Tanguy Viel : Das Verschwinden des Jim Sullivan

Das Verschwinden des Jim Sullivan
Originalausgabe: La disparation de Jim Sullivan Les Éditions de Minuit, Paris 2013 Das Verschwinden des Jim Sullivan.Ein amerikanischer Roman Übersetzung: Hinrich Schmidt-Henkel Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2014 ISBN: 978-3-8031-3264-2, 128 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der Ich-Erzähler, ein französischer Buch­autor, schrieb einen amerikanischen Roman. Protagonist ist Dwayne Koster, ein – wie könnte es in einem amerikanischen Roman anders sein – nicht mehr ganz junger geschiedener Literaturprofessor. Der franzö­sische Schriftsteller mag zwar keine Rück­blenden, hält sie jedoch für ein unverzicht­bares Attribut amerikanischer Romane und erzählt, wie Dwaynes holländische Vorfahren nach Neu-Amsterdam kamen. Die eigent­liche Geschichte beginnt mit dem Scheitern von Dwaynes Ehe ...
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Kritik

Das originelle Spiel mit Klischees, viele witzige Einfälle und ein gelungener Aufbau machen "Das Verschwinden des Jim Sullivan", Tanguy Viels Persiflage auf einen amerikanischenr Roman, zu einem besonderen Lesevergnügen.
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Der Ich-Erzähler, ein französischer Buchautor, schrieb einen amerikanischen Roman. Als Schauplatz wählte er Detroit. In amerikanischen Romanen ist der Protagonist in der Regel nicht mehr ganz jung und geschieden. So ist es auch in dem Roman des französischen Schriftstellers.

Das ist die erste Szene meines Buchs, ein Mann sitzt in einem weißen Wagen da, bei abgestelltem Motor, in winterlicher Kälte, in der sich allmählich die Requisiten seines Lebens abzeichnen: eine Whiskyflasche auf dem Beifahrersitz, zerdrückte Zigaretten im vollen Aschenbecher, auf der Rückbank verschiedene Zeitschriften (selbstverständlich eine Anglerzeitschrift, selbstverständlich eine Baseballzeitschrift), im Kofferraum ein Exemplar von Walden und außerdem ein Hockeyschläger.
Hinter dem Steuer seines Dodge sitzend, hält er den Blick unverwandt auf die erleuchteten Fenster eines Hauses gerichtet, auf dessen Briefkasten der Name Fraser zu lesen ist, noch weiß man nicht, dass das der Name seiner Exfrau ist, mithin weiß man auch noch nicht, was das für ihn bedeutet, für Dwayne Koster, hier im beginnenden Abend zu sitzen, wenn auch mit hinreichenden Indizien von Nervosität, um zu begreifen, dass er es nicht gleichgültig tat.

Zu erwähnen ist auch noch, dass Dwayne Koster sein Lieblingsalbum von Jim Sullivan laufen lässt, während er durch die Autoscheibe auf das Haus starrt. Es heißt „U. F. O.“ Vor Jahrzehnten verschwand Jim Sullivan unter mysteriösen Umständen in der Wüste von New Mexico. Er hatte sich im März 1975 in San Diego von seiner Frau und seinem Sohn verabschiedet, hatte ihnen versprochen, sie so bald wie möglich nach Nashville/Tennessee nachzuholen und war losgefahren. Nach einer Übernachtung in Santa Rosa fuhr er ein Stück weit in die Wüste. Dort fand man später seinen VW Käfer, aber von dem Gitarristen fehlte jede Spur, und es gibt auch keine Leiche. Einer Spekulation zufolge wurde Jim Sullivan von Außerirdischen entführt.

Vor dem Schreiben hatte der französische Autor auch über andere Möglichkeiten des Einstiegs nachgedacht.

Offen gestanden habe ich längere Zeit mit dem Gedanken gespielt, mein Buch würde so beginnen, mit diesem großen Abendessen, das alle Figuren zusammenführen und eine wahre Vorstellung von Amerika geben würde, denn mehrere Romane, die ich gelesen hatte, fingen genau so an, mit einer großen Szene, in der nichts geschieht, die es aber ermöglicht, alle einmal vorzustellen.

Von Rückblenden hält der Franzose nicht viel, aber er ist der Ansicht, dass es unmöglich sei, in einem amerikanischen Roman auf Flashbacks zu verzichten. Er berichtet deshalb, wie sich Johannes Hendrick Koster, der Spross einer reichen holländischen Tuchhändlerfamilie, 1637 durch Tulpenspekulationen ruinierte und 15 Jahre später mit seiner Frau nach Neu-Amsterdam auswanderte. Von diesem Paar stammen alle amerikanischen Kosters ab.

