Szczepan Twardoch : Drach

Drach
Originalausgabe: Drach Wydawnictwo Literackie, Krakau 2014 Drach Übersetzung: Olaf Kühl Rowohlt Verlag, Reinbek 2016 ISBN: 978-3-87134-822-8, 412 Seiten ISBN: 978-3-644-12141-6 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Die mit dem 1898 geborenen Gruben­arbeiter Josef Magnor beginnende und mit seinem 81 Jahre jüngeren Urenkel Nikodem Gemander, einem Stararchitekten, endende Handlung spielt in Schlesien, einem zu dieser Zeit zwischen Slawen und Preußen, Polen und Deutschen umstrittenen, mehrsprachigen Gebiet. "Drach" dreht sich um die Identitätssuche der Schlesier, um Nationalismus, Fanatismus und die Verführbarkeit durch Ideologien. Außerdem geht es um Liebe, Erotik und Sexualität in verschiedenen Formen ...
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Kritik

In dem fulminanten, virtuos gestal­te­ten Roman "Drach" erzählt Szczepan Twardoch eine schlesische Familien­geschichte über vier Generationen. Die Erde als allwissende Erzählerin, Präsens, Zeitsprünge, Schleifen und Parallel­montagen evozieren den Eindruck von Gleichzeitigkeit.
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Josef – manche nennen ihn Zeflik – ist acht Jahre alt, als sein Vater Wilhelm Magnor 1906 den Metzger Erwin Golla mit dessen Gesellen Hanys Grychtoll zum Schweineschlachten auf seinen Hof in Deutsch Zernitz kommen lässt. (Im Mai 1921 wird sich Hanys Grychtoll, der seinen Namen inzwischen polnisch schreibt – Grychtoł – für die Misshandlungen durch den alkoholkranken Metzgermeister rächen.)

Den Geschmack von Wurstsuppe hat der Musketier Josef Magnor auf der Zunge, als er 1915 in einem Güterwaggon nach Nordfrankreich in den Krieg fährt. Er kämpft in der nach der Kapelle Notre-Dame de Lorette benannten Lorettoschlacht, die trotz zahlreicher Toter weder für die eine noch die andere Seite einen Vorteil bringt. Seine Einheit wird von dem homosexuellen Leutnant Friedrich Ritter von Barnekow befehligt. Während einer Kampfpause lässt Josef sich von dem Gefreiten Piskula zu einem Besuch im Armeebordell in Lens überreden, aber in der trostlosen Umgebung läuft die Sanduhr der Hure ab, ohne dass er auch nur zu einer Erektion kommt. Nach Einsätzen bei Verdun, bei Artois und an der Somme wird Josef Magnor zum Gefreiten befördert. 1918 kehrt er nach Schlesien zurück und fängt als Untertage-Tischler in der Kohlegrube zu arbeiten an.

Im Juni 1919 heiratet er in der Kirche von Żernica Valeska Biela / Bielówna, die ein Jahr lang als Dienstmädchen am Hof des schlesischen Adeligen Franz von Raczek in Preiswitz war. Weil dessen Ehefrau Emma, eine Breslauer Schau­spielerin, ihn und die drei Töchter 1902 wegen eines gescheiterten Malers verlassen hatte, wurden die Töchter Marie, Maggie und Dolores von der Gouvernante Elisabeth Thamm erzogen.

Valeskas Mutter stirbt zwei Monate nach der Hochzeit ihrer Tochter an einem Lungentumor. Bei der Beerdigung ist Valeska bereits schwanger, und bald nach der Geburt ihres Sohnes Ernst kommt ihr Halbbruder Richat Biela zur Welt, denn ihr Vater hat rasch eine andere Frau gefunden.

Josef und Valeska mieten das Parterre eines Hauses in Nieborowitz. Dort bleibt Valeska, als Josef am 29. Juni 1919 – zwei Wochen nach der Hochzeit – zur Kirmes nach Gleiwitz fährt. Auf der Kirmes erkennt er die inzwischen 15-jährige Caroline Ebersbach wieder, mit der er auf der Kirmes im Jahr zuvor ein paar Worte wechselte. Dolores Ebersbach, die ihre Tochter begleitet, weist ihn zurecht, als er Caroline anspricht.

