Robert Walser : Jakob von Gunten

Jakob von Gunten
Jakob von Gunten Originalausgabe Bruno Cassirer, Berlin 1909 Süddeutsche Zeitung / Bibliothek, Band 96, München 2008
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Um der Eitelkeit und Geschäftemacherei in der Welt zu entkommen, lernt Jakob von Gunten, wie er sich bis zur Selbstverleugnung bescheiden kann. Nur durch den rigorosen Verzicht glaubt er, Enttäuschungen vermeiden zu können. In der Unterwerfung sieht er ein Mittel, sich selbst zu behaupten und seine Würde zu bewahren.
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Kritik

Der Schauplatz des Geschehens, eine Knabeninternat, ist unwirklich wie etwa das von Franz Kafka beschriebene Gericht. Die Figuren sind kaum greifbar. Der Roman "Jakob von Gunten" ist eine Geschichte aus einer surrealen Welt, mit der Robert Walser seine Einstellung zum Leben und zur Gesellschaft auf sehr poetische Weise veranschaulicht.
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Jakob von Gunten stammt aus gutem Haus; sein Vater verfügt über einen Wagen und Pferde, die Mutter über eine eigene Theaterloge. Der Junge läuft von zu Hause weg, weil er befürchtet, von der Vortrefflichkeit seines Vaters erstickt zu werden.

Schade, ich sollte nicht Eltern haben, die mich lieben. Ich mag überhaupt nicht geliebt und begehrt sein.

Er meldet sich in Benjamentas Knabenschule, die in einer Etage eines gewöhnlichen Hinterhauses untergebracht ist. Herr Benjamenta, der gut 40 Jahre alte Institutsvorsteher, lässt sich das Geld aushändigen, das Jakob bei sich hat und nimmt ihn auf. Den Unterricht erteilt Fräulein Lisa Benjamenta, die Schwester des Vorstehers.

Man lernt hier sehr wenig, es fehlt an Lehrkräften, und wir Knaben vom Institut Benjamenta werden es zu nichts bringen, das heißt, wir werden alle etwas sehr Kleines und Untergeordnetes im späteren Leben sein. Der Unterricht, den wir genießen, besteht hauptsächlich darin, uns Geduld und Gehorsam einzuprägen, zwei Eigenschaften, die wenig oder gar keinen Erfolg versprechen.

Im Unterricht geht es um Gehorsam und Benehmen, nicht um Kenntnisse irgendwelcher Art. Einer der Grundsätze lautet: „Wenig, aber gründlich.“

Uns Zöglinge will man bilden und formen, wie ich merke, nicht mit Wissenschaften vollpfropfen.

Was wir Zöglinge tun, tun wir, weil wir müssen, aber warum wir müssen, das weiß keiner von uns recht. Wir gehorchen, ohne zu überlegen, was aus all dem gedankenlosen Gehorsam noch eines Tages wird …

Gleich zu Beginn versucht sich Jakob einmal gegen die demütigende Ordnung aufzulehnen, aber noch bevor er seine Beschwerde vorbringen kann, lässt er sich vom Institutsvorsteher fünfmal aus dessen Büro schicken, damit er lernt, wie man höflich anklopft, sich unterwürfig verbeugt und laut und deutlich grüßt: „Guten Tag, Herr Vorsteher.“ Nachdem er dann endlich seine Unzufriedenheit über den Unterricht äußern durfte, lässt Herr Benjamenta ihn einfach stehen und liest Zeitung.

lch verbeugte mich tief, fast bis herab zur Erde, vor demjenigen, der mir gar keine Beachtung mehr schenkte, sagte, wie die Vorschriften es geboten, „Adieu, Herr Vorsteher“, klappte die Schuhabsätze zusammen, stund stramm da, machte kehrt, das heißt nein, suchte mit den Händen den Türriegel, schaute immer auf das Gesicht des Herrn Vorstehers und schob mich, ohne mich umzudrehen, wieder zur Türe hinaus. So endete ein Versuch, Revolution zu machen.

Später lacht er über den lächerlichen Vorfall und gesteht: „Ich bin gern unterdrückt.“

Jakob macht sich keine Hoffnungen über seine Zukunft und ist sich sicher, dass er später „etwas sehr Niedriges und Kleines“ sein wird.

Aber das Eine weiß ich bestimmt: Ich werde eine reizende, kugelrunde Null im späteren Leben sein.

Er sehnt sich danach, Hochmut und Überheblichkeit „am unerbittlichen Felsen harter Arbeit zerschmettern zu dürfen“.

Über den Musterschüler Kraus schreibt Jakob in sein Tagebuch, er reite auf der Zufriedenheit, aber das sei „ein Gaul, den Personen, die galoppieren wollen, nicht besteigen mögen“. Obwohl dieser Kommentar darauf schließen lässt, dass Jakob lieber galoppieren würde, beobachtet er seit seinem Eintritt in Benjamentas Knabenschule auch an sich selbst „eine ganz merkwürdige, vorher nie gekannte Zufriedenheit“.

