Jürgen Theobaldy : Rückvergütung

Rückvergütung
Rückvergütung Originalausgabe: Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2015 ISBN: 978-3-88423-491-4, 160 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der wegen einer Unregelmäßigkeit ent­las­sene Buchhalter Thomas Renner wird nach einem überraschend kurzen Bewerbungs­gespräch von der Krankenversicherung Corsa eingestellt. Nachdem ihm aufgefallen ist, dass keiner der 2658 Senioren, deren Versicherungsverträge die Corsa von einem Außendienstler übernommen hat, eine Rechnung einreicht, weiht ihn der Direktor in das Geheimnis ein: Die nur auf dem Papier existierenden Rentner dienen dazu, die Vergütungen aus dem Risiko­aus­gleichs­fonds zu maximieren ...
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Kritik

Der Roman "Rückvergütung" lässt sich als Satire oder Wirtschafts-Thril­ler lesen, denn Jürgen Theobaldy balanciert zwischen Ernst und Tragi­komik. Gerade, weil er jede Effekthascherei vermeidet, gewinnt man beim Lesen den Eindruck, dass es sich bei dem Betrug nicht um einen Einzelfall handelt.
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Renners neuer Job

Als der Buchhalter Martin Lüthi im Alter von 53 Jahren gegen Ende seines Urlaubs in einer Autobahn-Raststätte bei Luzern tot zusammenbricht, muss die Schweizer Krankenkasse Corsa in Veltwil rasch einen Nachfolger finden. Der Direktor Roman Muhrer und sein Stellvertreter Rudolf Iseli entscheiden sich für den Arbeitslosen Thomas Renner. Der wundert sich darüber, dass in dem flüchtien Bewerbungs­gespräch kaum Fragen über seine kürzliche Entlassung gestellt wurden. Dem Bank­angestellten war gekündigt worden, weil er für einen Bekannten eine Sicherungs­übereignung vordatiert hatte.

Renner ist froh über den neuen Job, denn er muss den Lebensunterhalt für sich, seine Frau Sofie und den kleinen Sohn Marco verdienen.

Im Fernsehen sieht er seinen neuen Chef Muhrer in einer Gesprächsrunde zum Thema „Überalterung und ihre Folgen für die sozialen Einrichtungen“. Der Direktor der Corsa weist auf den hohen Anteil von Senioren unter den Versicherten seines Unternehmens hin und wirft den anderen Krankenkassen polemisch vor, sie seien nicht für die Menschen da, sondern nur auf eine Ertragsmaximierung ausgerichtet.

„Sie steuern mit Ihrem geschäftlichen Modell ganz auf die junge, von modischen Sportarten, Freizeitkicks und schadstoffarmer Ernährung besessene Klientel zu […], auf unsere unbeirrbaren Nichtraucher, unsere Abstinenzler, die frühmorgens durch den Stadtwald keuchen oder am Fluss entlang hecheln. Das ist Ihr Ziel- und Lieblingspublikum. Von ein paar Sport- und Autounfällen abgesehen, verursachen diese jungen Leute auf Jahrzehnte hinaus keine nennenswerten Kosten.“

Bei einer Grillparty Iselis lernt Renner kurz den Außendienst-Versicherungsmakler Adrian Wernige kennen. Der hat Corsa 2658 Kunden überantwortet, und weil es sich dabei ausschließlich um Senioren handelt, erhält die Corsa jedes Jahr Millionen aus dem Risikoausgleichsfonds der Schweizer Krankenversicherungen.

Bald fällt Renner auf, dass keiner dieser Pensionäre eine Rechnung für einen Arztbesuch, ein Medikament oder eine Reha-Maßnahme einreicht. Um der Sache nachzugehen, besorgt er sich Werniges Adresse. Aber der Versicherungsmakler antwortet nicht auf Mails, und als Renner die angegebene Telefonnummer anruft, heißt es: „Kein Anschluss unter dieser Nummer.“

Affäre mit der Ehefrau des Chefs

Am zweiten Advent besucht Renner ein Orgelkonzert. Sofie bleibt mit dem Kind zu Hause. In der Kirche trifft Renner auf Direktor Muhrer und dessen sehr viel jüngere attraktive Ehefrau Jeannine, die sich neben ihn setzt – und während des Konzerts ihren Oberschenkel an seinen drückt. Später findet er in seiner Tasche ein Kärtchen mit einem aufgemalten Herzen und ihrer Telefonnummer.