Vor dem Krieg wäre Josef […] wie ein begossener Pudel abgezogen, mit roten Ohren und zitternden Knien.
Jetzt aber ist nach dem Krieg, und Josef ist in diesem Krieg gewesen. […] Zweimal hat Josef einem Menschen das Bajonett in den Bauch gerammt. Josef hat Stapel von Leichen gesehen.

Josef blafft die Frau an:

„Maul halten, verdammtes Weib, mit dir rede ich nicht!“

Caroline sieht Josef Magnor mit sprachloser Begeisterung an. Sie erlebt zum ersten Mal, dass jemand sich ihrer Mutter widersetzt. Dolores Ebersbach packt ihre Tochter am Handgelenk und zerrt sie fort, aber das Mädchen reißt sich los, und flüstert dem sechs Jahre Älteren zu:

„Kreidelstraße 23. Komm morgen, in der Nacht. Das Balkonfenster, das mit Blick auf den Park.“

Dolores Ebersbach liebte den Mann, der Caroline 1903 zeugte, aber er erwiderte ihre Gefühle nicht, sondern schlich sich nur heimlich durch den Dienst­boten­eingang zu ihr, um mit ihr zu kopulieren. Caroline ahnt davon nichts; sie hält den Ehemann ihrer Mutter für ihren Vater, und Reinhold Ebersbach weiß es auch nicht besser. Dolores hasst ihren Ehemann und weigert sich seit langem, mit ihm zu schlafen. 1903 duldete sie es ein letztes Mal, und auch das nur, damit sie ihm einreden konnte, er habe sie geschwängert.

Reinhold Ebersbachs Intelligenz macht ihm klar, dass das Kind nicht von ihm ist. Die Regeln des gesellschaftlichen Miteinander suggerieren, dass das nicht möglich sei, weil Dolores Ebersbach eine Dame ist und zu solch einer Schandtat nicht fähig.

Im Alter von 14 Jahren führte Caroline die Hand ihres fünf Jahre älteren Klavierlehrers Hans Kletschka unter ihren Rock und legte sie auf ihre Unterwäsche mit offenem Schritt, aber der schüchterne junge Mann sprang erschrocken auf.

Der Herr Klavierlehrer liebt Caroline […], aber er liebt sie nicht so sehr, um sein Leben für sie zu geben, geschweige auf das wöchentliche Einkommen zu verzichten.

Der Zeichenlehrer Heinrich Lamla wies die Schülerin nicht zurück. Weil sein linkes Bein zwei Zentimeter kürzer als das rechte ist, brauchte er keinen Kriegsdienst zu leisten. Die Ausmusterung zwang ihn allerdings dazu, serienmäßig Frauen zu verführen, um sich selbst und der Welt zu beweisen, dass er ein richtiger Mann sei. Also kletterte er am 18. Mai 1918 am Fallrohr der Dachrinne der Villa in der Kreidelstraße 23 in Gleiwitz hinauf und entjungferte seine 14-jährige Schülerin. Nach einem Jahr beendete er die Affäre. Das war am Tag, bevor Caroline und Josef sich auf der Kirmes wiedererkannten.

Caroline wartet bereits am Fenster, als Josef zu ihr kommt. Sie ist 15, er 21. Am nächsten Morgen kehrt er zu seiner Frau nach Nieborowitz zurück, aber er hat sich in Caroline verliebt. Sechzehn Mal schläft Josef Magnor in den nächsten beiden Jahren mit Caroline. Auch die Nacht, in der sein Sohn Ernst geboren wird, verbringt er mit der Geliebten.

