Martin Walser : Die letzte Matinee

Die letzte Matinee
Die letzte Matinee veröffentlicht in Martin Walser: Ein Flugzeug über dem Haus und andere Geschichten Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 1955
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Jeden Sonntag muss der Ich-Erzähler seine Frau in eine Filmmatinee begleiten. Weil er sich an dem intellektuellen Geschwätz nach der Kinovorführung nicht beteiligt, fühlt er sich ausgeschlossen und von seiner Frau verachtet. Selbst als die Wohnungen der "Matineefreunde" besetzt werden und die Polizei sie in eine Lagerhalle sperrt, diskutieren sie weiter über Kinofilme, als sei nichts geschehen.
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Kritik

"Die letzte Matinee" ist eine Satire auf die Intellektuellen, die Existenzialisten der Fünfzigerjahre, die den Bezug zur Realität verloren haben. Martin Walser schildert diese surreale, kafkaeske Geschichte teils ironisch, teils sarkastisch in einer funkelnden Sprache.
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Der Ich-Erzähler ist seit vier Jahren verheiratet. Seine Ehefrau Inga schleppt ihn jeden Sonntag in eine Filmmatinee. So auch heute. Die Handlung fasst er folgendermaßen zusammen:

Ein Bildhauer, krank, genial, hungrig. Er kann nichts mehr arbeiten und geht dazu über, Menschen, die nachts an der Seine spazieren gehen, in die Seine hinabzustoßen. Stößt einmal einen Mann ins Wasser, der ein Mädchen begleitet. Das Mädchen versteht den Bildhauer. Der Bildhauer sieht sich verstanden. Da erwacht er und verzweifelt jetzt wirklich und geht zum Beweis dessen freiwillig in die Seine. Am Ende geht jenes Mädchen allein spazieren. Wieder an der Seine.

Im Gegensatz zu Inga muss er blinzeln, sobald er aus dem Dunkel des Kinos ins Tageslicht tritt. Nach der Vorstellung diskutieren Inga und andere Matineebesucher über den Film. Dem Ich-Erzähler bleibt nichts anderes übrig, als dabeizustehen, aber er kann mit dem Gerede nichts anfangen. Dafür tadelt ihn seine Frau auf dem Weg zu ihrer Wohnung.

[…] ich löste schon den Schlüssel aus dem klirrenden Bund, da war mir – aber das musste eine Täuschung sein –, als hörte ich was aus unserer – eine Täuschung, ganz bestimmt – aus unserer Wohnung? Sicher nicht. Sicher waren’s die Kinder der Facharbeiterfamilien in den oberen Etagen. Wie käme auch am hellen Sonntag jemand in unsere Wohnung!

In ihrem Wohnzimmer sitzen tatsächlich ein gutes Dutzend Männer und Frauen, kochen sich etwas auf Spirituskochern und beachten das in der Tür stehende Paar überhaupt nicht. Sobald Inga und der Ich-Erzähler sich von ihrem ersten Schreck erholt haben, schließen sie die Tür und gehen wieder.

Wo aber hin jetzt mit uns? Zum Wohnungsamt? Es war aber Sonntag.

Auf einem großen Platz treffen sie Matineefreunde. Auch in deren Wohnungen sind Fremde eingedrungen …

[…] grünhäutige Muskelmenschen bei dem, eine Art Husaren mit Affengesichtern bei den anderen, oder auch Stubenfliegen, größer aus ausgewachsene Hühner.

Immer mehr Matineefreunde kommen zusammen. Die Schar wird von der Polizei in eine bestimmte Richtung gelotst. Passanten bleiben stehen und begaffen den seltsamen Zug. Schließlich drängt die Polizei die eifrig diskutierenden Matineefreunde, die von all dem keine Notiz nehmen, in eine nach Fisch stinkende, schmutzige Güterhalle. Der Ich-Erzähler versucht noch, seine Frau zurückzuhalten.

Ich nahm ihre Hand, wollte sie mit hinaus ins Freie ziehen, sie aber entwand sich mir, ohne mich angesehen zu haben, sie musste gerade einen Einwand niederreden, der ihr Ärgerfalten in die Stirn gegraben hatte.

Im letzten Augenblick schlüpft er allein ins Freie. Die Polizisten, die an seinem Äußeren erkennen, dass er nicht zu den Matineefreunden gehört, lassen ihn laufen.

Wochen und Monate vergehen. Keiner der Matineefreunde kehrt zurück. Sie arbeiten jetzt auf dem Güterbahnhof, haben nur darum gebeten, am Sonntagvormittag gute Filme sehen zu dürfen.

Ich aber habe alle Hoffnung aufgegeben, meine Frau je wieder zu sehen.

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„Die letzte Matinee“ ist eine Satire auf die Intellektuellen, die Existenzialisten der Fünfzigerjahre. Weil der Ich-Erzähler sich an dem intellektuellen Geschwätz nach der Kinovorführung nicht beteiligt, fühlt er sich ausgeschlossen und von seiner Frau verachtet. Während der „letzten Matinee“ werden die Wohnungen der „Matineefreunde“ besetzt, aber sie diskutieren weiter über Kinofilme, als sei nichts geschehen. Sie haben den Bezug zur Realität verloren und sich vom Leben in der Gesellschaft isoliert. Selbst als sie von der Gesellschaft ausgeschlossen werden, beschweren sie sich nicht. Sie wollen nur regelmäßig einen guten Film sehen dürfen, um Stoff für weitere intellektuelle Debatten zu haben.

Martin Walser schilder diese surreale, kafkaeske Geschichte teils ironisch, teils sarkastisch in einer funkelnden Sprache.

Martin Walser wurde 1927 als Sohn eines Gastwirts und Kohlenhändlers in Wasserburg am Bodensee geboren. 1946 bis 1951 studierte er zunächst an der Theologisch-Philosophischen Hochschule Regensburg, dann Literatur, Geschichte und Philosophie in Tübingen, wo er mit einer Arbeit über Franz Kafka promovierte.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2003
Textauszüge: © Suhrkamp Verlag

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