Wie soll er reagieren? Falls er nicht auf das Angebot einginge, könnte sie sich gekränkt fühlen und ihren Mann aus Rache dazu bringen, ihn unter einem Vorwand zu entlassen. Nachdem er sich in einem Café mit zwei Gläsern Cinzano Mut angetrunken hat, ruft er sie an. Wie von ihr vorgeschlagen, treffen sie sich während seiner Mittagspause in einem vom Hotel „Metropol“ für power naps angebotenen Zimmer.

Kreative Buchführung

Am dritten Adventssonntag lässt Muhrer den Buchhalter rufen. Wernige sei spurlos verschwunden, behauptet der Direktor. Corsa werde jedoch die 2658 Versiche­rungs­verträge behalten. Renner erhält die Aufgabe, die von Wernige über­nom­mene Kundenkartei zu pflegen und begreift zugleich, dass die Versiche­rungs­nehmer nur auf dem Papier existieren. Damit der Betrug den Kontrollbehörden nicht auffällt, erwartet die Geschäftsleitung von Renner, dass er Krank­heiten und Kosten in Maßen erfindet. Die ergaunerten Summen aus dem Risiko­aus­gleichs­fonds – gut acht Millionen pro Jahr – ermöglichen es der Corsa, mit ihren Prämien die der Wettbewerber zu unterbieten und ihnen Mitglieder abzuwerben. Ein Drittel der Gesamtsumme leiten Muhrer und Iseli auf private Geheimkonten um, und dem Buchhalter gestehen sie für seine Beteiligung einen Anteil zu.

Renner eröffnet dafür ein separates Bankkonto, von dem nicht einmal seine Frau etwas erfährt.

Mit der Digitalisierung der 2658 von Wernige übernommenen Dossiers wird das Unternehmen „Streitz Memory“ der Herren Streit und Reitz beauftragt. Wernige wohnte angeblich bei Reitz in Schaffhausen, und Iseli hatte vor seinem Wechsel zur Corsa als Revisor von „Reitz Consulting“ die Jahresabschlüsse der Krankenversicherung geprüft.

Sündenbock

Im Frühjahr unterrichten Muhrer und Iseli ihren Buchhalter über ein Problem: Viele Deutsche arbeiten als Grenzgänger bei Schweizer Firmen und sind in der Schweiz krankenversichert, auch bei der Corsa. Wernige habe sich um sie gekümmert, behaupten Muhrer und Iseli. Offenbar sei jedoch versäumt worden, sie dem Fonds für den Risikoausgleich zu melden. Selbstverständlich habe man das nicht getan, um mehr Geld zu bekommen, sondern ein Programmierungs­fehler sei die Ursache für die Unterlassung gewesen. Corsa werde auf jeden Fall etwa drei Millionen nachzahlen müssen. Die Geschäftsleitung erwartet von Renner, dass er die Selbstanzeige und die Nachmeldung übernimmt.

„Einen Rüffel der Geschäftsleitung müssen Sie hinnehmen, eine Rüge“, sagte Muhrer. „Offiziell. Sie verstehen. Am Vorgehen der Geschäftsleitung darf es nichts zu beanstanden geben.“

Einige Zeit später gibt der Direktor dem Buchhalter zu verstehen, dass er von der Affäre seiner Ehefrau mit ihm wisse, Jeannine jedoch freie Hand lasse.

„Betrachten Sie es nicht als ein Entgegenkommen meinerseits, wenn ich weder meiner Frau noch Ihnen gegenüber … ich will nicht von Maßnahmen sprechen … sagen wir mal, wenn ich jedes Eingreifen, jeden Gegendruck unterlassen habe.“

Bei dieser Gelegenheit verrät Muhrer auch, warum Renner eingestellt wurde:

„Pre-employment-screening. Ein Blitzauftrag für ein Beratungsunternehmen, man kann auch sagen: eine Detektei. Und einen Tag später sind uns die Daten Ihrer beruflichen Laufbahn vorgelegen, um einiges ausführlicher als von Ihnen angegeben. Sie hören, Herr Renner. Ein Angestellter, der einen befreundeten Banker stützt, und das mit Methoden, die eine arbeitsrechtliche Sanktion wie eine fristlose Kündigung rechtfertigen, sowas nenne ich Loyalität.“

