Meine liebste Jahreszeit

Meine liebste Jahreszeit

Meine liebste Jahreszeit

Meine liebste Jahreszeit – Originaltitel: Ma saison préférée – Regie: André Téchiné – Drehbuch: Pascal Bonitzer, André Téchiné – Kamera: Thierry Arbogast – Schnitt: Martine Giordano – Musik: Philippe Sarde – Darsteller: Catherine Deneuve, Daniel Auteuil, Marthe Villalonga, Jean-Pierre Bouvier, Chiara Mastroianni, Carmen Chaplin, Anthony Prada u.a. – 1993; 125 Minuten

Inhaltsangabe

Das Verhältnis der Geschwister Emilie und Antoine ist ambivalent: Einerseits lieben sie sich, andererseits ist Emilie eifersüchtig auf ihren Bruder, weil dieser von der Mutter bevorzugt wurde. Trotz ihres beruflichen Erfolgs sind beide mit ihrem Leben unzufrieden. Ihre widersprüchliche Beziehung wird von einem Generationen­konflikt überlagert, denn die Mutter der beiden Akademiker, die nie eine Schule besucht hatte, fühlt sich von ihnen nach zwei Schlaganfällen im Stich gelassen ...
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Kritik

André Téchiné erzählt in dem Familiendrama "Meine liebste Jahreszeit" von einem Geschwister­paar und einem Generationen­konflikt. Dabei lässt er sich viel Zeit und verzichtet auf alles Spektakuläre.
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Die Witwe Berthe (Marthe Villalonga) liegt nach einem Schlaganfall in ihrem kleinen Haus in Blagnac bei Toulouse auf dem Fußboden. Der Briefträger entdeckt sie und sorgt dafür, dass sie ins Krankenhaus gebracht wird. Nachdem sie sich im Krankenhaus einigermaßen erholt hat, nimmt ihre Tochter Emilie (Catherine Deneuve) sie bei sich und ihrer Familie auf. Emilie führt mit ihrem Ehemann Bruno (Jean-Pierre Bouvier) gemeinsam ein erfolgreiches Notariat. Das Ehepaar hat eine Tochter und einen Adoptivsohn: Anne (Chiara Mastroianni) und Lucien (Anthony Prada). Die Familie bewohnt eine Villa mit Swimmingpool, die Berthe viel zu protzig findet. Außerdem missfällt ihr, dass Emilie sich fortwährend um sie sorgt.

Erst als Berthe bereits einige Zeit bei ihrer Tochter wohnt, besucht diese ihren jüngeren Bruder Antoine (Daniel Auteuil) in dem Krankenhaus in Toulouse, in dem er als Neurochirurg arbeitet. Die Geschwister haben sich seit der Beerdigung des Vaters (Jean Bousquet) vor drei Jahren nicht gesehen. Emilie berichtet ihm vom Schlaganfall der Mutter. Daraufhin argwöhnt Antoine, seine Schwester sei nur gekommen, um die Mutter an ihn abzuschieben.

Ihrem Mann erzählt Emilie, sie habe Antoine zufällig in der Stadt getroffen und für Weihnachten zum Essen eingeladen, um der Mutter eine Freude zu machen. Bruno wundert sich darüber, denn die Geschwister gingen sich aus dem Weg, und die beiden Männer können sich nicht ausstehen.

Antoine folgt der Einladung und kommt Weihnachten zu seiner Schwester und ihrer Familie. Emilie hat auch die aus Nordafrika stammende Anwaltsgehilfin Khadija (Carmen Chaplin) eingeladen. Kurz nach Antoines Eintreffen gehen Emilie, Bruno und Anne in die Mette. Antoine bleibt zurück, und als er auf der Suche nach dem Schlafzimmer seiner Mutter im Haus herumirrt, ertappt er Lucien und Khadija nackt im Bett. Schließlich findet er Berthe. Sie äußert sogleich den Wunsch, wieder in ihr eigenes kleines Haus zurückzukehren.

