Franz Werfel : Der Abituriententag

Der Abituriententag
Der Abituriententag Originalausgabe: Paul Zsolnay, Berlin / Wien / Leipzig 1928 S. Fischer Verlag, Frankfurt/M Band der "Bibliothek des 20. Jahrhunderts", hg. von Walter Jens und Marcel Reich-Ranicki, Stuttgart / München o. J.
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Einige Stunden, bevor Landesgerichtsrat Dr. Ernst Sebastian ein Klassentreffen aus Anlass des 25-jährigen Jubiläums des Abiturs besucht, verhört er einen Untersuchungshäftling, der beschuldigt wird, eine Prostituierte erschossen zu haben: Franz Josef Adler. In diesem Gleichaltrigen glaubt er, einen früheren Mitschüler zu erkennen, einen Hochbegabten, den er aus Missgunst bei jeder Gelegenheit gedemütigt hatte ...
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Kritik

Franz Werfel hat die eigentliche, in der Ich-Form erzählte Handlung geschickt in einen Rahmen eingefügt. Obwohl "Der Abituriententag" von der Rivalität unter Gymnasiasten handelt, wollte Franz Werfel keinen Schulroman schreiben, sondern ihm ging es um das Thema Schuld.
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Der dreiundvierzigjährige, aus Wien stammende Untersuchungsrichter Landesgerichtsrat Dr. Ernst Sebastian 1927 verhört einen Festgenommenen, der verdächtigt wird, die Prostituierte Klementine Feichtinger in deren Wohnung mit einem Revolver erschossen zu haben.

Sebastian ist Junggeselle. Eine nach Argentinien ausgewanderte (vor ihm geflohene?) Geliebte hat möglicherweise ein Kind von ihm, aber das weiß er selbst nicht so genau. Eigentlich hätte er längst befördert und zum Hofrat ernannt werden sollen, aber darauf legt er keinen Wert: Er möchte Untersuchungsrichter bleiben.

Als der Delinquent zu ihm geführt wird, empfängt er ihn höflich stehend, wie er es immer in diesen Fällen tut. Obwohl Sebastian freundlich mit ihm spricht, ist der Mann eingeschüchtert und beteuert nur zwei-, dreimal seine Unschuld. In der Akte, die der Richter aufgeschlagen hat, steht: „Franz Josef Adler, geboren am 17. April 1884 in Gablonz in Böhmen.“ Sebastian ist vom selben Jahrgang. An diesem Abend ist er aus Anlass des fünfundzwanzigjährigen Jubiläums des Abiturs zu einem Klassentreffen eingeladen. Einer seiner Mitschüler hieß Franz Adler. Er ist überzeugt, dass dieser ihm gegenübersitzt, aber er gibt sich erst einmal nicht zu erkennen.

Von den siebenundzwanzig früheren Schülern, die 1902 ihr Abitur am Nikolausgymnasium machten, kommen fünfzehn. Sechs sind bereits gestorben bzw. im Krieg gefallen. Sebastian erzählt, er habe vor ein paar Stunden Franz Adler verhört. Der ehemalige Mitschüler, der damals nach Amerika ging, scheint seit zwei Jahren wieder hier zu sein und werde jetzt beschuldigt, eine Prostituierte erschossen zu haben.

Als Sebastian von dem Abituriententreffen nach Hause kommt, setzt er sich aufgewühlt an seinen Schreibtisch und beginnt trotz der nächtlichen Stunde, erregt eine Art Lebensbeichte zu stenografieren.

Sein Vater war zu Zeiten der Monarchie Präsident des Obersten Gerichtshofes gewesen. Von seiner Frau hatte er sich kurz nach der Geburt des Sohns scheiden lassen. Sie starb, als Ernst Sebastian sechs Jahre alt war. Der pathologisch hochmütige Vater hasste Versager, aber sein Sohn wäre in der Quinta des renommierten Schottengymnasiums in Wien beinahe durchgefallen. Deshalb bestand der Gerichtspräsident darauf, dass der Junge zu Beginn der Sexta zum Nikolausgymnasium in einer anderen Stadt wechselte, wo er bei einer verwitweten und einer unverheirateten Tante wohnen konnte.

