Charles Willeford : Ketzerei in Orange

Ketzerei in Orange
Originalausgabe: "The Burnt Orange Hersey", 1971 Übersetzung: Rainer Schmidt Überarbeitung: Heinz Scheffelmeier "Die Kunst des Tötens" Ullstein Verlag, Berlin 1991 "Ketzerei in Orange" Maas Verlag, Berlin 2005 ISBN 3-937755-00-4, 219 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der amerikanische Kunstkritiker James Figueras ist ebenso eitel wie ehrgeizig. Eines Tages erzählt ihm der Kunstsammler Joseph Cassidy, der verschollene französische Künstler Jacques Debierue, der seine Bilder kaum jemals herzeigt geschweige denn verkauft, verberge sich in Florida. Ein Interview mit dem weltberühmten Künstler wäre ein Scoop. Cassidy ist bereit, Figueras die Adresse zu verraten, aber als Gegenleistung verlangt er, dass der Kunstkritiker für ihn ein Gemälde von Debierue stiehlt ...
mehr erfahren

Kritik

"Ketzerei in Orange" / "Die Kunst des Tötens" ist eine originelle, irrwitzige Satire auf den Kunstbetrieb, eine unterhaltsame Mischung aus Thriller und Künstlerroman von Charles Willeford.
mehr erfahren

Der vierunddreißigjährige Kunstkritiker James Figueras lebt in Palm Beach, Florida. Seine Eltern hatten sich ein Jahr nach seiner Geburt in Puerto Rico getrennt, aber eine Ehescheidung war für sie wegen ihres katholischen Glaubens nicht in Frage gekommen. Der Vater war Puerto-Ricaner, die Mutter schottisch-irischer Abstammung. Im Alter von zwölf Jahren kam James Figueras mit seiner Mutter in die USA. Als Kunstkritiker wurde James Figueras vor allem durch einen Aufsatz bekannt, der den Titel „Die Kunst und das Kind im Vorschulalter“ trug. Es handelte sich um eine knappe Zusammenfassung seines gleichnamigen Buches, für das er wiederum seine Magisterarbeit an der Columbia University überarbeitet hatte.

Seit kurzem lebt Figueras mit Berenice Hollis zusammen, einer zwar körperlich üppigen, aber geistig biederen Englischlehrerin aus Duluth, Minnesota, die eigentlich nur für ein paar Wochen zur Erholung nach Palm Beach gekommen war, aber dann bei ihm einzog. Figueras bereut längst, dass er das zuließ, und er wird sie nicht mehr los.

Die Galeristin Gloria Bentham stellt Figueras dem für seine private Kunstsammlung in Chicago berühmten Strafverteidiger Joseph Cassidy vor. Der fragt den Kunstkritiker nach Jacques Debierue, und Figueras weiß selbstverständlich über den großen alten Mann der modernen Kunst Bescheid: Ursprünglich fertigte Jacques Debierue in Paris Bilderrahmen an. Dann wandte er sich der Kunst zu und veranstaltete Mitte der Zwanzigerjahre seine erste und einzige Ausstellung: Zu sehen gab es ein einziges Werk: „No. One“. Es bestand aus einem leeren, reich verzierten Bilderrahmen, der in einem Zimmer über Debierues Werkstatt vor einem Riss in der Wand hing. Es durfte immer nur eine Person vor dem Kunstwerk stehen; die anderen mussten warten. Der Erfolg war so überwältigend, dass Jacques Debierue am 25. Mai 1925 seine Werkstatt verkaufte und an die Riviera zog, um sich ausschließlich der Malerei zu widmen. Er nahm danach nie wieder an einer Ausstellung teil und gewährte im Verlauf von vier Jahrzehnten gerade einmal vier Interviews: Vier bedeutende europäische Kunstkritiker beschrieben die Gemälde, die ihnen der nihilistisch-surrealistische Künstler ausnahmsweise gezeigt hatte. