Winterreise

Winterreise

Winterreise

Originaltitel: Winterreise – Regie: Hans Steinbichler – Drehbuch: Martin Rauhaus, Hans Steinbichler – Kamera: Bella Halben – Schnitt: Anne Loewer – Musik: Antoni Lazarkiewicz – Darsteller: Josef Bierbichler, Sibel Kekilli, Hanna Schygulla, Philipp Hochmair, Anna Schudt, Johann von Bülow, André Hennicke, Brigitte Hobmeier, Aloysius Itoka u.a. – 2006; 100 Minuten

Inhaltsangabe

Als der Wasserburger Eisenwarenhändler Franz Brenninger begreift, dass er vor der Pleite steht, zeigt sich immer deutlicher, dass er nicht nur ein polternder Grantler und unbeherrschter Choleriker, sondern vor allem manisch-depressiv ist. In seiner Verzweiflung fällt er auf einen afrikanischen Betrüger herein und verliert 50 000 Euro. Daraufhin fliegt er nach Nairobi, um sich das Geld zurückzuholen ...
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Kritik

Hans Steinbichler konzentriert sich in dem Psychodrama "Winterreise" ganz auf Josef Bierbichler, der den Protagonisten mit unglaublicher Intensität darstellt.
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Als der Wasserburger Eisenwarenhändler Franz Brenninger (Josef Bierbichler) seine Karte in einen Geldautomaten der Sparkasse schiebt, wird sie eingezogen. Der Angestellte Holger Mankewski (Johann von Bülow), mit dem er sich duzt, erklärt ihm den Grund: Brenninger hat sein Dispositionslimit überzogen. Daran seien nur die säumigen Kunden schuld, meint er, aber in Wirklichkeit steht er vor der Pleite.

Rechnungen und Mahnungen („Arschlochpost“) legt er ungeöffnet beiseite. Manchmal mag Brenninger am Morgen nicht aufstehen, aber meistens ist er voll auf Touren. Wenn die Gemeinde in einer Messe für Brenningers Geschmack zu langsam singt, versucht er mit seiner lauten Stimme Tempo zu machen. Nachts dröhnt er sich in voller Lautstärke mit Rockmusik zu, auch wenn seine fast erblindete Frau Martha („Mucki“ – Hanna Schygulla) deshalb nicht schlafen kann. Immer wieder glaubt Brenninger zu ersticken. Dann reißt er das Fenster auf, stellt sich trotz des Winters nackt aufs Fensterbrett und saugt die kalte Luft ein. Im Krieg sah er, wie Pferde, die schwere Lasten aus der Konkursmasse seines bankrotten Vaters einen Hügel hinaufziehen sollten, blutig geschlagen wurden. Dieses Bild wird er nicht mehr los.

Martha erträgt seine Ruhelosigkeit und seine heftigen Stimmungsschwankungen. Die erwachsenen Kinder Paula (Anna Schudt) und Xaver (Philipp Hochmair) halten ihn für krank, können ihn aber nicht dazu bewegen, einen Arzt aufzusuchen. Ihre Fürsorge dankt er ihnen nicht: Er verachtet Xaver, der in einem Baumarkt beschäftigt ist. Paula wirft er vor, auf seine Kosten zwanzig Semester Germanistik und Philosophie studiert, aber nichts daraus gemacht zu haben, nur um jetzt mit zwei unehelichen Kindern – von denen eines geistig behindert ist – dazuzusitzen.

Im Autoradio hört Brenninger ein Lied aus dem Zyklus „Winterreise“ von Franz Schubert: „Eine Straße muss ich gehen, die noch keiner ging zurück.“ Er hält an und singt es es nach.

Im Bordell schickt er eine Prostituierte fort, die es mit Fellatio bei ihm versucht; lieber erzählt er seiner Lieblingshure Gertraud alias Jacqueline (Brigitte Hobmeier) von seinen Sorgen.

Rettung scheint ein Brief aus Nairobi zu bringen. Weil Brenninger kein Englisch kann, gibt er der kurdischen Ethnologie-Studentin Leyla (Sibel Kekilli) 50 Euro, damit sie ihm das Schreiben übersetzt. Absender ist ein Kenianer namens Tom Kanabe (Aloysius Itoka). Dessen Onkel stehen angeblich 15 Millionen Dollar aus einem Geschäftsabschluss zu. Weil er in Kenia jedoch 60 Prozent Steuern auf die Einnahmen bezahlen müsste, sucht er eine ausländische Vertrauensperson, einen Strohmann, dem die 15 Millionen Dollar überwiesen werden können. Dafür bietet er 5 Prozent Provision.