Während Sebastian auf dem Nikolausgymnasium nicht viel besser abschnitt als August Komarek, der schlechteste Schüler des Jahrgangs, war Robert Fischer Klassenprimus und Franz Adler wurde von Lehrern und Mitschülern gleichermaßen als hochbegabt geachtet. Adlers Mutter war eine kranke, mittellose Witwe; sein Vater hatte sich vor Jahren das Leben genommen. Er schrieb Gedichte und Dramen. Um ihn auszustechen, log Sebastian, er habe bereits unter einem Pseudonym ein Gedicht in einer Zeitung veröffentlicht, und er schrieb bei seinen Tanten Gedichte von Justus Frey ab, um sie als eigene auszugeben. Damit stieg er in der Anerkennung seiner Klassenkameraden mächtig auf; nur Adler wunderte sich darüber, dass der Stil der Gedichte nicht zu Sebastian passte. Um seine Stellung auszubauen, initiierte Sebastian die Gründung eines dramatischen Vereins. Auf dem Heimweg schwärmte er davon, als erstes Stück „Die Räuber“ von Friedrich Schiller aufzuführen und reklamierte die Rolle des Franz Moor für sich. Da wies Adler ihn zurecht: „Sei froh, dass du überhaupt mittun darfst, und warte auf die Rolle, die man dir zuweisen wird.“ Für diesem Affront rächte Sebastian sich in einer der nächsten Turnstunden: Als Adler am Barren eine lächerliche Figur machte, stimmte er ein höhnisches Gelächter an, in das alle anderen einschließlich des Lehrers einstimmten. Beim Umziehen begann Adler mit ihm zu raufen, unterlag dabei aber dem Stärkeren. Danach war Adler so verunsichert, dass er selbst im Deutsch- und Lateinunterricht immer häufiger versagte.

Sebastian verführte einige Mitschüler zum Schuleschwänzen und fälschte für sich und die anderen die Entschuldigungen. Statt in die Schule gingen sie zum Billardspielen oder in eine Gaststätte, wo sie Adler dazu animierten, Bier und Schnaps zu trinken, obwohl er Alkohol eigentlich verschmähte. In einer Konditorei brachte Sebastian seinen Rivalen einmal dazu, sich vor ihm auf den Boden zu knien und um eine Fruchtschnitte zu bitten. In einem Nachtlokal, das die Gruppe der Schulschwänzer regelmäßig besuchte, drückte der Industriellensohn Fritz Ressl der Prostituierten Marfa einen Geldschein in die Hand, damit sie sich mit Adler zurückzog. Nach einer Weile folgten Ressl und Sebastian den beiden ins Obergeschoss und öffneten Marfas Zimmertür: Da saß Adler in Unterwäsche verzweifelt am Bettrand.

Einige Tage vor dem Ende des Schuljahrs drohte der Klassenlehrer einigen Schülern, darunter Adler, mit Sitzenbleiben. Daraufhin schlich Sebastian sich mit Adler nach Schulschluss ins Lehrerzimmer. Während Adler aufpassen sollte, dass niemand kam, begann Sebastian, zwei von drei „Ungenügend“ seines Mitschülers in „Genügend“ zu fälschen. Dabei wurden sie vom Klassenlehrer ertappt.

Aufgrund der Dokumentenfälschung mussten Adler und Sebastian damit rechnen, von der Schule zu fliegen. Ohne Abitur hätten sie nicht studieren können. Um der Schande zu entgehen, legten sie sich in Sebastians Zimmer hin und drehten den Gashahn auf. Nach einer Weile erhob Sebastian sich und verließ den Raum. Er überlegte, dass er Adler nach dessen Suizid alle Schuld zuschieben könnte, aber dann ging er doch wieder zurück, riss das Fenster auf und rüttelte Adler wach, denn inzwischen hatte er eine bessere Idee: Adler sollte fliehen, mit dem Zug nach Hamburg fahren und dort als Schiffsjunge auf einem Dampfer nach Amerika anheuern. Sebastian stahl seinen Tanten ein Schmuckstück und ließ sich von Komarek mit einem Hehler zusammenbringen. Das Geld, das er bekam, gab er Adler und brachte ihn zum Bahnhof.