Im September 1921 sucht der 1902 in Nieborowitzer Hammer geborene August Lomania Zuflucht bei Josef und Valeska Magnor, die inzwischen Zwillinge erwarten. Weil er im Mai bei einem Angriff auf Schönwald (Bojkow) mitmachte, dessen Bürger sich am 20. März bei einer Volksabstimmung mit überwältigender Mehrheit für den Verbleib im Deutschen Reich entschieden hatten, wird er jetzt von drei Schönwaldern gejagt, von Heinz Gillner, Helmut Bielke und Leo Grois. Weder August Lomania noch die Magnors ahnen, dass ihn der alte Josef Pindur, dessen Vater noch Frondienst auf den Gütern des Grafen von Wengersky geleistet hatte, ins Haus gehen sah. Am nächsten Tag erfährt Heinz Gillner es von dem verrückten Greis. Valeska sieht ihn und seine beiden Kumpane durchs Küchenfenster. Josef öffnet die Tür. Heinz Gillner hält einen Revolver in der Hand. Er räuspert sich, aber bevor er dazu kommt, etwas zu sagen, schießt Josef mit einer Pistole ohne Vorwarnung, und die Männer aus Schönwald flüchten.

Einige Zeit später wird Josef Magnor von Kazek Widuk / Kasimir Widuch zum Schweineschlachten nach Preiswitz eingeladen. Dafür hat Heinz Gillner dem Wirtssohn einen Batzen Geld zugesteckt. Sobald Josef eingetroffen ist, schickt Widuch seinen achtjährigen Sohn Lucek nach Schönwald.

„[…] lauf resch nach Scheenwald, zu Gillner, un sag ihm nur so viel, sie mechten kennen losgehen.“

Sobald sie die Nachricht erhalten haben, fahren Gillner, Grois und Bielke mit geborgten Fahrrädern nach Nieborowice und treten die Tür der Magnors ein. August Lomania versucht sich mit einem Küchenmesser zu wehren, aber er hat keine Chance.

Der Unterkiefer birst, die Jochbeine bersten, der linke Augapfel läuft aus, die Stirnhöhlen von August Lomania bröckeln. Jetzt plötzlich schnappt er Luft. Mit dem rechten Auge sieht er, wie der Knüppel auf seinen Kopf niedersaust.

Um August Lomania zu rächen, führt Josef Magnor eine Gruppe von 23 be­waff­neten Männern nach Schönwald. Er zerrt Heinz Gillner aus dem Haus und wirft ihn zu Boden. Da taucht ein alter Schönwalder mit vier Mädchen auf, von denen August Lomania drei geschwängert hat. Das veranlasst Josef Magnor, Heinz Gillner nur mit einem Gewehrkolben den Unterkiefer zu zertrümmern, statt ihn zu töten, obwohl er weiß, dass er damit einiges an Respekt einbüßt.

Am 20. September 1921 trinkt er mit Czoik, dem mutigsten seiner Kameraden, in Widuchs Schenke Bier. Czoik heißt mit Vornamen Adalbert, aber alle nennen ihn nur Czoik, und das bleibt auch so, als er später seinen Vornamen in Wojciech ändert. Ohne etwas von Josef Magnors Gefühlen für Caroline Ebersbach zu ahnen, kolportiert Czoik das Gerücht, in Gleiwitz wohne ein Mädchen, das leicht zu haben sei.

„So ein Freelein. Matcha aus gutem Hause, reiche Secke, aber die kann jeder fegeln. Sie wohnt am Park, du klopfst, und sie guckt aus dem Fenster, ob du ihr gefellst, und wenn ja, dann lesst sie dich rein und fegelt mit dir. […] Und Franz hat mir gesagt, du brauchst nicht mal Deutsch zu loabern, solche Jungs wie wir, aus der Grube, fegeln sie auch. Nicht nur Schiler“, redet Czoik weiter und nimmt einen Schluck vom Bier.

Daraufhin fährt Josef nach Gleiwitz und wirft sein Rad ins Gebüsch. In Carolines Zimmer brennt Licht. Er klettert die Regenrinne hoch. Caroline weigert sich, ihm das Fenster zu öffnen, aber er bricht es auf.

Caroline ist entsetzt, denn da passiert etwas, über das sie keine Kontrolle hat in einem Bereich, in dem sie gewöhnlich die absolute Kontrolle hat.
Josef klettert ins Zimmer. Er weiß nicht, was tun.
„Was ist das für ein Lärm?“, fragt Dolores Ebersbach hinter der verriegelten Tür.
„Ach, nichts weiter, hab nur das Fenster geöffnet“, antwortet Caroline ohne Zögern und lässt Josef nicht aus den Augen.

