Anne Swärd : Bis zum letzten Atemzug

Bis zum letzten Atemzug
Originalausgabe: Till sista andetaget Svante Weyler Bokförlag, Stockholm 2009 Bis zum letzten Atemzug Übersetzung: Sabine Neumann Suhrkamp Verlag, Berlin 2011 ISBN: 978-3-518-46248-5, 346 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Eine Siebenjährige, die in einer Großfamilie behütet aufwächst, freundet sich mit einem 13-jährigen Halbwaisen an, der mit seinem Vater zusammen ein abgelegenes Haus bewohnt und nicht mit ihm reden kann, weil sie keine gemeinsame Sprache haben. So beginnt eine eigenwillige, tragisch endende Liebesgeschichte. "Bis zum letzten Atemzug" ist zugleich ein Roman über das Erwachsenwerden, den Versuch der Selbstfindung und die Gnade, Erlebnisse vergessen zu können, bevor sie einen zerstören ...
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Kritik

Anne Swärd entwickelt die ergreifende Geschichte nicht chronologisch, sondern im Wechsel zwischen der Gegenwart der jungen Protagonistin und deren Erinnerungen. Einiges lässt sich nur erahnen. Das trägt zum poetischen Stil des tragischen Romans "Bis zum letzten Atemzug" bei.
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Angela Rafaela Lo Måd wächst in Südschweden auf. Beide Großelternpaare – Börn und Idun, Aron und Anna – stammen aus dem skandinavischen Norden, waren zusammen nach Süden gezogen und hatten hier ein Haus gekauft, zu dem ein Arboretum gehört. Um Lo kümmern sich außer den Eltern David und Katarina deren mit ihm Haus wohnenden Geschwister und die Großeltern; insgesamt sind es 13 Erwachsene, die das Kind betreuen.

Lo ist sieben Jahre alt, als sie Lukas erstmals begegnet. Es geschieht während eines Feldbrandes, der von Los Eltern, Großeltern, Onkeln und Tanten bekämpft wird. Eigentlich heißt der 13-Jährige gar nicht Lukas, sondern Lukács Zsolt, aber in der Kindertagesstätte, in die ihn sein Vater Gábriel Paskás gebracht hatte, nachdem er vor acht Jahren mit ihm nach Schweden gekommen war, wusste man nicht, dass Ungarn den Familiennamen zuerst nennen, und so wurde aus Lukács – dem Familiennamen der Mutter – der Vorname Lukas. Vater und Sohn wohnen in einem abgelegenen Haus. Gábriel Paskás arbeitet in der nahen Lederfabrik und spricht kaum ein Wort Schwedisch, sein in einem Vorort von Budapest geborener Sohn versteht dagegen kein Ungarisch. Die beiden können also nicht wirklich miteinander reden. Allerdings verprügelt Gábriel seinen in der Schule um zwei Klassen zurückgestuften Sohn immer wieder. Lukas legte wohl auch das Feuer im Getreidefeld.

Obwohl Lo sich eigentlich nicht so weit vom Elternhaus entfernen dürfte, geht sie nun so häufig wie möglich zu Lukas und schwänzt sogar deshalb die Schule. Er nimmt sie mit zum verlassenen Haus des Perlenfischers. Es heißt so, weil der Bewohner nach Japan gezogen war, um dort als Perlenfischer sein Glück zu versuchen, aber dort erfahren hatte, dass in der Perlenfischerei nur Frauen beschäftigt werden. Lukas überredet seine neue Freundin, mit ihm in das Haus einzubrechen. Es wird zu ihrem Versteck.

Schließlich macht sie auch mit, wenn er im Dorfladen stiehlt.

Sein Vater hat Rattenfallen aufgestellt und erwartet von Lukas, dass er sie regelmäßig leert. Aber das bringt der Junge nicht fertig. An seiner Stelle geht Lo die Fallen ab und ertränkt die gefangenen Tiere. Es dauert einige Zeit, bis Gábriel das herausfindet. Daraufhin schlägt er seinen Sohn halb tot.

An Los 10. Geburtstag mag ihre Mutter nicht aufstehen, und auch die anderen Angehörigen der Großfamilie wollen nicht mit dem Kind feiern. Erst später wird Lo erfahren, dass ihre Mutter vom Selbstmord ihrer Lieblingsschauspielerin Jean Seberg erfuhr und deshalb in eine Depression verfiel. Los Vater David ist zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr da: Er verließ seine Frau und die Familie.

