Mario Vargas Llosa : Lob der Stiefmutter

Lob der Stiefmutter
Originalausgabe: Elogio de la madrastra, 1988 Lob der Stiefmutter Übersetzung: Elke Wehr Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 1989 ISBN 3-518-40205-6, 195 Seiten Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt/M 2005 ISBN 3-518-45723-3, 195 Seiten Süddeutsche Zeitung / Bibliothek, Band 100, München 2008, 173 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Doña Lukrezia, die seit vier Monaten mit dem Witwer Don Rigoberto verheiratet ist, erhält von ihrem zehnjährigen Stiefsohn Alfonsito einen liebevollen Brief zu ihrem 40. Geburtstag. Irritierend findet sie, wie häufig und wie stürmisch Alfonsito sie umhalst. Als sie erfährt, dass der Junge sie heimlich beim Baden beobachtet, sagt sie zwar nichts, geht aber auf Distanz zu ihm. Alfonsito reagiert darauf mit einer Selbstmord-Drohung ...
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Kritik

"Lob der Stiefmutter" ist ein elegant komponierter, ausgesprochen witziger und unterhaltsamer Roman von Mario Vargas Llosa, der sich dafür zwei unerwartete perfide Schlusspointen ausgedacht hat.
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Doña Lukrezia, deren erste Ehe geschieden wurde, ist seit vier Monaten in Lima mit Don Rigoberto verheiratet, dem verwitweten Geschäftsführer der Versicherungsgesellschaft „La Perricholi“. Zu ihrem vierzigsten Geburtstag erhält sie von ihrem zehnjährigen Stiefsohn Alfonso einen liebevollen Brief. Erleichtert atmet sie auf, denn sie hatte befürchtet, der Junge werde sie nicht als Stiefmutter akzeptieren. Rigoberto ist noch im Bad, wo er jeden Abend vor dem Liebesspiel ein halbstündiges Reinigungsritual durchführt. Obwohl Lukrezia bereits im Nachthemd ist, geht sie noch schnell hinüber zu Alfonso, um sich für den Geburtstagsbrief zu bedanken. Sie merkt, wie er verwirrt auf ihren Oberkörper starrt: Im Überschwang der Gefühle hat sie vergessen, in ihren Morgenrock zu schlüpfen, und unter dem Seidenhemd ist sie nackt. Er habe sie sehr lieb, flüstert Alfonsito, umhalst seine Stiefmutter und küsst sie stürmisch.

„Ich hab dich sehr lieb, Stiefmutter“, flüsterte die kleine Stimme an ihrem Ohr. Doña Lukrezia fühlte schmale Lippen, die vor ihrem Ohrläppchen innehielten, es mit ihrem Atem wärmten, es küssten und spielerisch an ihm knabberten […] Das Herz ging ihr über vor Rührung. Und dabei hatten ihr die Freundinnen prophezeit, dass dieser Stiefsohn das größte Hindernis sein würde, dass sie seinethalben mit Rigoberto niemals glücklich werden könnte. Bewegt küsste auch sie ihn, auf die Wangen, auf die Stirn, auf das zerwühlte Haar […] „Hast du mich wirklich sehr lieb?“, fragte sie […] Doña Lukrezia spürte kleine rasche Küsse auf der Stirn, auf den Augen, auf den Augenbrauen, auf der Wange, auf dem Kinn … Als die schmalen Lippen die ihren streiften, presste sie verwirrt die Zähne aufeinander. Wusste Fonchito, was er da tat? (Seite 13f)

Als Doña Lukrezia ins Schlafzimmer zurückgeht, spürt sie, dass sie feucht geworden ist. Wie konnte die unschuldige Zärtlichkeit des Kindes sie erregen? Sie schämt sich.

Wie jeden Abend nach dem Reinigungsritual ihres Ehemanns soll Lukrezia raten, welche Rolle Rigoberto sich für das Liebesspiel ausgedacht hat. Dieses Mal ist er Kandaules, der König von Lydien.

Einige Tage später fragt Justiniana, die mit dem Pförtner eines Restaurants, einem athletischen Schwarzen verheiratete Zofe, ob Doña Lukrezia gemerkt habe, dass Alfonsito schwärmerisch in sie verliebt sei. Sie macht die Dame des Hauses darauf aufmerksam, dass sie im Bad heimlich von dem Zehnjährigen durch die Glaskuppel beobachtet werde. Lukrezia hält es für das Klügste, zu schweigen und gegenüber ihrem Stiefsohn ein wenig auf Distanz zu achten.