Dwayne wurde in Florida geboren, aber im Juni 1962 zogen seine Eltern Donald und Moll mit ihm nach Norden.

Ich schrieb in meinem Roman nicht all das. Ich stellte einfach nur Porträts meiner Figuren zusammen, um sie besser zu verstehen, inklusive ganz und gar nebensächlicher Figuren. Ich legte Steckbriefe an. So erfuhr ich einiges über Johannes Koster. So erfuhr ich Details über [Dwaynes Großmutter] Abigail. So erfuhr ich beispielsweise, dass Dwaynes Vater Demokrat war. und so entdeckte ich außerdem beispielsweise, dass Moll Koster, Dwaynes Mutter, einen Liebhaber hatte […]

Als kleiner Junge sah und hörte Dwayne am 22. November 1963 im Fernsehen das Attentat auf John F. Kennedy in Dallas. Um seiner Mutter die Nachricht zu überbringen, rannte er nach oben und stürzte ohne anzuklopfen in ihr Schlafzimmer – wo er sie mit einem Mann im Bett ertappte, der nicht sein Vater war.

1975 lernte Dwayne im Yachtclub von Norton Shores durch seinen Onkel Lee Matthews seine spätere Ehefrau Susan Fraser kennen.

Doch nein, jetzt ist noch nicht der Moment gekommen, um über Lee Matthews zu sprechen, denn er trat erst viel später in die Handlung ein, wie es in solchen Büchern eben Brauch ist, manche Figuren treten erst sehr spät in die Handlung ein.

Ich bin zwar nicht so sehr dafür, das Äußere von Romanfiguren zu beschreiben, aber Susans schwarze Augen muss ich einfach erwähnen.

Ich bin zu spät geboren, um noch an der Punkbewegung teilzuhaben, aber gleich zu Beginn hielt ich es für eine gute Idee, wenn eine der Figuren eine Punkjugend in Detroit haben und vielleicht die Liebe ihres Lebens bei einem Konzert von Iggy Pop kennenlernen und dann, mit den Jahren etwas braver geworden, ihre Hochzeitsreise zu den Niagarafällen machen würde.

Ihren ersten Kuss wechselten Dwayne und Susan am 23. März 1977 bei Iggy Pops legendärem Konzert im Masonic Temple in Detroit. Die Flitterwoche verbrachten sie an den Niagarafällen. Da konnte Susan noch nicht ahnen, dass sie die Eheschließung 20 Jahre später bereuen würde. Erst einmal brachte sie zwei Kinder zur Welt: Tim und Dorothy.

Dass Dwayne zu viel trank, führte er auf das Trauma des Vietnam-Kriegs zurück. Allerdings hatte Richard Nixon den Krieg beendet, als Dwayne gerade ins Flugzeug gestiegen war, und seine schlimmsten Erinnerungen betreffen deshalb die Zeit im Ausbildungscamp in Ohio.

Dwayne promovierte über den Einfluss von Moby Dick auf den zeitgenössischen Roman und wurde Professor für amerikanische Literatur an der University of Michigan in Ann Arbor.

Eines Tages bekam er einen neuen Kollegen: Alex Dennis aus Minnesota. Der zog mit seiner Freundin Kimberley dann auch noch in eines der Nachbarhäuser. Dwayne und sein Freund Ralph Amberson forderten ihn schließlich auf, sich an einer ihrer regelmäßigen Pokerrunden zu beteiligen. In Absprache mit Susan hatte Dwayne sich dafür ein Limit in Höhe von 50 Dollar gesetzt. Aber nachdem er die 50 Dollar dieses Abends an Alex Dennis verloren hatte, wollte er sie wiederhaben, und dazu musste er weitere Beträge setzen. Am Ende verlor er 400 Dollar an den neuen Nachbarn. Susan schämte sich für ihren Mann und wagte sich wegen der Leute kaum noch zum Einkaufen. Ralph sprach den Gewinner darauf an, und Alex ging zu den Kosters hinüber, um sich zu entschuldigen und die 400 Dollar zurückzubringen. Dwayne war nicht zu Hause. Eine Stunde nachdem Alex geklingelt hatte, lag er mit Susan nackt im Bett. Aber als er am nächsten Tag erneut vorbeikam, hatte Susan sich besonnen und beendete die Affäre bevor sie richtig in Gang gekommen war.