Lukas ist auch nicht zum Feiern zu Mute, denn er leidet seit Tagen unter einer Dauererektion. Um die bereits schmerzhafte Versteifung loszuwerden, spielt er mit dem Gedanken, bis zum letzten Atemzug durch den nahen See zu tauchen. Lo schaut in einem medizinischen Handbuch nach und erklärt ihrem Freund, dass Treppensteigen und Eisbeutel gegen diese Art der erektilen Dysfunktion helfen. Weil es in dem Haus, in dem er mit seinem Vater wohnt, weder Treppen noch eine Gefriertruhe gibt, nimmt Lo ihn heimlich mit in ihr Elternhaus. Nachdem Lukas einige Male vergeblich treppauf, treppab gelaufen ist, holt Lo zwei Portionsbeutel Eis aus der Gefriertruhe im Keller. Lukas setzt sich auf die Truhe, streift die kurze Hose bis zu den Waden hinunter und kühlt sich das Gemächt. Da betritt unterwartet Los Tante Marina den Kellerraum. Als sie den nackten Jungen mit erigiertem Penis erblickt, geht sie mit einem Staubsaugerrohr auf ihn los. Lukas hebt die Arme, um seinen Kopf zu schützen. Dann entwindet er Marina die Waffe und will wegrennen, aber sie steht im Weg, und bevor er an ihr vorbeikommt, taucht Los Onkel Erik in der Tür auf. Der wirft den Jungen kurzerhand zu Boden.

Erik und Marina führen Lukas zu seinem Vater, um sich über ihn zu beschweren. Außerdem wird erneut von Lo verlangt, dass sie sich von Lukas fernhält. Aber sie befolgt das Gebot weiterhin nicht.

Wenn Lo und Lukas einander zum Beispiel beim Baden im See nackt sehen, denken sie sich nichts dabei, denn sie sind es seit Jahren gewohnt. Inzwischen wissen sie zwar, warum die Geschlechtsorgane von Mann und Frau verschieden sind, aber Sex ist für sie tabu, denn ohne es je ausgesprochen zu haben, befürchten beide, dass eine sexuelle Berührung ihre besondere Beziehung zerstören würde.

Als sie wieder einmal nackt im See herumplantschen, werden sie von Los Onkel Rikard entdeckt. Der zerrt seine Nichte aus dem Wasser und schlägt Lukas. Diesmal ist es Los Mutter Katarina, die sich bei Gábriel Paskás über dessen Sohn beschwert.

Lukas bricht schließlich die Schule ab und fängt in der Lederfabrik zu arbeiten an. Um seinem Vater zu Hause ebenso wie in der Fabrik aus dem Weg zu gehen, lässt er sich zur Nachtschicht einteilen. Ungeachtet des Verbots trifft er sich nach wie vor mit Lo. Die beiden sind unzertrennlich.

Nachdem Rikard als letztes der Geschwister weggezogen ist und sowohl die beiden Großmütter als auch einer der Großväter gestorben sind, leben nur noch Lo, ihre Mutter Katarina und ihr Großvater Björn in dem südschwedischen Dorf.

Lukas kauft ein gebrauchtes Auto, und an Los 15. Geburtstag lädt er sie zu einem Ausflug nach Kopenhagen ein. Sie vergnügen sich im Tivoli und übernachten dann in einem Hotel.

Hinterher erinnerte ich mich nur an einzelne Augenblicke, wie hastig flimmernde Lichtflecke. Erinnerungen, die sich nicht festnageln lassen, weil sie zu undeutlich sind, wie das Licht in Kopenhagen an jenem Tag, schnell wechselndes Septemberlicht über allem. Lukas und ich. An seinen Körper erinnerte ich mich, an seine Schwere, an den Geruch von Chlor im Hotelkissen, aber nicht an seinen Geruch. […] Es reichte sein Gewicht. Er brauchte keinen Muskel anzuspannen. Eine Tonne Flimmern, eine Tonne Licht, eine Tonne Zuckerwatte, eine Tonne Lukas. Ich konnte mich nicht bewegen. Eine Tonne Einsamkeit. Keine Küsse. Erst hinterher sah ich die Male. Lang hinterher. Auf beiden Seiten der Halsschlagader. Noch offen und schmerzhaft.

