Tanguy Viel : Unverdächtig

Unverdächtig
Originalausgabe: Insoupçonnable Les Éditions de Minuit, Paris 2006 Unverdächtig Übersetzung: Hinrich Schmidt-Henkel Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2007 ISBN 978-3-8031-3212-3, 122 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Sam und Lise sind zwar ein Paar, aber Lise arbeitet nachts als Animierdame und schläft tagsüber, während Sam nachts schläft und tagsüber vor dem Fernseher sitzt. Als Lise von dem reichen, doppelt so alten Auktionator Henri einen Heiratsantrag bekommt, ergreift sie die Chance für ein besseres Leben und gibt Sam als ihren Bruder aus ...
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Kritik

"Unverdächtig" ist zugleich ein spannender Thriller mit unerwarteten Wendungen und eine witzige, sarkastische Dreiecks- bzw. Vierecksgeschichte, die einer der Beteiligten in einem durch Verknappung geprägten Stil erzählt.
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Sam und Lise leben zusammen in einer Kleinstadt an der nordfranzösischen Küste. Sie sind zwar ein Paar, doch während Lise nachts in einer Bar als Animierdame arbeitet, schläft Sam, und wenn Lise tagsüber ihren Schlaf nachholt, sitzt Sam vor dem Fernsehapparat. Gemeinsam verbrachte Stunden gibt es kaum.

Seit einigen Monaten kommen zwei Brüder wegen Lise regelmäßig in die Nachtbar: Henri und Édouard. „Vereinigte Auktionskommissare“ steht auf ihren Geschäftskarten. Henri begehrt Lise und umwirbt sie.

Nun hat das Begehren der Männer ja dies Merkwürdige und Mathematische an sich, dass Widerstand, statt die Ambitionen zum Erlöschen zu bringen, sie nur noch anwachsen lässt, und durch welches physische Gesetz soll man erklären, was da geschah: Sie ließ ihn so oft abblitzen, dass er am Ende mehr wollte als ihren Körper, den sie ihm verweigerte. Am Ende liebte er sie, dieser Depp. Nicht Depp genug, um zu sagen, ich liebe dich, nicht Depp genug für so eine Liebeserklärung, aber Depp genug, dass sie eines Morgens nach Hause kam und zu mir sagte: Er will mich heiraten. (Seite 21)

In dem Heiratsantrag des reichen Fünfzigjährigen sieht die halb so alte Lise die Chance für ein besseres Leben. Kurzerhand stellt sie ihrem Verehrer ihren Lebensgefährten als Bruder vor, und Henri macht seinen zukünftigen Schwager ahnungslos zu seinem Golfschüler und –partner.

[Henri:] Du hast wirklich Glück, Sam, dass du mit Golfern wie uns spielst.
Und ich sagte, es sei mir eine Freude, ja, genau das sagte ich, es ist mir eine Freude, ich sprach schon wie sie. (Seite 40)

Lise und Sam wundern sich, dass Édouard nicht zu der pompösen Hochzeit kommt. Während der Feier verschwinden sie für eine Weile im Park und treiben es hinter den Büschen.

Weil Henri so viel zu tun hat und deshalb oft erst spät zu Bett geht, haben er und Lise getrennte Schlafzimmer. Als er eines Nachts mit Sam nach Hause kommt und die Schlafende betrachten und sanft küssen möchte, findet er ihr Bett leer vor. Auf einem Zettel steht:

Wenn Sie sie wiedersehen wollen, warten Sie morgen brav am Telefon. (Seite 46)

Sam redet Henri zu, mit den Entführern zu kooperieren und auf keinen Fall die Polizei einzuschalten. Henri will jedoch nicht zahlen.

