Tanguy Viel : Selbstjustiz

Selbstjustiz
Originalausgabe: Article 353 du code pénal Les Éditions de Minuit, Paris 2017 Selbstjustiz Übersetzung: Hinrich Schmidt-Henkel Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2017 ISBN: 978-3-8031-3290-1, 168 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Sechs Jahre nachdem Antoine Lazenee auf eine bretonische Halbinsel gekommen war, den Bewohnern einen Aufschwung durch Touristen versprochen und ihnen 30 Apart­ments einer geplanten Ferienanlage ver­kauft hatte, glaubte keiner der Geldgeber noch an eine Realisierung des Projekts. Der arbeitslose Facharbeiter Martial Kermeur, der seine Abfindung investiert und einen Kredit aufgenommen hatte, ertränkte den Betrüger. Nun steht er vor dem Richter und berichtet, wie es dazu kam ...
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Kritik

Der mit­reißen­de Roman "Selbstjustiz" dreht sich nicht um die Aufklärung einer Tat, sondern um die Hinter­grün­de bzw. Vor­ge­schich­te. Dabei geht Tanguy Viel in die Tiefe und benötigt nicht mehr als das minimalistische Setup eines Zwei-Personen-Theater­stücks.
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Martial Kermeurs Vorgeschichte

Als die Marinebasis in Brest 1990 geschlossen wird, ist der Facharbeiter Martial Kermeur einer der Bewohner der bretonischen Halbinsel Plougastel, die ihren Arbeitsplatz verlieren. Früher hatte er sich in der sozialistischen Fraktion des Gemeinderats von Plougastel-Daoulas engagiert, aber er zog sich zurück, damit er sich besser um seinen 1981 geborenen Sohn Erwan kümmern konnte.

Als Erwan sieben Jahre alt war, fuhr der Vater mit ihm eine Runde mit dem Riesenrad auf einem Rummelplatz. Sobald die Kabine wieder unten war, sprang Kermeur heraus, um den Jungen beim Aussteigen zu helfen. Aber das Riesenrad setzte sich erneut in Bewegung. Statt sofort loszulassen, klammerte sich Kermeur an das Gestänge und drohte abzustürzen. Erst als er 20 Meter über dem Boden hing, wurde der Betreiber auf ihn aufmerksam und drehte das Riesenrad in die andere Richtung.

Zehn Jahre lang versuchte Kermeur es Woche für Woche mit den gleichen Lotto-Zahlen. Als sie dann gezogen wurden und auch die Zusatzzahl stimmte, hatte er vergessen, den Schein abzugeben.

Einige Zeit später verließ ihn seine Ehefrau France und zog zu ihrem Liebhaber.

Antoine Lazenees Projekt

1992 kommt ein gewiefter Geschäftsmann namens Antoine Lazenee auf die Halbinsel.

Diese Sorte Mensch, sagte ich zum Richter, so einen hätte man, wären wir in einem Dorf in den Bergen oder sagen wir eher im Wilden Westen vor hundert Jahren, den hätte man sicher kommen sehen, vielleicht zu Fuß beim Betreten der Stadt oder zu Pferde, wie er am Anfang der Hauptstraße stehen bleibt, vom Postamt oder dem Saloon aus hätte man den jedenfalls gesehen, und dann hätte man auch bald gewusst, mit was für einer Sorte man es da zu tun hatte. Und Sie, sagte ich zum Richter, vor hundert Jahren, da wären Sie vielleicht eher Sheriff gewesen, in der Tasche nicht Ihr auswendig gelerntes Strafgesetzbuch, sondern ein Revolver oder so was in der Art, weil damals Recht und Gewalt noch nicht vollkommen getrennt waren, falls man sagen kann, dass sie das mittlerweile sind, und falls man sagen kann, dass das tatsächlich so gut ist, weil mittlerweile Gewalt und auch Brutalität sehr gut gelernt haben, wie man sich verkleidet.

Lazenee kauft von der Gemeinde ein als „Schloss“ bezeichnetes altes Gebäude und den dazu gehörigen Park. Der Bürgermeister Martial Le Goff legt ihm ans Herz, Martial Kermeur und dessen knapp elfjährigen Sohn weiter im 45 Quadratmeter großen Gärtnerhaus am Eingang des Parks wohnen zu lassen.