Als Lo am anderen Morgen aufwacht, ist Lukas nicht mehr da. Die Rechnung wurde zwar nicht bezahlt, aber das Personal hält die Minderjährige nicht zurück. Lukas wartet ein paar Blocks weiter im Auto auf Lo und sagt: „Ich wollte dir nicht weh tun.“

Sie ist zwar überzeugt, dass in dieser Nacht nichts geschah, aber von da an ist nichts mehr wie es war, und es dauert einige Zeit, bis Lukas ihr wieder in die Augen schauen kann.

Ein Jahr später nimmt sie bei ihm zu Hause das Telefon ab. Jemand will Gábriel Paskás sprechen. Lo holt Lukas, der draußen an seinem Auto herumschraubt. Der Anrufer hält ihn für seinen Vater, und so erfahren Lukas und Lo, dass Gábriel unheilbar an Knochenkrebs erkrankt ist.

Bald kann er nur noch halbtags arbeiten, und schließlich geht auch das nicht mehr. Lo hilft Lukas, ihn zu pflegen.

Damit Vater und Sohn sich aussprechen können, bevor es zu spät ist, gibt Lo eine Zeitungsanzeige auf, mit der sie jemanden sucht, der sowohl die schwedische als auch die ungarische Sprache beherrscht. Ein Yoel Farkas aus Stockholm meldet sich. Gegen ein geringes Honorar ist er bereit, zu kommen und zwischen den beiden Männern zu dolmetschen. Damit Gábriel ansprechbar ist, reduzieren sie die Morphium-Dosis. Endlich erfährt Lukas, dass sein Vater aus einem Dorf bei Kecskemét in der Puszta stammt. Gábriels Jugendliebe Mara hatte zunächst einen anderen Mann geheiratet, war dann aber doch noch seine Frau geworden. Sie bekam zwei Söhne: András und Lukas. Als das Sommerhaus brannte, kamen Mara und András ums Leben. Lukas konnte sich retten, und Gábriel war gerade nicht da. Ein Jahr später verließ er Ungarn mit Lukas zusammen und zog nach Schweden.

Yoel ist ebenso alt wie Lukas. Er wuchs in Stockholm, Berlin und Budapest auf und studierte in New York. Weil er sich mit seinem in Berlin lebenden Vater überworfen hat, kriegt er zur Zeit keinen monatlichen Scheck, aber wenn ihm das Geld auszugehen droht, kann er sich auch weiterhin an seine Mutter in Budapest wenden.

Lo trifft sich heimlich mit ihm im Haus des Perlenfischers und erlebt den ersten Geschlechtsverkehr. Vor allem Lukas darf nichts von ihrem Liebesverhältnis erfahren.

Als Gábriel tot ist, fordert Yoel seine Geliebte auf, mit ihm nach Stockholm zu ziehen. Um für die Fahrt ein Auto zu bekommen, fragt er Lukas, ob er dessen Wagen haben könne. Der steht in der Werkstatt, weil Lukas das Geld für die dort inzwischen vorgenommenen Reparaturen fehlt. Lo weiß, wie viel Lukas das Auto bedeutet, aber er sagt gleichgültig, er sei einverstanden. Er ahnt wohl, dass er Lo verloren hat, und da kommt es aufs Auto auch nicht mehr an. Yoel löst das Fahrzeug in der Werkstatt aus und verspricht Lukas, ihm den vereinbarten Kaufpreis aus Stockholm zu schicken.

Ohne sich von Lukas oder ihrer Mutter zu verabschieden, steigt Lo zu Yoel ins Auto. Lukas ist gerade dabei, die Habseligkeiten seines Vaters zu verbrennen.

In Stockholm wohnt Lo bei Yoel. Aber bald schon reist er zu seinem Vater nach Berlin und zu seiner Mutter nach Budapest. Lo ist zum ersten Mal in ihrem Leben allein. Yoel besucht einen Freund in New York, einen Bruder in Paris, eine Freundin in Kopenhagen, einen Vetter in Zakopane und so weiter. Außerdem kommt er von seiner Ex-Freundin nicht los. Schließlich wird es Lo zu viel: Sie sammelt das von Yoel in der Wohnung versteckte Geld ein, nimmt das Auto und fährt los. Dabei erinnert sie sich daran, was Yoel einmal zu ihr sagte:

Es geht nicht darum, dass man etwas bekommt, Lo, es geht darum, dass man es sich nimmt.“

Sie fliegt nach New York, wechselt fortwährend Orte und Unterkünfte. Wo immer sie sich gerade aufhält, lässt sie sich auf One-Night-Stands ein.

