte es nicht.

Im Morgengrauen entdeckt Aloys Blut auf der Treppe und stößt auf die halbtote Magd. Nachdem sie sich stündlich Seifenlauge und eine starke Lösung von Sodasalz in die Vagina gespritzt hatte, stocherte sie auch noch mit einem Glasrohr herum. Blutige Brocken liegen in ihrem Nachttopf. Sie fleht Aloys an, sie nicht zu verraten und das Blut aufzuwischen, bevor jemand anderes es sieht.

Wegen des langen Winters wird der Bau der Bahntrasse erst spät im Jahr wieder voll aufgenommen. Der Bader erwartet von der Anbindung an das Schienennetz einen Aufschwung des Geschäfts. Aber jetzt muss er sich erst einmal mit einer polnischen Familie zufriedengeben, die ein lahmes Mädchen bei sich hat und auf eine Besserung des Zustandes im Kur- und Heilbad hofft. Nach Laurenzen (8. August) reisen die Polen enttäuscht wieder ab.

Im Sommer wird das Nordportal des Eisenbahntunnels auf volle Größe ausgesprengt und mit gewaltigen Stämmen versprießt.

Die Baderin kann am Tag nach Mariä Geburt (also am 9. September) nicht mehr aufstehen, und am nächsten Morgen ist sie tot. Der Witwer verliert jeden Antrieb und beginnt den Besitz zu vernachlässigen.

Am 11. November versuchen junge Männer mit Augenbinden auf dem Kirchplatz einer nahen Stadt Gänse zu köpfen, wie es das Brauchtum verlangt.

Auf dem Kirchplatz hing an einem gespannten Draht die Martinigans; man hatte eben die Schläger ausgelost, und der erste, im Purpurmantel und mit goldener Sonnenmaske, wurde zum Tier geführt, ertastete den Hals, ergriff das Schwert, zog aus und führte unter Trommelwirbeln seinen Schlag. Die Wucht ließ das Tier erzittern, Federn flogen, aber das zähe Halsfleisch hielt stand. Das Volk war belustigt, zwei Schläger trafen überhaupt nicht, und erst dem fünften gelang es, die schon zur dünnen Schnur zerfetzte Gurgel mit einem Hieb der stumpfen Schneide zu durchtrennen.

Anlässlich des Festes ist ein fahrender Daguerrotypist gekommen. Der Bader nimmt Aloys mit und lässt eine Daguerrotypie von dem Knecht machen.

Die Nachricht vom Zusammenbruch der Börse trifft ein. Bald darauf steht die Wirtschaft in Europa still. Das Bahnconsortium wird mit in den Abgrund gerissen. An Kathrinen (25. November) erhält die Baugesellschaft die telegrafische Kündigung und stellt die Arbeit ein. Die Mineure und Erdarbeiter verlassen den Ort.

Der Rotfärber brennt seine Hütten nieder und erhängt sich. Vor längerer Zeit war er beim Pflügen in den stark verwesten Leichnam eines gefallenen Franzosen geraten und durch den Gestank erkrankt. Nachdem ihm ein anderer Patient im Spital das Krappfärben erklärt hatte, ließ er sich bei Grüsch nieder, wo er einen vom Moossee gespeisten Bach vorfand, dessen Wasser er für seine Arbeit benötigte. Im Zuge des Bahnbaus wird der Moossee jedoch entsumpft, und es ist abzusehen, dass der Bach in den Sommermonaten austrocknet. Das Consortium wollte dem Rotfärber keinen Schadenersatz bezahlen. Der Prozess lief zwar noch, aber inzwischen erfuhr der Rotfärber, dass man im Badischen eine neue Farbe aus Kohle herstellt. Da sah er keine Zukunft mehr für sich.

Weil sich eine Seuche ausbreitet, haben die Sargschreiner und Bestatter viel zu tun.

Auch das Geschäft des Baders flackert noch einmal auf, denn an St. Barbara (4. Dezember) wandern viele zu ihm herauf. Aloys muss die Badstube schon am frühen Nachmittag heizen. Männer und Frauen trinken und schwitzen zusammen; sie werden hitzig und tanzen eine Polonaise, bis einer aus der Reihe tritt und zu reden beginnt.