Eines Tages gesteht ihm der Institutsvorsteher, er habe für ihn eine besondere Zuneigung entwickelt und liebe erstmals in seinem Leben einen Menschen. Ob Jakob nicht sein Freund und Vertrauter werden wolle. Dem Zögling aber fehlt nun mitunter die Strenge der Respektsperson und er beschwert sich bald darauf:

„Herr Vorsteher“, sagte ich unglaublich zornig, „ich muss bitten, mich mit etwas weniger kränkender Freundlichkeit zu behandeln.“

Als einmal das Fräulein hinter ihm steht und ihm die Hände auf die Schultern legt, träumt Jakob, sie führe ihn durch die „inneren Gemächer“ des Instituts, durch das Licht des Glücks in die unterirdischen Gänge und Gewölbe der Armut und Entbehrung, an der Sorgenwand entlang und zur Eisfläche der Freiheit. Aus dem „reich mit allerhand lüsternen Szenen und Bildern tapezierte[n] Ruhe-Gemach“ schreckt ihn das Ungemach auf.

Lisa Benjamenta sieht immer kränker aus und vertraut schließlich Jakob an, dass sie sterben werde. Kurz darauf liegt sie tot am Boden. Die Eleven tragen die Leiche ins Wohnzimer. Da merkt Jakob, dass die „inneren Gemächer“, die ihm wie ein Heiligtum vorkamen, auch nur aus zwei spartanisch eingerichteten Zimmern bestehen.

Die anderen Zöglinge verlassen die Schule; der Institutsvorsteher hat sie alle in Stellungen vermittelt. Jakob bleibt allein mit ihm zurück. Der Vorsteher offenbart ihm, dass er nach ihm keine weiteren Schüler mehr aufgenommen habe, weil er das Institut jetzt schließen werde. Und er lädt Jakob ein, ihn auf seinem weiteren Lebensweg zu begleiten: „Wir werden reisen.“ Jakob von Gunten überlegt:

Und wenn ich zerschelle und verderbe, was bricht und verdirbt dann? Eine Null. Ich einzelner Mensch bin nur eine Null. Aber weg jetzt mit der Feder. Weg jetzt mit dem Gedankenleben. Ich gehe mit Herrn Benjamenta in die Wüste. … Jetzt will ich an gar nichts mehr denken. Auch an Gott nicht? Nein! Gott wird mit mir sein. Was brauche ich da an ihn zu denken? Gott geht mit den Gedankenlosen.

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Um der Eitelkeit und Geschäftemacherei in der Welt zu entkommen, lernt Jakob von Gunten, wie er sich bis zur Selbstverleugnung bescheiden kann. Nur durch den rigorosen Verzicht glaubt er, Enttäuschungen vermeiden zu können. In der Unterwerfung sieht er ein Mittel, sich selbst zu behaupten und seine Würde zu bewahren.

Gott behüte einen braven Menschen vor der Anerkennung der Menge. Macht es ihn nicht schlecht, so verwirrt und entkräftet es ihn bloß.

Benjamentas Knabenschule ist unwirklich wie etwa das von Franz Kafka beschriebene Gericht („Der Prozess“). Die Figuren – besonders der Institutsvorsteher, dessen Schwester und der Musterzögling Kraus – sind kaum greifbar. Der Roman „Jakob von Gunten“ ist eine Geschichte aus einer surrealen Welt, mit der Robert Walser seine Einstellung zum Leben und zur Gesellschaft auf sehr poetische Weise veranschaulicht.

Das Institut Benjamenta gehört, wie Kafkas Schloss und Thomas Manns Zauberberg, zu den wahrhaft verwunschenen, unvergesslichen Orten der deutschen Literatur. Seine Gesetze sind die einer märchenhaft verkehrten und verdrehten Welt, in der die Diener die heimlichen, unheimlichen Herren sind, und das schon Jahrzehnte vor Genet, vor Beckett, vor Bernhard.
Und wie an allen Märchenorten, so weiß man auch im Institut Benjamenta niemals genau, wo der Zauber aufhört und das Grauen anfängt […]
Seine [Robert Walsers] Sprache lärmt nicht, dröhnt nicht, macht kein Theater. Die Sätze flüstern […] Die Sätze tänzeln eher, als dass sie fest auftreten würden. Es ist eine Art Zehenspitzenprosa, die Robert Walser schreibt […]
(Benjamin Henrichs, Süddeutsche Zeitung, 1. März 2008)

Peter Lilienthal verfilmte den Roman „Jakob von Gunten“ 1971 (mit Sebastian Bleisch als Jakob von Gunten, Hanna Schygulla als Lisa und Alexander May als Herr Benjamenta). Eine weitere Filmadaptation stammt von den Gebrüdern Quay aus dem Jahr 1995 („Institute Benjamenta“ mit Mark Rylance als Jakob von Gunten, Alice Krige als Lisa und Gottfried John als Herr Benjamenta).

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2002 / 2008
Textauszüge: © Verlag Helmut Kossodo, Genf und Hamburg

Robert Walser (Kurzbiografie)

Julian Barnes - Die einzige Geschichte
Julian Barnes überlässt in "Die einzige Geschichte" dem Protagonisten Paul das Wort. Der blickt als 70-Jähriger zurück auf die Beziehung mit Susan, die ein halbes Jahrhundert zuvor begann. Im ersten Teil verwendet er die Ich-Form, in der Mitte des Buches wechselt er zum Du, und im dritten Teil spricht er von sich in der dritten Person Singular, also noch distanzierter.
Die einzige Geschichte