Außer mit Heinrich Lamla und Josef Magnor hat Caroline zweimal mit ihrem siebzehnjährigen Cousin Maurus Federspiel geschlafen, und an diesem Abend erwartet sie den 42-jährigen, aus dem Rheinland stammenden Infanterie­hauptmann Helmut Rahn, dem es beim ersten Versuch wegen einer ausbleibenden Erektion nicht gelang, sie zu penetrieren. Die 17-Jährige hofft, Josef werde sie rasch nehmen und wieder fort sein, bevor Helmut Rahn eintrifft. Josef wirft sie aufs Bett, dringt in sie ein – und erwürgt sie während der Kopulation.

Als der Infanteriehauptmann am Fenster auftaucht, tötet Josef ihn durch einen Kopfschuss. Helmut Rahn stürzt ins Stiefmütterchenbeet.

Während Josef unbemerkt das Haus verlässt, drückt Dolores Ebersbach im Beisein ihres Mannes die Tür ihrer Tochter ein.

Bei der Obduktion der Ermordeten stellt der Arzt fest, dass Caroline in der achten Woche schwanger war. Dolores klärt Reinhold gehässig darüber auf, dass Caroline nicht seine leibliche Tochter war und will ihn mit einem Revolver erschießen. Weil sie jedoch weder von der Existenz noch von der Funktion des Sicherungshebels etwas weiß, klickt es nur. Reinhold Ebersbach nimmt ihr die Waffe aus der Hand und ohrfeigt sie dann so heftig, dass sie hinfällt. Anschließend verlässt er das Haus für immer.

Josef Magnor fährt mit dem Rad von Gleiwitz zu Czoik nach Przyszowice.

„Hab das Matcha umgebracht […]. Weil du von ihr geloabert hast. Dass man zu ihr gehen und sie feagan konnte.“

Wojciech Czoik versteckt Josef Magnor in einem Stollen des Kohlebergwerks Delbrück und versorgt ihn dort mit Essen, Wasser, Wodka und Äther. Valeska sagt er, ihr Mann müsse sich aus politischen Gründen verborgen halten.

Als Reinhold Ebersbach in Berlin das Geld ausgeht, überfällt er einen Tabakhändler. Aber er wird ohnehin steckbrieflich gesucht, weil der Verdacht besteht, dass er Caroline missbraucht und den Infanteriehauptmann Helmut Rahn aus Eifersucht erschossen habe. Bevor er verhaftet werden kann, wird er im Auftrag des beraubten Tabakhändlers zusammengeschlagen und stirbt am 26. Dezember 1921 an einer Lungenembolie.

Dolores Ebersbach zieht nach Breslau und wohnt dort bei ihrer Schwester, bis sie 1937 an einer Angina stirbt.

Nach einigen Wochen wird Josef Magnor von Czoik aus dem Bergwerk geholt und nach Rybnik in die Provinzial-Irrenanstalt gebracht. Valeska Magnor unterschreibt den Antrag auf die Entmündigung ihres Ehemanns, und Czoik übernimmt die Kosten der Unterbringung in der Einrichtung, in der auch der alte Josef Pindur lebt, seit er splitternackt aus dem Wald in die Siedlung Orzupowitz kam und Edeltrauta Pikulik sich seiner annahm.

Valeska bringt die Zwillinge Alfred und Elfrieda („Frida“) zur Welt. Czoik vermittelt ihr Arbeit in Widuchs Schenke und bringt sie und die Kinder in Gierałtowice unter. 1937 fährt er mit seiner Frau Luisa und der 12-jährigen Tochter Gela, Valeska, Ernst, Alfred und Elfrieda zu einen von der Grenzwacht in Knurów organisierten Ferienaufenthalt nach Gdynia.

Am 7. Oktober 1939 will Wojciech Czoik sich kurz von Frau und Tochter verab­schieden und sich dann über Rumänien nach Frankreich durchschlagen, um gegen die verhassten Deutschen zu kämpfen, aber ein Nachbar verrät ihn, und der 44-Jährige wird abgeführt. Er stirbt später im Konzentrationslager Mauthausen.