Ich kann nicht.
Und in die folgende Stille hinein fügte er hinzu:
Wegen Édouard.
[…] Das ist eine sehr komplizierte Geschichte. All das Geld und das Haus auch […]
Das alles gehört nicht wirklich nur mir, Sam, also juristisch gesehen gehört es mir, aber das Juristische hat nichts zu bedeuten, überhaupt nichts, sagte er und ließ zwischen seinen Sätzen die Stille lasten […] als wollte er auf eine Sache Licht werfen, die fünfundzwanzig Jahre her war, fünfundzwanzig Jahre, seufzte er. (Seite 48f)

Stundenlang redet Sam auf ihn ein, bis Henri endlich seinen Rat annimmt:

Ich werde zahlen, Sam, ich werde zahlen. Du hast Recht, ich sollte Édouard nichts davon sagen, er wird nichts erfahren. Alles in allem ist es ja wirklich nur eine Art Handel, sagte er. (Seite 53)

Dass Henri im Zusammenhang mit Lise von einem Handel spricht, ärgert Sam, aber er sagt nichts.

Henri soll 1 Million zu einer leer stehenden Kapelle in den Dünen bringen.

Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.

Sam und Lise hielten die Heimlichkeiten nicht länger aus, das ständige Warten und die Ungewissheit, ob eine Verabredung eingehalten werden konnte oder nicht. Deshalb kamen sie auf die Idee mit der Entführung. In den Dünen versteckt, warten sie auf Henri. Für den Fall, dass sie fliehen müssen, hält Sam ein Schlauchboot bereit, und er hat auch einen Revolver dabei.

Endlich sehen sie Henri mit seinem Jaguar kommen.

Lise geht los. Henri stolpert mit dem Koffer in der Hand. Beim Aufprall auf den Boden springt der Koffer auf.

Er öffnete sich weit, und ich sah die Geldscheine davonfliegen wie gewöhnliche Papierschnipsel. Vor allem das sah ich: gewöhnliche Papierschnipsel. Keine echten Banknoten mit echten Zahlen darauf, sondern weißes Papier, echtes weißes Papier flog da durch die laue Luft, keine Geldscheine, gewöhnliche Papierschnipsel […] (Seite 67)

Da kriegt Sam einen Lachanfall. Lise rennt zu ihm zurück. Er findet es schlimm, dass Lise für Henri nur 0 Dollar wert ist. Henri hört seine Stimme und fragt:

Sam? Sam, bist du das? (Seite 68)

Der naive Auktionator überlegt nicht, dass dies einem Todesurteil gleichkommt. Sam schießt mehrmals auf ihn, trifft ihn jedoch in der Aufregung nur einmal, und zwar ins Bein. Lise hilft ihm, den Verletzten in den Kofferraum zu heben, und sie fahren ihn näher zum Wasser. Dort ziehen sie ihn aus, arrangieren die Kleidung am Strand und lassen nur die blutige Hose verschwinden. Dann schaffen sie den um sein Leben Bettelnden in das Schlauchboot. Während Sam mit ihm aufs Meer hinausfährt, ihn erschießt und die Leiche ins Wasser kippt, wartet Lise mit Sams Panamahut in der Hand am Strand.

Aber immer blieb noch etwas zu tun, immer galt es, an noch ein Detail, noch ein fatales Detail zu denken. ich versuchte, in Gedanken alles durchzugehen und fragte mich: Habe ich auch nichts vergessen? Ich machte eine Liste aller Einzelheiten, so, wie man im Supermarkt die getätigten Einkäufe abhakt.
Entsorgen des Körpers, erledigt.
Kleidung am Strand, erledigt.
Wagen reinigen, erledigt.
Einsammeln der weißen Papierstücke, erledigt.
Und war es dann ebenfalls wie im Supermarkt, wenn man nach Hause fährt und trotz der Liste beim besten Willen hartnäckig doch immer noch etwas fehlt? (Seite 76f)

Noch in der Nacht ruft Lise die Polizei an und meldet ihren Ehemann als vermisst. Am nächsten Tag heißt es, der Auktionator sei beim Baden ertrunken.

Sam überlegt, warum alles so kam.