Am Montagmorgen setzt Landesgerichtsrat Dr. Ernst Sebastian das Verhör Franz Josef Adlers fort. Dem Rechtspraktikanten, der das Protokoll führt, fällt auf, wie zerstreut der Untersuchungsrichter ist. Schließlich schickt Sebastian den Praktikanten hinaus und fragt den Beschuldigten, ob er ihn immer noch nicht erkannt habe, sie seien doch zusammen zur Schule gegangen. Sebastian gesteht, Adlers Leben ruiniert zu haben. Durch die Schuld sei er jedoch auch selbst gescheitert. Zerknirscht bittet er ihn um Verzeihung. Als er dem Mann wieder ins Gesicht blickt, merkt er plötzlich, dass dieser gar keine Ähnlichkeit mit seinem früheren Mitschüler hat, und als er noch einmal die Personenangaben in der Akte prüft, stellt er fest, dass es sich um eine Verwechslung handelte. Eine Freudsche Fehlleistung!

Nachdem der Häftling abgeführt worden ist, kehrt der Rechtspraktikant zurück und berichtet dem Untersuchungsrichter, dass die Polizei inzwischen aufgrund von Zeugenaussagen einem anderen Freier auf der Spur sei, der nach Adler bei der Prostituierten Klementine Feichtinger in der Wohnung gewesen sein soll. Daraufhin ordnet Sebastian die sofortige Freilassung Adlers an.

Sein nächtliches Stenogramm kann er selbst nicht mehr entziffern.

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Das Manuskript des Romans „Der Abituriententag“ schrieb Franz Werfel (1890 – 1945) innerhalb eines Monats, möglicherweise inspiriert durch ein Treffen mit seinen früheren Klassenkameraden Willy Haas und Ernst Deutsch im Jahr 1926.

Franz Werfel hat die eigentliche, in der Ich-Form erzählte Handlung geschickt in einen Rahmen eingefügt. Obwohl „Der Abituriententag“ von der Rivalität unter Gymnasiasten handelt, wollte Franz Werfel keinen Schulroman etwa nach dem Vorbild von Hermann Hesses „Unterm Rad“ schreiben, sondern es ging ihm um das Thema Schuld.

Nicht das Milieu der Schule, nicht die Verwirrungen der Jugend, keinerlei psychologische und weniger noch pädagogische Nebenabsichten bilden den wahren Gegenstand der Geschichte, die eine, nein, vielleicht die allerfuchtbarste Frage des menschlichen Lebens aufzuwerfen wagt: Die Frage der Schuld. (Franz Werfel, 1937, hier zit. nach Ulrich Weinzierl, Begleitheft zu Franz Werfel: Der Abituriententag, Seite 7)

Bei dem Opfer Franz Adler – erklärte der jüdische Schriftsteller Franz Werfel – habe er sich einen Juden vorgestellt, „weil diese Rasse das geheimnisvolle Schicksal hat, die andern an ihr schuldig werden zu lassen, das Grausame und Böse in ihnen hervorzulocken“ (a. a. O.)

Ein Besucher machte mich darauf aufmerksam, dass der Roman wohl in Prag spielt, auch wenn Franz Werfel den Namen der Stadt nicht erwähnt. „Das Nicolausgymnasium ist eine Schule in der Prager Altstadt, das barocke Viertel […] ist eindeutig die Prager Kleinseite. Diese wird im zweiten Kapitel beschrieben. […] der Zehn-Kronenschein, den Adler beim Sommerball auf den Teller legt, ist tschechisches Geld, weil die österreichische Krone vom Schilling abgelöst wurde.“

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2005
Textauszüge: © S. Fischer Verlag

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