Im Januar 1945 gehört die 19-jährige Gela Czoik zu den Flüchtlingen an Bord des Walfängers „Walter Rau“, der von Gdynia nach Eckernförde fährt, während ein anderes Flüchtlingsschiff, die „Wilhelm Gustloff“, von einem sowjetischen U-Boot versenkt wird.

Im Februar sieht sie Dresden brennen [Bombardierung Dresdens].

Noch im selben Jahr heiraten Gela Czoik und der sechs Jahre ältere Ernst Magnor in der steinernen Kirche von Przyszowice.

Nachdem am 6. September 1939 Hauptsturmführer Hans Wilcke, ein promovierter Arzt, die Irrenanstalt in Rybnik übernommen hatte, wurden viele der Insassen getötet. Im Januar 1945 verschwinden die Deutschen. Josef Magnor geht durch das offene Tor hinaus. Unterwegs greifen ihn marodierende Soldaten auf, die sich Beute erhoffen. Auf der Suche nach Valeska trifft er auf seinen Sohn Ernst, der ihn selbstverständlich nicht erkennt.

Ernst kann sich denken, wo seine Mutter ist, aber er sagt das dem bärtigen, zahnlosen und abgerissenen Kerl in Walonkas nicht, auch wenn der Schläsch redet. „Ist nich da. Irgendwo hingeganga.“

Als Nächstes führt Josef die Marodeure zu Czoik. Er weiß ja nicht, dass dieser im Konzentrationslager Mauthausen umgekommen ist. Die Witwe Luisa Czoik versteckt sich mit Valeska Magnor, anderen Frauen und einigen Kindern auf dem Dachboden. „Rauskommen! Weiber, rauskommen!“, schreit einer der Marodeure und droht damit, das Haus anzuzünden. Ein anderer streckt Josef mit einer Gewehrsalve nieder. Valeska öffnet die Luke und klettert über die Leiter in die Stube hinunter. Der Marodeur Michail Schelikow packt sie im Nacken, stößt sie in den Schnee und vergewaltigt sie vor den Augen ihres sterbenden Mannes.

Valeska wird Josef erst 1989 im Alter von 92 Jahren ins Grab folgen.

Valeska Magnor öffnet die Augen nicht mehr. Sie denkt daran, wie kurz sie ihren Mann hatte und wie sehr sie ihn dafür hasst. Zwei Jahre – und danach das ganze Leben allein, achtundsechzig lange, beschissene Jahre allein.

Josefs Enkelin Natalia Magnor, die Tochter von Ernst und Gela, wird später die Ehefrau von Stanisław Gemander. Dessen Eltern Melania und Joachim Gemander heirateten im Frühjahr 1944. Dann zog Joachim Gemander in den Krieg und kämpfte für die Deutschen. Im Winter 1946 kehrt er aus der Gefangenschaft zurück, sieht erstmals seinen Sohn Peter / Pyjter und zeugt einen weiteren: Stanisław. Als er 1951 an Tetanus stirbt, sind die Söhne sieben bzw. vier Jahre alt.

Stanisław Gemander arbeitet nicht im Kohlebergwerk Delbrück wie sein Vater, sondern studiert Polonistik und zieht nach Krakau. Sein 1979 von Melania geborener Sohn Nikodem wird Architekt. Nikodem Gemander und seine Frau Katarzyna („Kaśka“, geborene Pawla) bekommen 2008 eine Tochter. Als Weronika fünf Jahre alt ist, trennt sich Nikodem von seiner Familie, und Kaśka erklärt ihrer Tochter:

„Papa ist weggegangen, weil er dich nicht mehr liebt. Er mag dieses Fräulein lieber, mit dem er jetzt wohnt.“

Der polnische Stararchitekt überlässt seiner Ehefrau die selbst entworfene Villa, für die er in Barcelona mit dem Mies-van-der-Rohe-Preis ausgezeichnet wird, und wohnt mit seiner 24-jährigen Geliebten Dorota in einer 42 Quadratmeter großen Plattenbau-Wohnung in Katowice.

Ein Jahr später erfährt Nikodem Gemander, dass Kaśka unheilbar an Eier­stock­krebs erkrankt ist. Er will zwar nicht zu ihr zurückkehren, aber die Affäre mit Dorota beenden, um für seine Tochter und deren sterbende Mutter sorgen zu können. Dorota argwöhnt, dass Kaśka gar nicht so krank sei und ihren Mann zurück haben wolle. Sie zieht ihren Slip aus und fordert Nikodem auf, ihr ein Kind zu machen.