Als Alfonsito an diesem Nachmittag von der Schule nach Hause kam und auf sie zuging, um ihr einen Kuss zu geben, wandte sie sogleich das Gesicht von ihm ab und vertiefte sich wieder in die Zeitschrift, die sie gerade durchblätterte. (Seite 51)

Am Abend nimmt sie ein Bad. Justiniana bringt ihr ein Handtuch und warnt sie unauffällig vor dem Jungen, der wieder auf dem Dach sei. Lukrezia überlegt, ob sie schreien soll, aber sie will nicht, dass Alfonsito erschrickt und vom Dach fällt.

Plötzlich erhob sie sich. Ohne sich mit dem Handtuch zu verhüllen, ohne sich zusammenzuducken, damit diese kleinen unsichtbaren Augen ihren Körper nur unvollständig und flüchtig zu Gesicht bekämen […] Und als sie aus der Badewanne gestiegen war, zog sie sich nicht sogleich den Morgenmantel an, sondern verharrte nackt, den Körper mit glänzenden Wassertröpfchen bedeckt, gespannt, kühn, zornig. Sie trocknete sich ganz langsam ab, Glied für Glied, ließ das Handtuch wieder und wieder über ihre Haut gleiten […] Und mit der gleichen manischen Umständlichkeit rieb sie danach ihren Körper mit feuchtigkeitsspendenden Cremes ein. Und während sie sich in dieser Weise vor dem unsichtbaren Beobachter produzierte, bebte ihr Herz vor Zorn. Was tust du, Lukrezia? […] Aber sie fuhr fort, sich zur Schau zu stellen, wie sie es noch niemals für jemanden getan hatte. (Seite 52f)

Lukrezia stellt sich vor, die griechische Jagdgöttin Diana zu sein und nach dem Bad beim Liebesspiel mit ihrer lesbischen Favoritin Justiniana von dem kindlichen Ziegenhirten Foncín aus einem Versteck belauert zu werden.

Auch in den nächsten Tagen hält Doña Lukrezia ihren Stiefsohn auf Abstand. Dann teilt Justiniana ihr besorgt mit, Alfonsito sei deshalb so unglücklich, dass er sich das Leben nehmen wolle [Suizid]. Um den Jungen davon abzubringen, eilt Lukrezia sofort zu ihm. Weinend schmiegt er sich an seine Stiefmutter.

Als der Mund des Kindes den ihren suchte, verweigerte sie ihn nicht. Sie schloss halb die Augen, ließ sich küssen und erwiderte seinen Kuss. (Seite 97)

Doña Lukrezia lässt es geschehen, dass Alfonsitos Zunge ihren Mund erkundet, und sie schiebt auch die Hand nicht weg, die sie auf einer ihrer Brüste spürt.

Bedeutete Kindheit dieses Gemisch aus Tugend und Laster, Sünde und Heiligkeit? (Seite 126)

Während Don Rigoberto, der Geschäftsführer einer Versicherungsgesellschaft ist, eine mehrtägige Geschäftsreise unternimmt, schläft Lukrezia mit dem Zehnjährigen.

Seitdem sie und das Kind sich zum ersten Mal geliebt hatten, waren ihre Skrupel und Schuldgefühle verschwunden. (Seite 123)

Verwundert beobachtet Lukrezia, dass Alfonso seinem Vater trotzdem ohne die geringste Verlegenheit begegnet und offenbar keine Schuldgefühle verspürt. Don Rigoberto nimmt keinen Schaden, denn sein Sohn liebt ihn nicht weniger als bisher, und Lukrezia fühlt sich durch die inzestuöse Beziehung verjüngt und wird durch die Liebkosungen ihres Ehemanns noch intensiver erregt als zuvor.

Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.

Eines Tages, als Lukrezia bei einer Freundin ist, betrachtet Don Rigoberto seinen Sohn wieder einmal voller Stolz: Es ist ein guter Junge, höflich, gehorsam und mit hervorragenden schulischen Leistungen.

Ein Cherub, ein süßer Fratz, ein Erzengel wie auf den Heiligenbildchen zur Erstkommunion. (Seite 143)

Unvermittelt fragt Alfonsito:

„Papa, was heißt eigentlich Orgasmus?“ (Seite 143)

Don Rigoberto täuscht zunächst einen Hustenanfall vor, dann fragt er, woher Alfonso das Wort kenne.