[…] war zu faul, um herauszufinden, welche die Rolle des Geldes in dieser Geschichte war und welche die des Stolzes oder einfach die der Liebe zu einem Mädchen, das dafür nicht gemacht war. Und ich dachte, was man manchmal Wahnsinn nennt, das ist genau so ein Durcheinander von ein paar elektrischen Wörtern, die in einem aufeinanderprallen. (Seite 84)

Édouard taucht auf und übernimmt den Jaguar seines toten Bruders. Da fällt Lise plötzlich etwas ein: Wo ist der Panamahut? Im Kofferraum!

Sam sieht sich bereits im Gefängnis, aber nichts geschieht. Édouard meint nur beiläufig, er glaube nicht an einen Unfall, denn Henri wäre an dieser Stelle niemals schwimmen gegangen. Zu Lise sagte er:

Jetzt gehört das alles dir.
Und er beschrieb mit der geöffneten Hand einen weiten Kreis, als würde er alles zusammenraffen, mit dieser Hand. (Seite 94)

Beim Golfspielen fordert er Sam auf, sich vorzustellen, er spiele um eine Million Dollar. Sam rechnet damit, dass Édouard mit einem Golfschläger auf ihn losgeht, aber der Bruder des Toten bleibt ganz ruhig, trägt nur plötzlich den Panamahut. Da hält Sam es nicht mehr aus. Er fragt Édouard, was er wolle. Die Antwort lautet:

Ich will Lise.
[…] Morgen um 16 Uhr im Auktionshaus: Mein Schweigen gegen Lise. (Seite 102f)

Lise ist bereit, Édouards Forderung zu erfüllen, aber das will Sam auf keinen Fall zulassen; lieber geht er ins Gefängnis. Wenn Sam eingesperrt wird, will auch Lise nicht mehr frei herumlaufen. Lise im Gefängnis: Die Vorstellung ist für Sam nicht weniger schlimm als Lise zusammen mit Édouard. Nein, man darf sie nicht festnehmen! Wenn sie von einer Haftstrafe verschont werde, meint Lise, müsse auch Sam von einer Verurteilung verschont bleiben.

Um 16 Uhr geht Sam ins Auktionshaus. Édouard leitet gerade eine Versteigerung. Als er sieht, dass Sam im Saal ist, ruft er den Panamahut auf. Sam bietet und erhält den Zuschlag. Er kehrt zum Wagen zurück, legt den Panamahut auf den Rücksitz und sagt zu Lise:

Es ist soweit, er wartet auf dich. (Seite 114)

Einige Zeit später sieht er die beiden aus dem Gebäude kommen. Er fährt ihnen zum Haus nach, stellt das Auto ein Stück entfernt ab und klettert wie ein Dieb über die Mauer. Dann setzt er sich in den Jaguar und statt wegzufahren, legt er die Schostakowitsch-CD ein, die Henri so gern hörte.

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Homo homini lupus (Plautus). Der Mensch ist des Menschen Wolf. Das veranschaulicht der französische Schriftsteller Tanguy Viel (* 1973) in seinem von Geld, Liebe und Verrat handelnden Roman „Unverdächtig“ auf eindrucksvolle Weise. Er braucht dafür nicht mehr als vier Personen, die er in Grundzügen durch ihr Verhalten charakterisiert, statt sie ausführlich vorzustellen. Die Orte, an denen die Geschichte spielt – es sind gerade einmal fünf oder sechs – werden von Tanguy Viel so gut wie gar nicht beschrieben. Dazu passen die schnörkellose Handlungsführung und die lapidare Sprache. Verblüffend ist, dass man trotz dieser Verknappung und VerDichtung den Eindruck hat, einen markant geschnittenen Film zu sehen.

Witz und Scherz erreicht Tanguy Viel durch souveränes Stil-Management […] Bizarr ist das alles und ziemlich brillant gemacht. (Hans-Peter Kunisch, Süddeutsche Zeitung, 8. Januar 2008)

„Unverdächtig“ ist zugleich ein spannender Thriller mit unerwarteten Wendungen und eine witzige, sarkastische Dreiecks- bzw. Vierecksgeschichte, die einer der Beteiligten in der Ich-Form erzählt.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2007 / 2008
Textauszüge: © Klaus Wagenbach Verlag

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