Während Susan ihrem Mann nach dem einmaligen Fehltritt wieder treu war, begann Dwayne eine Liebschaft mit einer beinahe 30 Jahre jüngeren Studentin Milly Hartway, die in einem Diner in Warren jobbte. Susan erfuhr es von Ralphs Frau Becky Amberson. Sie warf ihren Ehemann daraufhin hinaus.

Der 47-Jährige suchte Zuflucht bei seinem Onkel Lee Matthews am Lake Michigan. Lee, der Sohn eines republikanischen Kongressabgeordneten, war in Rhode Island aufgewachsen, hatte Geschichte studiert und in jungen Jahren an Ausgrabungen im Nahen Osten teilgenommen. Inzwischen verdiente er sein Geld als Antiquitätenhändler in Chicago. Möglicherweise war er es, den der kleine Dwayne am 22. November 1963 mit seiner Mutter in flagranti ertappt hatte.

Lee wohnte in einer Villa in Norton Shores, aber statt seinen Neffen bei sich aufzunehmen, stellte er ihm eine Hütte am Huronsee zur Verfügung, die ihm ebenfalls gehörte. Dwayne ging nicht mehr zur Universität, traf sich aber weiterhin mit Milly. Von der Hütte bis nach Warren waren es nur 40 Meilen. Seine Geliebte vermittelte ihm schließlich einen Job in Ronny Reagans Videothek. (Mit dem US-Präsidenten hatte der Inhaber nichts zu tun.)

Als Dwayne im Sommer 2001 einmal während der Arbeitszeit den Laden verließ und am Lager der Videothek vorbeikam, hörte er aus dem Schuppen Geräusche wie von einem eingesperrten Tier. Deshalb öffnete er die Tür – und blickte auf Millys nackten Po. Sie lag vor zwei Kerlen mit erigierten Penissen, und Ronny Reagan forderte sie gerade auf, lauter zu schreien. Ein Pornodreh!

Dwayne ging scheinbar ruhig zur nächsten Tankstelle, kaufte einen Kanister, füllte ihn mit Benzin, kehrte in die Videothek zurück, verschüttete das Benzin und warf dann von der Tür aus ein Streichholz hinein. Weil der Richter die Brandstiftung auf ein kriegsbedingtes posttraumatisches Belastungssyndrom zurückführte, wurde Dwayne in eine psychiatrische Klinik in Northville eingewiesen. Dort bildete er sich ein, dass auf den Fluren Pornos gedreht würden. Und am 11. September 2001 sah er im Fernsehen die Terroranschläge auf die Zwillingstürme des World Trade Center in New York.

Ralph, der inzwischen in Rente gegangen war, nachdem er 30 Jahre lang im Mittleren Westen Veterinärprodukte verkauft hatte, holte ihn schließlich aus der Klinik ab, und Dwayne kehrte zu seinem Onkel Lee zurück.

Wochenlang sitzt Dwayne im Auto vor dem Haus, in dem er früher wohnte. Durchs Fenster beobachtet er Susan und Dennis. Die beiden wissen, dass er jeden Abend draußen ist, aber solange er sich nicht weiter nähert, unternehmen sie nichts dagegen.

Lee Matthews bietet seinem Neffen jedoch im Mai 2003 an, dessen Problem zu lösen. Als Gegenleistung soll Dwayne Antiquitäten schmuggeln. Ein als potenzieller Kunde im Antiquitätengeschäft getarnter FBI-Agent versucht zu belauschen, was Lee Matthews und dessen Neffe zu bereden haben.

Dann zog Lee leider aus Vorsicht oder instinktiv die Tür zu, sodass der allein durch den Laden streifende Mann von seiner an sich kräftigen Stimme nur noch ein Brummen vernahm, aus dem einzelne Wörter herausragten wie „Irak“, „Dollar“ und dann auch „Ladung“ und „Baltimore“, dann sogar einzelne besser vernehmbare Sätze wie „Um Alex kümmere ich mich“ oder „Dann ist das so abgemacht“, bis auf einmal gar nichts mehr zu hören war, das Gespräch zwar weiterging, aber in gesenktem Ton, und der einzelne Mann den weiteren Wortwechsel nicht mehr belauschen konnte, und so auch nicht wir, die wir ja von ihm abhängen, um mitzukriegen, das da gesagt wurde.