„Ich hab es von meiner Stiefmutter gehört […]
Sie hat mir gesagt, dass sie einen wunderschönen Orgasmus gehabt hat.“ (Seite 144)

Weiht Lukrezia ihrem Stiefsohn in Intimitäten aus ihrem Schlafzimmer ein? Don Rigoberto kann es sich nicht vorstellen. Vermutlich handelt es sich um die Hirngespinste eines Kindes, das bald in die Pubertät kommt. Da ist es besser, das Thema zu wechseln. Also fragt Don Rigoberto nach den Hausaufgaben. Er habe nur einen Aufsatz schreiben müssen, antwortet Alfonso, und das habe er bereits getan. „Lob der Stiefmutter“ heißt der von ihm gewählte Titel, und er holt eifrig das Schulheft, damit sein Vater lesen kann, was er geschrieben hat. Don Rigoberto ist seltsam zumute.

Warum erfasste ihn jetzt die angstvolle Ahnung, dass ein Abgrund sich vor seinen Füßen auftat? (Seite 147)

Als er den Aufsatz gelesen hat, ruft er empört:

„Bist du verrückt geworden, mein Kleiner? Wie konntest du solche unanständigen Ferkeleien erfinden?“ (Seite 149)

Das Kind beteuert jedoch, nichts als die Wahrheit geschrieben zu haben.

Ein paar Wochen später fragt Justiniana den Jungen, ob er keine Gewissensbisse habe.

„Gewissensbisse?“, sagte die kristallklare Stimme erstaunt. „Weswegen?“
[…] „Ich rede von Doña Lukrezia, du kleiner Teufel, und du weißt das ganz genau, also tu nicht so“, sagte sie. „Tut es dir nicht leid, was du ihr angetan hast?“
„Ach, von ihr“, rief das Kind enttäuscht, als erschiene ihm das Thema allzu naheliegend und langweilig. Es zuckte die Schultern und fügte ohne Zaudern hinzu. „Warum sollte es mir leid tun?“ […]
„Du hast es geschafft, dass dein Vater sie wie einen Hund aus dem Haus gejagt hat“, murmelte sie matt […] (Seite 163f)

Ob Alfonso alles von Anfang an geplant habe, möchte Justiniana wissen, und insgeheim denkt sie, es sei nicht ratsam, sich den Jungen zum Feind zu machen oder ihn auch nur zu provozieren.

„Hast du das alles für Doña Eloisa getan? Weil du nicht wolltest, dass jemand deine Mutter ersetzt? Weil du es nicht ertragen konntest, dass Doña Lukrezia ihren Platz hier im Haus eingenommen hatte?“ […]
„Ich hab’s für dich getan, Justita“, hörte sie ihn mit samtener, zärtlicher Stimme flüstern. „Nicht für meine Mama. Damit sie weggeht und wir allein sind, mein Papa, du und ich. Ich hab dich nämlich …“
Das Mädchen spürte, wie sich überraschend der Mund des Kindes auf ihren presste.
„Mein Gott, mein Gott.“ Sie befreite sich aus seinen Armen, stieß es fort, schüttelte es ab. Während sie aus dem Zimmer stolperte, rieb sie sich den Mund und bekreuzigte sich. (Seite 169)

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„Lob der Stiefmutter“ ist ein elegant komponierter, ausgesprochen witziger und unterhaltsamer Roman von Mario Vargas Llosa. Die rasant erzählte Handlung ist zwar nicht unbedingt realistisch, aber sie fesselt von der ersten bis zur letzten Seite, zunächst durch Erotik, Komik, Ironie und am Ende durch zwei unerwartete perfide Volten, die Mario Vargas Llosa von Anfang an sorgfältig vorbereitet hat.

Unter dem Titel „Die geheimen Aufzeichnungen des Don Rigoberto“ veröffentlichte Mario Vargas Llosa 1997 eine Fortsetzung. Auch in dem Roman „Ein diskreter Held“ (2013) tauchen die Figuren Don Rigoberto, Lukrezia (Lucrecia) und Alfonso (Fonchito) wieder auf.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2008
Textauszüge: © Suhrkamp Verlag

Mario Vargas Llosa (Kurzbiografie)

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