Leyla fungiert als Dolmetscherin, als Brenninger sich zunächst mit Kanabe allein und dann noch einmal mit ihm bei einem Notar (Stephan Bissmeier) trifft. Erst als der Notar den Vertragsentwurf vorliest, erfährt Brenninger, dass er 50 000 Euro auf das neu eröffnete Konto einzahlen soll, und Kanabe erklärt ihm, dabei handele es sich um eine Sicherheitsleistung für seinen Onkel. Woher soll Brenninger 50 000 Euro nehmen? „Neger und Notare, lauter Arschlöcher!“, schimpft er und verlässt aufgebracht die Kanzlei.

Ein Augenarzt (Stefan Merki) drängt Brenninger, seine Frau innerhalb von vier Wochen operieren zu lassen. Andernfalls drohe sie völlig zu erblinden. Allerdings wird der 30 000 Euro teure Eingriff nicht von der Krankenkasse bezahlt. Brenninger wendet sich an seinen Sohn, und Xaver löst einen Bausparvertrag auf, um das Geld für die Operation auf das Konto seines Vaters überweisen zu können.

Kurz darauf unterschreibt Brenninger den notariellen Vertrag mit Tom Kanabe und zahlt 50 000 auf das neue Konto ein. Die 750 000 Dollar Provision werden für Marthas Operation und die Sanierung der Firma reichen.

Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.

Doch statt einer Provision erhält Brenninger eine Forderung seiner kenianischen Partner: Angeblich wurde das Guthaben auf dem Konto für Schmiergeldzahlungen an Beamte im Finanzamt benötigt, und Brenninger soll noch einmal die gleiche Summe überweisen. Vergeblich verlangt er sein Geld zurück – und begreift schließlich, dass er hereingelegt wurde.

In der Absicht, sich das Geld wiederzuholen, fliegt er mit Leyla nach Nairobi. Dort raten ihm der deutsche Botschafter von Hermann (Klaus Manchen) und dessen Assistent (Martin Goeres), die Finger von der Sache zu lassen; es sei viel zu gefährlich, sich mit diesen Kriminellen anzulegen.

Als er auf einem Flügel in der Hotelhalle ein Lied aus der „Winterreise“ spielt und dazu singt, bedankt sich ein gerührter Deutscher namens Friedländer (André Hennicke) dafür. Seit seine Ehefrau vor einundzwanzig Jahren in Nairobi verschwand, sucht er hier nach ihr. Schuberts „Winterreise“ sei der Ausdruck einer Depression und geistigen Verwirrung, meint er.

Irgendwo in der Wildnis spürt Brenninger Tom Kanabes angeblichen Onkel auf. Er schlägt ihn zusammen und füllt einen Koffer voller Banknoten – es sind 200 000 Dollar – in einen Kopfkissenbezug um. Leyla soll 40 000 Dollar behalten und den Rest seiner Frau und den Kindern bringen. Während Brenninger in die unendliche Landschaft hinausgeht, fährt Leyla mit dem Jeep zurück nach Nairobi.

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Franz Brenninger gehört zu den Männern, die etwas aufgebaut haben. In seinem Fall handelt es sich um eine Eisenwarenhandlung in Wasserburg am Inn. Als das Unternehmen vor der Pleite steht, zeigt sich immer deutlicher, dass er nicht nur ein polternder Grantler und unbeherrschter Choleriker, sondern vor allem manisch-depressiv ist. Er droht die Kontrolle zu verlieren.

Josef Bierbichler verkörpert diesen kaputten Mann in dem Psychodrama „Winterreise“ mit einer unglaublichen Intensität. Und Hans Steinbichler konzentriert sich ganz auf den Hauptdarsteller. Das bedeutet aber auch, dass außer der schauspielerischen Leistung von Josef Bierbichler und einigen grandiosen Bildern afrikanischer Landschaften (Kamera: Bella Halben) nichts in Erinnerung bleibt; Hanna Schygulla, Sibel Kekilli, Philipp Hochmair, Anna Schudt, Johann von Bülow, André Hennicke und Brigitte Hobmeier sind in „Winterreise“ kaum mehr als Statisten.

„Winterreise“ ist als Charakterporträt die genaueste Beschreibung heutiger Ängste vor der sozialen Deklassierung im Mittelstand. (Rainer Gansera, Süddeutsche Zeitung, 23. November 2006)

Der Titel bezieht sich auf den Liederzyklus „Winterreise“, der aus vierundzwanzig 1827 von Franz Schubert (1797 – 1828) vertonten Gedichten von Wilhelm Müller (1794 – 1827) besteht. Er handelt von einem einsamen, unglücklichen Wanderer, der vor Schmerz beinahe wahnsinnig ist, absichtlich alles aufgibt und ebenso ziel- wie hoffnungslos in die Winternacht hinausgeht. – Einige der Lieder von Franz Schubert werden von Josef Bierbichler bzw. Hanna Schygulla in dem Film „Winterreise“ gesungen.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2009

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