Beim Weihnachtsessen erfährt Bruno durch eine Äußerung seines Schwagers, dass Emilie ihm nicht zufällig auf der Straße begegnete, sondern ihn im Krankenhaus besuchte. Die Lüge verstärkt Brunos Ärger über die Anwesenheit seines Schwagers. Als Berthe dann auch noch mit ihren Kindern und Bruno über ihr Testament reden möchte und Antoine unwirsch meint, da gebe es nichts zu regeln, sie solle einfach alles seiner Schwester vermachen, eskaliert der Konflikt zwischen Bruno und Antoine zunächst im lauten Streit und dann in einer Prügelei. Berthe hält zu ihrem Sohn und bezichtigt ihren Schwiegersohn, sie und Antoine zu verachten.

Während Bruno sich zurückzieht und von Anne umsorgt wird, erzählt Antoine seiner Schwester, er habe geträumt, dass er die Kaminuhr auf den Boden werfen würde.

Dann bringt er Berthe zum Auto und fährt weg.

In ihrer Verzweiflung schiebt Emilie die Porzellanuhr auf dem Kaminsims absichtlich so weit nach vorne, dass sie abkippt und auf dem Boden zerschellt.

Emilie überzieht das Bett ihrer Mutter neu, denn sie möchte allein schlafen. Dafür hat Bruno kein Verständnis. Er hält eine Trennung für konsequenter als getrennte Schlafzimmer. Emilie sagt, sie verabscheue, was aus ihnen geworden ist. Anne, die den Streit der Eltern belauscht, schlüpft verstört zu Khadija ins Zimmer und bittet sie, mit ihr in einem Bett schlafen zu dürfen.

Noch in der Nacht verlässt Emilie das Haus.

Im Sommer bricht Berthe beim Kirschenpflücken in ihrem Garten erneut zusammen.

Emilie verabredet sich daraufhin mit Antoine in einem Gartencafé in der Stadt. Erst jetzt erfährt er, dass seine Schwester sich von Bruno trennte und in Toulouse eine eigene Wohnung gemietet hat. Um sich seine Freude darüber nicht anmerken zu lassen, geht er zur Toilette. Als er zurückkommt, liegt Emiie am Boden, und andere Gäste stehen um sie herum. Antoine kümmert sich um sie. Offenbar erlitt sie einen Schwächeanfall.

Da sich weder Emilie noch Antoine in der Lage sehen, die Mutter bei sich aufzunehmen, beschließen die Geschwister, sie in ein Seniorenheim zu bringen.

Bevor Berthe sich von ihren Kindern ins Heim fahren lässt, tötet sie ihre Hühner und lässt die Kadaver liegen. Antoine macht einen Umweg zu einem Fluss, der früher ein Ausflugsziel der Eltern war. Dort erfüllt er sich einen Kindheitstraum, zieht sich aus und springt ins Wasser. Als Kind durfte er das nicht, weil er kränklich war.

Die Heimleiterin (Michèle Moretti) begrüßt Berthe und bringt sie in ihr Zimmer.

Emilie erzählt ihrem Bruder vom Vater. Der habe seinen Platz im Leben nicht gefunden, und ihr gehe es ebenso. Als Antoine begreift, dass seine Schwester einsam ist, besteht er darauf, dass sie bei ihm übernachtet. Er gibt ihr ein Schlafmittel und behauptet, Nachtschicht zu haben. Tatsächlich fährt er zu dem Nachtklub, in dem Lucien arbeitet. Dort trifft er auch Anne und Khadija. Anne gesteht ihm, dass sie ihr Jurastudium abgebrochen habe. Zu viert gehen sie in ein anderes Lokal. Anne weist ihren Onkel darauf hin, dass er ebenso wie Emilie und Berthe vor engen Bindungen zurückscheue.

Im Morgengrauen befürchtet Antoine, seine Schwester könne sich etwas angetan haben. Er hetzt nach Hause, befürchtet, das Bett leer und das Fenster offen vorzufinden. Aber Emilie wacht gerade erst auf.