Es muss möglich sein, einen Tag oder sogar eine ganze Woche in einer fremden Stadt zu verbringen, ohne dass man mit jemandem ins Bett geht. Rein theoretisch weiß ich, dass es möglich ist, aber einsame Männer in Transithallen, frisch geduschte Männer in Frühstücksälen, schöne Nacken am Check-in-Schalter, das Profil von jemandem im Aufzugsspiegel, ein Geruch, der über den Gehsteig oder in der Straßenbahn hängt, mehr ist nicht nötig.

Schlangen lassen sich aufteilen in giftige und ungiftige, aber die Männer … man weiß es einfach nicht.

Ein Filmdialog aus „Außer Atem“ fällt ihr ein:

Du weißt, was man behauptet – dass Mädchen, die mit allen schlafen, nicht mit dem Einen schlafen wollen, der sie liebt.

Die Briefe ihrer Mutter öffnet sie zwar nicht, aber sie schreibt ihr hin und wieder. Und als Katarina erblindet, telefonieren sie auch miteinander.

Nach einiger Zeit erwähnt Katarina einen Brief, den Lukas ihr gab und den sie einem eigenen Brief an ihre Tochter beilegte. Daraufhin reißt Lo die Kuverts auf, bis sie Lukas‘ Brief findet, aber sie lässt ihn erst einmal verschlossen.

Von ihrer Mutter erfährt sie, dass Lukas am Tag ihrer Abfahrt nach Stockholm das Haus in Brand setzte, in dem noch die Leiche seines Vaters lag. Er kam mit einer Geldstrafe für fahrlässige Brandstiftung davon und baute das Haus wieder auf. Aber als er keine Antwort auf seinen Brief bekam und nicht mehr hoffen konnte, dass Lo zurückkommen würde, brach er die Arbeiten ab. Das Haus steht leer. Später heuerte Lukas dann wohl auf einer Ölbohrinsel an, und dort scheint er ebenfalls Feuer gelegt zu haben.

Auf wessen Konto geht es, wenn man in die Flamme der Schuld läuft und sie mit seinem eigenen Körper zu löschen versucht? Ein unbezwinglicher Impuls. Wie oft glaubst du, habe ich es nicht auch gewollt? aber man kann es nicht tun – man kann nur vergessen und weitermachen, vergessen und weitermachen. Es ist eine Gnade, vergessen zu können. Für dich jedoch war es eine Gnade, dass alles brennen konnte.

Nachdem ihr Großvater Björn gestorben ist, kehrt Lo zu ihrer blinden Mutter zurück.

Endlich öffnet sie Lukas‘ Brief. Die Schrift ist unleserlich. Darüber ist Lo froh, denn sie rechnete mit Vorwürfen. Sie legt das Blatt weg, holt es jedoch immer wieder hervor, und nach einiger Zeit vermag sie ein paar Worte zu entziffern. Da steht beispielsweise „verzeih mir“. Aber sie weiß nicht, was sie ihm verzeihen sollte und erinnert sich nicht, dass er etwas gegen ihren Willen getan hätte.

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Eine Siebenjährige, die von den 13 Erwachsenen einer Großfamilie behütet aufwächst, freundet sich mit einem 13-jährigen Halbwaisen an, der mit seinem Vater zusammen ein abgelegenes Haus bewohnt und nicht mit ihm reden kann, weil sie keine gemeinsame Sprache haben. So beginnt eine eigenwillige, tragisch endende Liebesgeschichte. „Bis zum letzten Atemzug“ ist zugleich ein Roman über das Erwachsenwerden, den Versuch der Selbstfindung und die Gnade, Erlebnisse vergessen zu können, bevor sie einen zerstören.

Anne Swärd beginnt ihren Roman „Bis zum letzten Atemzug“ in der Dritten Person Singular, wechselt dann aber bereits auf Seite 15 in die Ich-Form. Die Protagonistin ist inzwischen zu einer jungen Frau herangereift, die unstet von Ort zu Ort zieht und sich nur auf One-Night-Stands einlässt. Die Erlebnisse in der Jugend lassen sie nicht los.

Die ergreifende Geschichte entwickelt sich nicht chronologisch, sondern im Wechsel zwischen der Gegenwart der jungen Frau und ihren Erinnerungen. Einiges lässt sich nur aufgrund von Andeutungen erahnen. Das trägt zum poetischen Stil des Romans „Bis zum letzten Atemzug“ bei.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2013
Textauszüge: © Suhrkamp Verlag

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April