Die regionalen Unternehmer wittern lukrative Aufträge, als Lazenee seine Pläne vorstellt, mit einem Seebad den Tourismus auf der Halbinsel zu fördern. Im Rathaus präsentiert er schließlich ein drei mal vier Meter großes Modell der Halbinsel mit der „Residenz Goldener Sand“ auf dem Gelände des Parks. Auf Provisionsbasis tätige Vertreter schwärmen wie Zeugen Jehovas aus, um Kaufverträge für die Apartments der geplanten Ferienanlage abzuschließen. Auf einem Schild steht: „Hier entsteht demnächst das bretonische Saint Tropez“.

Desillusionierung

Kermeur und sein Sohn haben Jahreskarten für das Fußballstadion in Brest, allerdings nur für Stehplätze im Freien. Als Lazenee von Erwans Begeisterung für Fußball erfährt, nimmt er den Elfjährigen im Porsche mit nach Brest und dann auch in die VIP-Loge.

Von den 400 000 Francs, die Kermeur schließlich wegen der Schließung der Marinebasis als Abfindung erhält, will er sich ein Merry-Fisher-Motorboot kaufen. Arglos erzählt er es Lazenee. Der erfährt auf diese Weise außerdem, dass Kermeur nicht der Einzige ist, dem eine Abfindung ausbezahlt wird. Da ist also noch viel mehr Geld zu holen!

Beiläufig und scheinbar ohne Hintergedanken schwärmt Lazenee in Gesprächen mit Kermeur von seinem Bauprojekt. Wenn erst einmal die Touristen kämen, sagt er, würden die Immobilienpreise kräftig steigen. Wer also jetzt eines der geplanten Apartments kaufe, könne mit einem deutlichen Wertzuwachs rechnen. Geduldig und behutsam pflanzt er Kermeur die Gedanken ein – bis dieser schließlich für 512 000 Francs eines der 30 zukünftigen Apartments erwirbt, den notariellen Vertrag unterschreibt und für den fehlenden Betrag einen Kredit aufnimmt.

Das „Schloss“ wird abgerissen, und Bulldozer verwandeln den Park in eine Schlammlandschaft. Aber Kermeur, der das alles durchs Fenster des Häuschens beobachtet, wartet vergeblich auf die Ankunft von Lastwagen mit Baumaterial. Die Lieferanten seien unzuverlässig, erklärt Lazenee, wenn er darauf angesprochen wird. Im dritten Jahr behauptet er, dass sich einzelne Genehmigungsverfahren noch hinzögen. Das sei nicht ungewöhnlich, versichert er zugleich. Die Leute beginnen an ihm zu zweifeln, doch weil er auf der Halbinsel bleibt und nicht, wie befürchtet, mit dem Geld verschwindet, glauben sie weiter an das Projekt. Kermeur verschweigt sogar dem Bürgermeister Le Goff, dass er zu den Investoren gehört, denn als Sozialist schämt er sich dafür. Leider lässt sich das Geschehen nicht wie das Riesenrad zurückdrehen.

Lazenee kauft sich ein Merry-Fisher-Motorboot, genau das Modell, von dem Kermeur träumt, das dieser sich jedoch aufgrund der Investition nicht mehr leisten kann.


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


1998

Martial Le Goff muss immer häufiger von seiner Frau Catherine aus dem Pub geholt werden. 1998 kommt er betrunken zu Kermeur. Er weiß inzwischen von dessen Investition. Aber der Grund für seine Verzweiflung ist ein anderer: Er hat für die Gemeinde zehn Apartments der „Residenz Goldener Sand“ erworben und Lazenee dafür 5 Millionen Francs bezahlt. Weil er inzwischen nicht mehr an die Realisierung des Bauvorhabens glaubt, wirft er sich vor, die Gemeinde trotz bester Absichten in den Ruin getrieben zu haben.

Noch am selben Abend erschießt er sich mit einem Jagdgewehr.

Nach dem Suizid des Bürgermeisters erwartet Erwan von seinem Vater, dass dieser etwas gegen den Betrüger unternimmt, aber Martial Kermeur hält das für sinnlos. Daraufhin schleicht der 17-Jährige um Mitternacht zum Anleger und löst im Sturm die Taue, mit denen Lazenees Merry Fisher vertäut ist. Danach macht er auch noch andere Yachten los. Im Morgengrauen liegt ein Trümmerhaufen von 30 Wracks am Strand.

Wegen Vandalismus wird Erwan zu zwei Jahren Jugendgefängnis verurteilt.

Lazenee kauft sich kurzerhand ein neues Motorboot.

Einige Zeit später überrascht er den Vater des Häftlings mit einem Besuch, versichert, nicht nachtragend zu sein und lädt ihn zu einem Angelausflug ein.

Kermeur nutzt die Gelegenheit, um Lazenee über Bord zu schubsen.

