Alain Claude Sulzer : Ein perfekter Kellner

Ein perfekter Kellner
Ein perfekter Kellner Originalausgabe: Edition Epoca, Zürich 2004 Taschenbuch: Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 2006 ISBN 3-518-45741-1, 215 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Erneste arbeitet als perfekter Kellner in einem Restaurant in der Schweiz. Die Liebe seines Lebens war der Lernkellner Jakob, der ihn jedoch nach einem Jahr verließ und mit dem deutschen Schriftsteller Julius Klinger nach New York ging. Seit dreißig Jahren hat Erneste nichts mehr von ihm gehört. 1966 erhält er einen Brief, in dem Jakob eine unverschämte Forderung stellt ...
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Kritik

Alain Claude Sulzer erzählt die traurige Geschichte in einer undramatischen, bewusst etwas altmodisch wirkenden Weise, ohne Gefühlsüberschwang und in einer behutsam geschliffenen Sprache: "Ein perfekter Kellner".
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Erneste ist ein perfekter Kellner und bedient seit sechzehn Jahren im „Restaurant am Berg“ in einer Schweizer Kleinstadt.

Er war ein Schatten, wenn es sein musste, zugleich ein fürsorglicher Beobachter, der im richtigen Augenblick herbeieilte, vom Scheitel bis zur Sohle aufmerksam, von schneller Auffassungsgabe, mit mehr als nur ausreichenden Kenntnissen in deutscher, italienischer, englischer und natürlich französischer Sprache, denn er war ja Franzose, die Augen überall, unauffällig und allgegenwärtig […] (Seite 10)

Er schläft in einer Zwei-Zimmer-Wohnung ohne Telefon; Freunde hat er keine, aber samstags geht er manchmal aus, und dann kommt es vor, dass er zu viel trinkt. Mit sechzehn verließ er sein Heimatdorf im Elsass, ging nach Straßburg und wurde dort vor fünfunddreißig Jahren Kellner. Irgendwann erfuhr er zwar, dass seine Eltern bald nacheinander gestorben waren, aber er hatte seinen Geschwistern weder Beileidskarten geschickt noch war er zu den Beerdigungen gefahren.

Am 15. September 1966 erhält Erneste einen Brief aus New York. Absender ist ein Jakob Meier, von dem er seit dreißig Jahren nichts mehr gehört hat.

Ende Mai 1935 war Jakob, ein neunzehnjähriger Lernkellner aus Köln, nach Giessbach im Berner Oberland gekommen, wo Erneste zu diesem Zeitpunkt seit etwas mehr als einem Jahr im Grandhotel als Kellner beschäftigt war. Jakob fing als Laufbursche und Kofferträger an, durfte jedoch auf Betreiben Ernestes, mit dem er sich das Personalzimmer teilte, bald schon im Speisesaal helfen. Erneste nahm sich vor, einen perfekten Kellner aus ihm zu machen. Zur Einkleidung brachte er seinen neuen Kollegen in die Kleiderkammer, und während Frau Adamowicz Maß nahm, sah Erneste erregt zu.

Zwei Monate nach seiner Ankunft küsste Jakob unvermittelt Erneste bei einem Spaziergang, und sie drängten sich aneinander, obwohl der Hoteldirektor Dr. Emil Wagner sie auf der Stelle entlassen hätte, wenn sie gesehen worden wären. In ihrem Zimmer schliefen sie von da an beide nackt zusammen in einem Bett. Für Erneste war es die Liebe seines Lebens.

Erst nach zwei Tagen reißt Erneste das Kuvert aus New York auf. Enttäuscht stellt er fest, dass der Brief mit einer Schreibmaschine getippt ist. Jakob hat mit „Jack“ unterschrieben. Und der Inhalt ist das Gegenteil dessen, was Erneste sich während des zweitägigen Wartens erhoffte: Jakob fordert ihn auf, zu Klinger zu gehen; der soll ihm Geld schicken. Erneste weiß sehr wohl, wer Julius Klinger ist, aber er unternimmt nichts. Am 5. Oktober trifft ein zweiter Brief ein, in dem Jakob davon schreibt, dass er verfolgt werde und in Not sei. Er benötige dringend Geld.