Als Leser erfahren wir bald mehr: Es geht um wertvolle archäologische Fundstücke, die im April 2003 aus dem Nationalmuseum in Bagdad geraubt wurden. In den Kriegswirren war möglicherweise internationalen Schwarzhändlern von bestochenen Museumsangestellten Zugang zu den Schätzen gewährt worden, und die amerikanischen Soldaten hatten weggesehen. Lee schickt seinen Neffen mit 300 000 Dollar Bargeld in einem Koffer los. Weisungsgemäß setzt Dwayne sich bei einem Kinderspielplatz in Baltimore auf eine Bank und wartet, bis zwei arabisch aussehende Männer neben ihm Platz nehmen. Nachdem einer von ihnen mit dem Fuß die Nummer eines Kais in den Sand geschrieben und sie gleich wieder verwischt hat, verschwinden sie mit dem Koffer. Dwayne vermutet, dass das Geld für Waffenkäufe bestimmt ist. Er fährt zu dem Kai und verlädt die drei mit einem Ruderboot angelandeten Holzkisten im Kofferraum seines Autos.


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


In der Zwischenzeit kommt Dennis mit einer Frau, die er gerade erst kennengelernt hat, aus einer Bar und geht zu seinem Wagen. Nachdem die Frau auf dem Beifahrersitz Platz genommen hat, will er um das Heck des Autos herumgehen, wird jedoch von zwei Männern gepackt und in ein nahes Gebüsch gezerrt. Bevor die wartende Frau sich darüber wundert, warum Dennis nicht einsteigt, haben ihn die Verbrecher mit einem Messer entmannt.

Im Rückspiegel sieht Dwayne, dass er verfolgt wird. Schließlich hält er auf einem Rastplatz, und während er sich im Kofferraum zu schaffen macht, hört er Schritte, die sich nähern. Plötzlich dreht sich Dwayne um und drischt mit einem Hockeyschläger auf den Mann ein. Erst als dieser am Boden liegt, bemerkt Dwayne die FBI-Dienstmarke.

Aufgeregt ruft er Lee an, aber der erklärt ihm, er sei jetzt ganz allein auf sich gestellt.

Susan wacht mitten in der Nacht auf und beobachtet durchs Fenster, wie ihr Ex-Mann eine Schaufel aus dem Geräteschuppen holt und drei Kisten im Garten vergräbt. Am nächsten Tag erfährt sie aus den Nachrichten von einem FBI-Agenten, den ein Schmuggler sumerischer Ausgrabungsstücke mit einem Hockeyschläger malträtierte.

Zu diesem Zeitpunkt ist Dwayne bereits auf dem Weg nach New Mexico. In Santa Rosa übernachtet er. Als er im Morgengrauen aufsteht, hört er den Fahndungsaufruf im Radio. Er fährt in die Wüste, tritt dort das Gaspedal durch und hält vor einer Kurve das Lenkrad fest. Im letzten Augenblick bremst er mit aller Kraft, aber da haben die Räder bereits die Bodenhaftung verloren.

Dwayne liegt in dem rauchenden Wrack. Da beugt sich Jim Sullivan lächelnd über ihn, und Dwayne folgt ihm durch Kakteen hindurch auf dem Weg tiefer in die Wüste hinein.

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Nach eigener Aussage war der 1973 in Brest geborene französische Schriftsteller Tanguy Viel noch nie in Detroit. Aber dort lässt er seinen „amerikanischen Roman“ spielen: „Das Verschwinden des Jim Sullivan“. Protagonist ist nicht der im Titel genannte Gitarrist, sondern – wie könnte es anders sein in einem amerikanischen Roman – ein nicht mehr ganz junger, geschiedener amerikanischer Literaturprofessor: Dwayne Koster.

„Das Verschwinden des Jim Sullivan. Ein amerikanischer Roman“ ist eine Persiflage. Tanguy Viel erzählt in der Ich-Form vom Schreiben eines Romans und räsoniert dabei sowohl über Charakteristika amerikanischer Romane beispielsweise von Philip Roth als auch über seine Entscheidungen in Bezug auf Plot und Figuren. Mit diesen Kommentaren bricht Tanguy Viel immer wieder die Fiktion der Handlung des bereits (in der dritten Person im Imperfekt) geschriebenen amerikanischen Romans, die er uns nicht vorenthält.

Das originelle Spiel mit Klischees, viele witzige Einfälle und ein gelungener Aufbau machen „Das Verschwinden des Jim Sullivan. Ein amerikanischer Roman“ zu einem besonderen Lesevergnügen.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2014
Textauszüge: © Verlag Klaus Wagenbach

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