[…] ein Typ, ins kalte Wasser gefallen, der mühsam versuchte, in Kleidern zu schwimmen, der keuchend immer wieder meinen Namen rief, damit ich ihm zu Hilfe kam: Kermeur, Scheiße, kommen Sie, Kermeur, was soll der Scheiß. Und er benutzte noch Wörter wie „verdammt noch mal“, „sind Sie wahnsinnig“, „das können Sie nicht tun“, offenbar dachte er, damit könne er mich umstimmen. […]
Dann ging ich in die Führerkabine und schob den Gashebel vor […]

Kermeur kehrt in den Hafen zurück und tut so, als sei nichts geschehen. Als er ein paar Stunden später verhaftet wird, wehrt er sich nicht.

Am nächsten Tag steht er vor dem Richter und folgt dessen Aufforderung, alles von Anfang an zu erzählen.

Kermeur meint, er habe zwar einen Betrüger beseitigt, aber nicht das Gefühl, ein Mörder zu sein.

Der Richter fragt, ob Lazenees Sturz ins Wasser nicht ein Unfall gewesen sein könnte. Kermeur antwortet, dagegen spreche schon, dass er weder die Seenotrettung noch jemanden im Hafen alarmiert habe. Daraufhin liest ihm der Richter liest den Paragraph 353 der Strafprozessordnung vor:

Das Gesetz […] gibt ihm [dem Richter] auf, in Stille und Sammlung sein Gewissen zu erforschen und danach zu befragen, welchen Eindruck die gegen den Angeklagten vorgebrachten und zu seiner Verteidigung vorgelegten Beweise auf seine Urteilskraft gemacht haben. Das Gesetz stellt ihm nur eine einzige Frage, aus der das Ausmaß seiner Pflichten deutlich wird: Sind Sie innerlich zutiefst überzeugt?

Am Ende bleibt der Richter dabei:

„[…] ein Unfall, Kermeur, ein bedauerlicher Unfall.“

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Gleich zu Beginn des Romans „Selbstjustiz“ von Tanguy Viel ertränkt der Ich-Erzähler Martial Kermeur einen Mann. Es geht also nicht um die Aufklärung eines Verbrechens, wie in einem Thriller, sondern um die Hintergründe der Tat. Und damit setzt sich Tanguy Viel in „Selbstjustiz“ intensiv auseinander.

Weil in „Selbstjustiz“ ein Betrüger ein großes Bauprojekt vortäuscht, um den Leuten möglichst viel Geld aus der Tasche zu ziehen, lässt sich der Roman auch als Kritik am Kapitalismus lesen. So oder so ist es eine eindrucksvolle und mitreißende Lektüre.

Im Grunde handelt es sich um eine einfache Geschichte, aber Tanguy Viel geht in die Tiefe. Dafür benötigt er nicht mehr als das minimalistische Setup eines Kammerspiels: Der Ich-Erzähler steht am Tag nach der Tat als Angeklagter vor dem Untersuchungsrichter und berichtet, was geschah und wie es dazu kam. Die beiden sind allein. Hin und wieder hören wir den Richter, aber zumeist redet der Ich-Erzähler, der sich aufrichtig für sein Tun verantwortet. Dem entspricht die von Tanguy Viel für „Selbstjustiz“ gewählte Sprache, die sich an der gesprochenen orientiert und Kermeurs nachdenkliche Erklärungsversuche spiegelt.

Ob die Schlusswendung realistisch und moralisch überzeugend ist, müssen die Leserinnen und Leser selbst entscheiden. Immerhin hält Tanguy Viel den im Wortlaut zitierten Paragraph 353 der französischen Strafprozessordnung für so wichtig, dass „Article 353 du code pénal“ als Originaltitel gewählt wurde. In der am 10. August 2011 modifizierten Form lautet er:

Sous réserve de l’exigence de motivation de la décision, la loi ne demande pas compte à chacun des juges et jurés composant la cour d’assises des moyens par lesquels ils se sont convaincus, elle ne leur prescrit pas de règles desquelles ils doivent faire particulièrement dépendre la plénitude et la suffisance d’une preuve ; elle leur prescrit de s’interroger eux-mêmes dans le silence et le recueillement et de chercher, dans la sincérité de leur conscience, quelle impression ont faite, sur leur raison, les preuves rapportées contre l’accusé, et les moyens de sa défense. La loi ne leur fait que cette seule question, qui renferme toute la mesure de leurs devoirs: „Avez-vous une intime conviction?“

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2017
Textauszüge: © Verlag Klaus Wagenbach

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