Beim nächsten Treffen während Renners Mittagspause im Hotelzimmer bleibt Jeannine angekleidet. Sie erwähnt, dass sie von der Forderung, Frauen nicht zum Sexualobjekt zu machen, nichts hält:

„Ich finde das zum Lachen. Denn ich fühle mich nicht als Objekt, ich bin das Subjekt jeder Begierde.“

Unvermittelt beendet sie die Affäre. Renner argwöhnt inzwischen, dass der gemeinsame Konzertbesuch im Advent kein Zufall gewesen sei. Vermutlich verführte ihn Jeannine im Auftrag ihres Mannes, um ihn noch stärker in dessen Machenschaften zu verstricken.


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


 

Spoiler

Die notorisch unterbesetzte Revisionsstelle, also die landesweite Aufsicht über die Krankenkassen in der Schweiz, will ihr Personal aufstocken und die Anzahl der Kontrollen wenigstens verdoppeln. Deshalb erklärt Muhrer dem Buchhalter, dass alle 2658 von Wernige übernommenen Versicherungsverträge bis zum Jahresende verschwinden müssen.

Aber die Aufsichtsbehörde schöpft bereits vor der Personalaufstockung Verdacht, denn es fällt auf, dass in „48 Monaten oder 1461 Tagen und Nächten, Schaltjahr inklusive“ kein einziger der hochbetagten 2658 Versicherten starb. Daran hat Renner ebenso wenig wie sein Vorgänger Lüthi beim Umgang mit den Karteileichen gedacht.

Bevor er festgenommen wird, kontaktiert Jeannine auch noch seine Frau und verrät ihr, dass sie eine Affäre mit ihm hatte. Sofie zieht mit dem Kind aus, ohne ihm eine neue Adresse anzugeben.

Beim Gerichtsprozess glaubt Renner, es sei alles klar, und das Beweisverfahren bringt zunächst auch keine Überraschung. Aber dann legen die Muhrer bzw. Iseli verteidigenden Rechtsanwälte Braun und Wyss los. Sie stellen den Buchhalter als einzig Schuldigen dar.

„Unsere Mandanten machen mit Nachdruck geltend, dass sie von Unstimmigkeiten im buchhalterischen Verfahren nichts mitbekommen konnten. Sie haben nie an der Echtheit der Dossiers gezweifelt, die der verstorbene Martin Lüthi drei Jahre lang geführt hat und die dann von Herrn Renner übernommen wurden. Sie haben nicht den geringsten Anlass zu irgendwelchen Zweifeln gehabt.“

Renner wird zu drei Jahren Haft verurteilt.

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In dem Roman „Rückvergütung“ prangert Jürgen Theobaldy (*1944) kriminelle Vorgänge in der Wirtschaft an. Die fiktive Schweizer Krankenversicherung Corsa dient dabei nur als Beispiel. Ähnliches hätte Jürgen Theobaldy vor den Kulissen einer Bank, eines Auto- oder IT-Konzerns erzählen können. Das Muster wäre stets das Gleiche: Die Geschäfts­leitung, die von Abhängigen Gesetzes­verstöße erwartet, weiß von nichts, wenn die Sache auffliegt. In „Rückvergütung“ ist es der Buchhalter Thomas Renner, der von Anfang an als Sündenbock aufgebaut wird. Und aus dessen subjektiver Perspektive entwickelt Jürgen Theobaldy die Handlung.

Man kann den Roman „Rückvergütung“ als Satire oder Wirtschafts-Thriller lesen, denn Jürgen Theobaldy balanciert zwischen Tragikomik und Ernsthaftigkeit. Er vermeidet jede Effekthascherei. Gerade, weil der Betrug des Unternehmens unspektakulär aussieht, gewinnt man beim Lesen den Eindruck, dass es sich nicht um einen Einzelfall handelt.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2017
Textauszüge: © Verlag Das Wunderhorn

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Judith Hermann lädt das Sterben in "Alice" nicht pathetisch mit Sinn auf, sondern stellt es als banalen Vorgang im Alltagsleben dar. Dem-entsprechend evoziert das Lesen dieser leisen, radikal reduzierten Erzählungen auch keine Emotionen.
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