Am 15. Oktober 1935 musste Erneste sich für ein halbes Jahr von Jakob trennen, denn das Hotel war im Winter geschlossen; Jakob wollte die Zeit in Köln verbringen, und Erneste reiste nach Paris. Ab April 1936 waren sie wieder zusammen in Giessbach.

Dort traf Erneste in dieser Saison auch seine Cousine Julie wieder, die er seit seinem elften Lebensjahr nicht mehr gesehen hatte, weil sie mit ihren Eltern nach Paris gezogen war. Sie verbrachte die Flitterwochen mit ihrem sechsundzwanzigjährigen Ehemann Philippe Jolivay im Grandhotel von Giessbach. Jolivay dachte kaum an etwas anderes als an die Spielzeugfabrik, die er am Rand von Paris gründen wollte und bemerkte auch nicht, dass seine frisch angetraute Frau ein Verhältnis mit dem Londoner Geschäftsmann Steve Boulton anfing. Neun Monate später gebar Julie eine Tochter, die ihrem Liebhaber ähnlich sah und den Namen der englischen Königin Victoria erhielt. Seit 1936 verbringen Julie und Steve jedes Jahr drei Wochen zusammen in der Schweiz. Angie Boulton glaubt, ihr Mann sei auf Geschäftsreise, und Julie erzählt ihrem Mann, sie müsse wegen ihrer Gelenkschmerzen zur Kur nach Zurzach.

Am 19. Juni 1936 stieg der deutsche Schriftsteller Julius Klinger mit seiner Frau Marianne, der Tochter Josefa und dem Sohn Maximilian im Grandhotel von Giessbach ab. Marianne Klinger war bis zur Geburt ihrer Tochter in Berlin als Opernsängerin aufgetreten. Julius Klinger hatte sich nie über politische Themen geäußert – bis zum 20. Mai 1936, da war ein offener Brief von ihm an Joseph Goebbels in den Zeitungen erschienen, in dem es hieß: „Wir wahren Deutschen werden euch eines Besseren belehren müssen; nichts anderes bleibt uns übrig.“ (Seite 110) Einen Monat später ging Familie Klinger ins Exil. Zwei Wochen später folgte ihnen ihre Hausangestellte, Frau Moser.

Gedankenverloren, seinen Erinnerungen nachhängend, geht Erneste nachts zur Parktoilette – und erkennt die Gefahr nicht rechtzeitig: Vier Männer, die es auf Homosexuelle abgesehen haben, schlagen ihn zusammen und treten auf ihn ein, als er am Boden liegt.

Am nächsten Morgen meldet er sich zum ersten Mal in seinem Leben krank.

Nach diesem Vorfall beschließt Erneste, Klinger nun doch aufzusuchen. Er weiß, dass der deutsche Schriftsteller, der in wenigen Wochen seinen 78. Geburtstag feiern wird, nach dem Krieg von den USA in die Schweiz zog und ganz in der Nähe wohnt. Neulich stand in der Zeitung, dass seine Frau gestorben war. Erneste ruft von einer Telefonzelle aus an. Frau Moser rät ihm, nachmittags vorbeizukommen.

Erneste wunderte sich, als er im Juli 1936 ein Fünffrankenstück unter Jakobs Kopfkissen fand. Er habe es als Trinkgeld bekommen, behauptete Jakob, aber fünf Franken wären ein fürstliches Trinkgeld gewesen. Elf Tage später fand Erneste durch Zufall heraus, wofür Jakob fünf Franken bekam: Am 28. Juli 1936 kehrte er vorzeitig in das gemeinsame Zimmer im Grandhotel zurück. Dort stand der Hotelgast Klinger mit heruntergelassener Hose, und Jakob kniete nackt vor ihm.

Kurz darauf kündigte Jakob und wanderte als Diener, Sekretär und heimlicher Liebhaber mit Familie Klinger nach New York aus.

Julius Klinger erinnert sich an den Kellner Erneste und das peinliche Erlebnis im Sommer 1936. Er weiß längst, dass Jakob ihn nur ausnutzte, während er sich damals nicht mehr vorstellen konnte, ohne seinen Geliebten zu leben. Erneste gibt ihm Jakobs Briefe zu lesen, aber Klinger lehnt jede Hilfe ab.