Antoine meint, sie sollten sich von nun an täglich sehen und schlägt eine gemeinsame Wohnung vor. Da sagt Emilie, sie fürchte sich vor ihm, weil sie sich als Kinder zu nahe standen und er ungeachtet des Alters nicht erwachsen sei. Wenn Geschwister als Teenager zusammen leben, sei das normal, aber jetzt dürften sie das nicht mehr.

Emilie und Antoine werden ins Seniorenheim gerufen, weil Berthe sich weigert, ihr Zimmer zu verlassen. Der Hausordnung zufolge gibt es das Essen jedoch nur im Speisesaal. Als Berthe ihren Sohn sieht, wundert sie sich, denn sie glaubt im Fernsehen einen Bericht über einen Verkehrsunfall gesehen zu haben, bei dem er ums Leben kam. Außerdem glaubt sie, ihr Haus sei nach einem Blitzeinschlag niedergebrannt. Antoine trägt daraufhin seine Mutter zum Auto und bringt sie in das Krankenhaus, in dem er arbeitet. Bei den Untersuchungen Berthes wird ein Aneurysma im Gehirn gefunden.

Nachdem Emilie von der Diagnose erfahren hat, lässt sie sich auf einen kurzen Geschlechtsverkehr mit einem fremden Arzt oder Krankenpfleger (Roschdy Zem) ein, der ihr zum Flussufer gefolgt ist. Dann zieht sie sich in das Haus ihrer Mutter in Blagnac zurück.

Dort vermutet Antoine sie, nachdem er eine Weile nach ihr gesucht hat. Aber sie weigert sich, ihm zu öffnen. Mit einem Gartenschirm zerstößt Antoine die Scheibe einer Terrassentüre. Als er versucht, ihren Puls zu messen, schlägt sie nach ihm. Als Arzt hätte er den kritischen Gesundheitszustand der Mutter schon früher erkennen müssen, meint sie und beschuldigt ihn zornig, absichtlich nichts unternommen zu haben. Antoine gibt zu, den Gedanken an die Sterblichkeit der Mutter verdrängt zu haben. Er wirft Emilie vor, sich als Juristin hinter dem Recht zu verstecken und es ständig darauf anzulegen, ihn ins Unrecht zu setzen. Sie fühle sich nur sicher, wenn er beschämt sei. Bei dem Gespräch wird auch deutlich, dass Emilie stets eifersüchtig auf ihren jüngeren Bruder war, weil die Mutter ihn bevorzugte.

Noch am selben Abend klettert Antoine in seiner Wohnung im 2. Stock über die Balkonbrüstung, aber statt sich in die Tiefe zu stürzen, klettert er noch ein Stück weit hinab und lässt sich dann erst auf die Straße fallen. Bei dem halbherzigen Suizid-Versuch bricht er sich das rechte Bein.

Als er die Mutter mit seinem Gipsbein besucht, fühlt diese sich bestätigt: Er hatte also doch einen Unfall. Berthe, die nie eine Schule besucht hatte und Analphabetin geblieben ist, beklagt sich darüber, dass ihr Mann darauf bestand, die Kinder modern aufwachsen und studieren zu lassen. Sie bedauert, kein drittes Kind geboren zu haben, bei dem sie jetzt leben könnte.

Bald darauf stirbt sie.

Einer der Trauergäste, ein Nachbar Berthes, weist Emilie darauf hin, dass das Dach des Hauses ihrer Mutter beschädigt sei – möglicherweise durch einen Blitzschlag.

Nach der Beerdigung versammeln sich Emilie und Antoine, Bruno, Anne, Lucien und Kadijah im Garten von Berthes Haus. Khadijah sagt, sie liebe den Winter. Darauf sagt Bruno, seine liebste Jahreszeit sei der Herbst, denn er stehe für ihn seit der Schulzeit für den Beginn eines neuen Jahres und Lebensabschnittes. Außerdem habe er sich in einem Herbst in Emilie verliebt. Lucien zieht den Frühling vor, denn da fangen die Frauen an, sich leichter anzuziehen. Emilie und Antoine sind sich in ihrer Vorliebe für den Sommer einig.