„Spritz in mir ab und mach mir ein Kind …“
„Jetzt lass mal, Liebes …“, brummt Nikodem erschrocken.

Nach dem Ende seiner Affäre mit Dorota will Nikodem seine Tochter am 28. Juli 2014 zu sich holen. Er hat bereits auf dem Balkon eine Flasche Wein getrunken, als ihm einfällt, dass er Weronika im Auto vergaß. Zum Glück ist sie im Kindersitz eingenickt. Er bringt sie mit dem Lift in die 10. Etage und ins Bett, trinkt noch eine zweite Flasche Wein und schluckt zwei Xanax, um schlafen zu können.

Als er am Morgen auf dem Sofa aufwacht, sucht er vergeblich nach Weronika. Schließlich tritt er durch die offene Tür auf den Balkon. Unter ihm stehen Schaulustige und ein Rettungsfahrzeug. Als er begreift, was geschehen ist, geht er zum Waffenschrank, aber er hat die Zahlenkombination des Schlosses vergessen.

Die Polizisten versuchen, mit Nikodem zu reden, doch das gelingt nicht, jemand erkennt ihn, sie gehen in die Wohnung, rufen bei Kaska Gemander an, ein Krankenwagen nimmt Nikodem Gemander mit und bringt ihn in das Spital für Nerven- und psychisch Kranke in Rybnik.

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In seinem fulminanten Roman „Drach“ erzählt Szczepan Twardoch die Geschichte einer fiktiven schlesischen Familie im 20. Jahrhundert, genauer: von 1906 bis 2014. Sie beginnt mit dem 1898 geborenen Josef Magnor und endet mit seinem 81 Jahre jüngeren Urenkel Nikodem Gemander, überspannt also vier Generationen: Josef Magnor und Valeska Biela, Ernst Magnor und Gela Czoik, Natalia Magnor und Stanislaw Gemander, Nikodem Gemander und Katarzyna Pawla. Szczepan Twardoch beschränkt sich jedoch nicht auf diese und andere Familienangehörige, sondern führt eine Vielzahl von Nebenfiguren ein. Und er führt uns nicht chronologisch durch das weitverzweigte Geschehen, sondern springt ständig hin und her. Davon geben schon die aus Jahreszahlen bestehenden Kapitelüberschriften einen Eindruck, auch wenn die Daten da noch geordnet sind, z. B.:

1433, 1883, 1906, 1919, 1921, 1934, 1935, 1939, 1942, 1943, 1944, 1945, 1946, 1951, 1961, 1973, 1989, 1993, 1994, 1999, 2000, 2001, 2002, 2003, 2004, 2009, 2012, 2013, 2014

Um den Eindruck von Gleichzeitigkeit bzw. Zeitlosigkeit zu evozieren, lässt Szczepan Twardoch die personifizierte Erde als allwissende Erzählerin auftreten, die immer wieder ähnlich wie in den beiden folgenden Beispielen formuliert:

[…] zur gleichen Zeit, nur dreiundneunzig Jahre früher […]

[…] zur gleichen Zeit fünfunddreißig Jahre später […]

Präsens, Schleifen, Wiederholungen und Parallelmontagen verstärken den Eindruck von Gleichzeitigkeit, so zum Beispiel die brutale Vergewaltigung einer Soldatenwitwe durch den Kriegsinvaliden Kloska und den Kutscher Mucha, die Szczepan Twardoch mit der Jagd eines Rudels wilder Hunde auf zwei Rehe verknüpft.

Baum und Mensch und Reh sind das Gleiche. So ist unser Dasein auf dieser Erde. Das Gleiche.