[…] löste sich aus der Polonaise mit einemmal ein jüngerer Mann, der Aloys seiner starrenden Augen wegen schon vorher aufgefallen war, rief mitten im ausgefallenen Treiben energisch nach Tüchern, band sich einen Schurz und um den Kopf eine Krone und wollte zu allen reden.
Er sei der Erleuchtete Pfingsthimmel und Erschaffer des Domes Petri, und was man ihm nicht glauben wolle, sei wahr: Er habe im Potsdamer Schlosse Sanssouci gelebt und dort jede Nacht für den König auf dem Hammerklavier gespielt und ihm vorgesungen, worauf der Monarch sich in ihn verliebt habe. Was er bisher nur dem Hofkaplan in der Ohrenbeichte habe anvertrauen dürfen, wolle er in dieser Stunde allen bekennen: Er erwarte vom Fürsten ein Kind, das die Jesuiten ihm rauben wollten, weil es der einzig wahre Friedenskaiser sei.

Ein Windstoß reißt die Tür auf. Der Mann geht nackt hinaus. Schneeflocken schmelzen auf seiner dampfenden Haut. Er verschwindet in der Winternacht. In kurzer Zeit sind seine Spuren verweht und zugeschneit.

Aber der Geschäftsaufschwung des Badhotels ist nur vorübergehend. Der Unrat nimmt überhand. Seit dem Tod seiner Frau brütet der Bader dumpf vor sich hin, trinkt und liegt die meiste Zeit im Bett. Am Jahreswechsel lässt die Hilfskasse den Besitz pfänden. Bald darauf wird der brüllende Bader in einer eisernen Kutsche der Irrenanstalt weggebracht. Männer in Schutzkleidern übergießen die Wände des verwahrlosten Badhotels mit Steinöl und setzen es mit Fackeln in Brand. Die Magd sitzt schluchzend auf ihrem gepackten Koffer. Aloys hat die mit Birkenholz gerahmte Daguerrotypie bei sich. Er verlässt den Ort. Sein Husten ist vorbei.

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Ein junger, lungenkranker Mann schleppt im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts eine Seuche in einem Schweizer Dorf ein. Bevor das heruntergekommene Badhotel, in dem er arbeitet, wegen der Seuche niedergebrannt wird, bringt man den Besitzer zwangsweise in eine Irrenanstalt. Parallel dazu scheitert (vorerst) der Versuch, eine Bahntrasse zu dem Dorf zu bauen, und ein Rotfärber, der keine berufliche Zukunft mehr für sich sieht, erhängt sich. Aber der junge Mann ist genesen, als er den Ort nach einem Jahr verlässt.

Eine Handlung im engeren Sinne erzählt Flavio Steimann in „Aperwind“ nicht. Stattdessen halten wir uns mit dem Badknecht Aloys Neff ein Jahr lang – von Februar bis Februar – im Schweizer Dorf Grüsch auf. (Hier ist nicht der reale Ort Grüsch gemeint.) Die Kapitelüberschriften der Erzählung „Aperwind“ markieren den Zeitlauf: Horner (Februar), Lenz (Frühling), Wandelmond (1. April), Wonnemond (Mai), Brachmond (Juni), Heumond (Juli), Erntemond (August), Herbstmond (September), Weinmond (Oktober), Nebelmond (November), Wintermond (Dezember), Jänner (Januar), Horner.

So wie Flavio Steimann bei den Kapitelüberschriften – und im Text – urige Schweizer Ausdrücke verwendet, wählt er auch als Titel einen entsprechenden Begriff: Unter einem Aperwind verstehen die Schweizer einen Föhnsturm, der eine Schneedecke zum Schmelzen bringt.

Antiquierte bzw. lokal gebräuchliche Wörter erschweren Lesern nördlich des Bodensees die Lektüre ein wenig, aber sie tragen zu der dichten, düsteren Atmosphäre bei, die Flavio Steimann in „Aperwind“ evoziert. Auch sonst zeichnet sich die Erzählung durch eine sorgfältige Wortwahl aus. Aus genau den richtigen Wörtern komponiert Flavio Steimann kraftvolle, häufig kurze Sätze. Zu der eigenwilligen Sprache gehört der vollständige Verzicht auf Dialoge. Statt auf wörtliche Rede setzt Flavio Steimann in „Aperwind“ auf eine bildhafte und stimmungsvolle Darstellung.

Flavio Steimann (* 1945) wurde für seine Erzählung „Aperwind“ mit dem schweizerischen Schillerpreis ausgezeichnet. 1986 veröffentlichte er den Roman „Passgang“. Außerdem schrieb er Bühnenwerke wie „Das Luzerner Spiel vom klugen Knecht“ (1984), „Ulj Schröter“ (1984), „Anna Vögtlin“ (1986 / 1999), „Gilgamesch“ (1995).

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2014
Textauszüge: © Benziger Verlag

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Schnee