Als Antoine aufbricht, rezitiert Emilie noch ein Lied, das sie heimlich im Internat aufsagte, wenn sie auf die Ferien und das Wiedersehen mit ihrem Bruder wartete.

Wo aber ist der Freund, den ich überall suche,
schon bei Tagesanbruch beginnt meine Sehnsucht zu wachsen.
Und wenn die Nacht entschwindet ist mein Rufen vergeblich.
Ich seh‘ seine Spuren, ich weiß ihn in meiner Nähe.
Ich spüre ihn überall, wo der Tau von der Erde aufsteigt,
wo eine Blume duftet und wo das goldene Korn sich wiegt.
Ich spüre ihn in der lauen Luft, die mich zärtlich streichelt,
die ich mit Wonne atme und genieße.
Und ich höre seine Stimme,
die sich mit dem Gesang des Sommers vereint.

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Im Mittelpunkt des Familiendramas „Meine liebste Jahreszeit“ von André Téchiné steht ein erwachsenes Geschwisterpaar. Das Verhältnis von Emilie und Antoine ist ambivalent. Einerseits lieben sich die beiden, andererseits schreckt Emilie nicht nur vor einer inzestuösen Beziehung zurück, sondern sie ist auch eifersüchtig auf ihren Bruder, weil dieser von der Mutter bevorzugt wurde. Während Emilie trotz ihres beruflichen Erfolges ihre Rolle im Leben ebenso wenig wie der Vater gefunden hat und darunter leidet, gibt Antoine sich als Egoist, versucht aber auch halbherzig, sich das Leben zu nehmen. Dieses komplizierte und widersprüchliche, von Kräften der Anziehung und Abstoßung, von Festhalten und Loslassen geprägte Verhältnis der beiden wird von Catherine Deneuve und Daniel Auteuil eindrucksvoll dargestellt.

In „Meine liebste Jahreszeit“ geht es aber auch um einen Generationenkonflikt, um den Gegensatz zwischen Althergebrachtem und Modernem, zwischen Land- und Stadtleben, zwischen der analphabetischen Mutter und den Kindern, die studiert haben und nun als Notarin bzw. Neurochirurg tätig sind. Der soziale Aufstieg ist allerdings unübersehbar mit einer Entwurzelung und Entfremdung verbunden.

André Téchiné erzählt die komplexe Geschichte linear und chronologisch. Nur selten fügt er eine kurze Rückblende ein. Gegliedert ist „Meine liebste Jahreszeit“ in vier Kapitel mit den Zwischentiteln „Die Abreise“, „Der Fauxpas“, „Der nächste Schritt“ und „Die Rückkehr“.

Die Inszenierung ist bewusst unspektakulär. André Téchiné lässt sich viel Zeit bei der Entwicklung des Geschehens.

Im Vorspann ist ein siamesisches Zwillingspaar auf einem Gemälde zu sehen. Es soll wohl die enge Verbundenheit der Geschwister Emilie und Antoine symbolisieren.

Bei Chiara Mastroianni handelt es sich übrigens um die Tochter von Catherine Deneuve und Marcello Mastroianni.

„Meine liebste Jahreszeit“ wurde am 14. Mai 1993 als Eröffnungsfilm der Internationalen Filmfestspiele von Cannes uraufgeführt und galt als Favorit auf die „Goldene Palme“, aber der Preis wurde für „Lebewohl, meine Konkubine“ und „Das Piano“ vergeben. Ähnlich erging es „Meine liebste Jahreszeit“ bei der Verleihung des „César“ 1994. Obwohl der Film in sieben Kategorien nominiert war (Film, Drehbuch, Regie, Hauptdarsteller Daniel Auteuil, Hauptdarstellerin Catherine Deneuve, Nebendarstellerin Marthe Villalonga und Nachwuchsdarstellerin Chiara Mastroianni), ging er leer aus.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2013

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