An diese Aussage des verrückten alten Josef Pindur erinnert sich Josef Magnor 1918 im Wehrmachtszug von der Leie nach Niederschlesien. An anderer Stelle sagt Pindur übrigens einen Satz, aus dem der Titel des Romans stammt:

„Die Erde ist ein so großer Drach, dem kriechen mer über seinen Leib.“

Die Handlung von „Drach“ spielt in Schlesien, einem zu dieser Zeit zwischen Slawen und Preußen, Polen und Deutschen umstrittenen Gebiet. Die Protagonisten sprechen denn auch Polnisch, Deutsch oder Schlesisch (Wasserpolnisch). Dazu der Übersetzer Olaf Kühl:

Im polnischen Originaltext finden sich – neben deutschen Wörtern und Idiomen – Ausdrücke und Sätze im oberschlesischen Dialekt. Um diese Sprachfarbe zu erhalten, wurden die entsprechenden Passagen dort, wo es möglich war, in das dem Deutschen nähere Niederschlesische übertragen.

„Drach“ dreht sich um die Identitätssuche der Schlesier, um Nationalismus, Fanatismus und die Verführbarkeit durch Ideologien. Außerdem geht es um Liebe, Erotik und Sexualität in verschiedenen Formen.

Zwischendurch zitiert Szczepan Twardoch in „Drach“ andere Schriftsteller, zum Beispiel das Gedicht „Ostpreußische Nächte“ von Alexander Solschenizyn.

Er geht bis zu den Hussitenkriegen im Jahr 1433 zurück. An anderer Stelle lässt Szczepan Twardoch die Erde vom Herero-Aufstand berichten, von dem deutschen General Lothar von Trotha, der die nach ihrer militärischen Niederlage in der Schlacht am Waterberg am 11. August 1904 in die Omaheke-Wüste geflohenen Schwarzen absichtlich verdursten ließ und damit den ersten Genozid des 20. Jahrhunderts befahl. Andere historische Tatsachen werden in „Drach“ ebenfalls aufgegriffen, so das Feuer im Kinosaal der Stadtgartenhalle in der Klosterstraße in Gleiwitz im Jahr 1919, bei dem 76 Kinder umkamen, und die Explosion von 4500 Tonnen Dünger im Stickstoffwerk der BASF in Oppau am 21. September 1921, bei der fast 600 Menschen starben.

Ob es für die mehrmals in „Drach“ auftretende Romanfigur Friedrich von Barnekow ein Vorbild gibt, weiß ich nicht. Nicht erfunden ist jedenfalls der SA-Ober­gruppen­führer Edmund Heines, der Polizeichef von Breslau, mit dem Friedrich von Barnekow eine homosexuelle Orgie feiert, bei der auch Kokain geschnupft wird. Edmund Heines war wegen seiner Grausamkeit und seiner Homosexualität aufgefallen. Im Zuge der Zerschlagung der SA („Röhm-Putsch“) wurde Edmund Heines am 30. Juni 1934, drei Wochen vor seinem 37. Geburtstag, im Gefängnis München-Stadelheim erschossen.

Auf Fakten basiert auch eine Passage über eine amerikanische Schülerin, die während des Abschlussballs in der Toilette niederkommt. Die 19-jährige Melissa Drexler, deren Schwangerschaft unbemerkt blieb, gebar kurz nach der Ankunft auf dem Ball am 6. Juni 1997 in Lacey Township/New Jersey ein Kind, durchtrennte die Nabelschnur, packte das Baby in einen Plastikbeutel und warf diesen in einen Abfallbehälter. Danach kehrte sie zu den anderen zurück, aß einen Salat und tanzte. Nachdem das tote Kind gefunden worden war, verurteilte ein Gericht Melissa Drexler zu 15 Jahren Haft, von denen sie 37 Monate verbüßte.

Szczepan Twardoch hat den ebenso trostlosen wie vielschichtigen Roman „Drach“ virtuos gestaltet und mit überbordender Fabulierlust und sprachlichem Furor so konkret und detailreich wie in einem Film inszeniert. Beim Lesen dieses überwältigenden Buches kommt man außer Atem.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2016
Textauszüge: © Rowohlt Verlag

Szczepan Twardoch: Morphin

Christian Oelemann - Nur raus damit!
In der Rolle des jugendlichen Protagonisten erzählt Christian Oelemann flott und humorvoll, aber ohne Effekthascherei. "Nur raus damit!" ist kein verklemmtes Jugendbuch, in dem mit erhobenem Zeigefinger belehrt wird.
Nur raus damit!