Trotz seines Einsatzes hat Erneste nichts erreicht. Das frustriert ihn und lässt ihm keine Ruhe: Nach einiger Zeit ruft er noch einmal bei Klinger an, und weil dieser nicht ans Telefon kommt, lässt er ihm über Frau Moser ausrichten, er gebe ihm achtundvierzig Stunden Zeit, Geld für Jakob zu schicken. Falls Klinger es nicht tue, müsse er die Presse über kompromittierende Details aus dem Privatleben des berühmten Schriftstellers informieren, um Geld für Jakob zu bekommen.

Julius Klinger fährt persönlich mit einem Taxi zu Erneste und zeigt ihm einen Brief, den er vor vier Tagen aus New York bekam. Er stammt von einem Herrn Gingold, einem Freund Jakobs. Der schreibt, dass Jakob unter einem Gehirntumor und als Folge davon unter Verfolgungswahn litt, bis er kürzlich starb. Aus dem Brief geht auch hervor, dass Jakob nicht in finanziellen Schwierigkeiten war und medizinisch gut versorgt wurde.

Nachdem Erneste den Brief gelesen hat, erzählt ihm sein Besucher, was kurz nach dem Angriff der Japaner auf den US-Stützpunkt Pearl Harbor auf Hawaii am 7. Dezember 1941 bei den Klingers in New York geschah: Marianne hatte sich nach einem wegen Unpässlichkeit vorzeitig abgebrochenen Opernbesuch ins Schlafzimmer zurückgezogen, Josefa legte in der Bibliothek Patiencen, und Maximilian, der inzwischen Jura studierte, war wohl in seine Bücher vertieft. Plötzlich wurde Julius Klinger von Jakob aufgefordert, ihm zu folgen: Maximilian lag tot in seinem Zimmer. Gin und Schlaftabletten neben sich. In einem Abschiedsbrief, den sein Vater unbemerkt an sich nahm, schrieb der Zweiundzwanzigjährige, er sei bereits in Giessbach von Jakob verführt worden und habe seither geglaubt, dessen alleiniger Geliebter zu sein. Als er herausfand, dass auch sein Vater ein heimliches Verhältnis mit Jakob hatte, wollte er nicht mehr weiterleben. – Julius Klinger entließ Jakob nach dem Selbstmord seines Sohnes. Weder Marianne noch Josefa fragten nach dem Grund; sie ahnten ihn also.

Ernestes Erpressungsversuch war sinnlos.

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Der „perfekte Kellner“ Erneste ist ein einsamer Homosexueller, dessen Leben seit Jahrzehnten gleichförmig verläuft. Nur vor dreißig Jahren gab es einen Glücksmoment für ihn, denn damals glaubte er, die große Liebe gefunden zu haben. Aber seine Gefühle wurden verraten.

Der 1953 in Basel geborene Schweizer Schriftsteller Alain Claude Sulzer erzählt die traurige Geschichte in einer undramatischen, bewusst etwas altmodisch wirkenden Weise, ohne Gefühlsüberschwang und in einer behutsam geschliffenen Sprache. Dabei führt er die Ereignisse der Gegenwart (1966) und die Erinnerungen der Beteiligten an die Vergangenheit (1935/36, 1941) parallel, bis sich am Ende ein Gesamtbild ergibt.

Bei der Inszenierung des Bühnenhintergrundes aus Milieu und historischer Zeitgeschichte besitzt Alain Claude Sulzer eine geradezu klassische, ja altmodische Souveränität. Er besitzt sie – von einigen Manierismen abgesehen – auch in seiner distinguierten Sprache. Es ist die Sprache eines Erzählers, der sich nicht persönlich einmischt in sein Werk. In dessen Zentrum steht, mit der ganzen Charakterwürde des verzweifelt Passionierten, der Kellner Erneste. So groß ist das Melodram seiner Liebe, dass dessen Geschichte den Roman fast allein versorgt und der Erzähler es sich leisten kann, das ganze Orchester der Hotelwelt nur wie ein fernes Geräusch einzusetzen. (Ursula März in „Die Zeit“, 7. Oktober 2004)

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2006
Textauszüge: © Edition Epoca

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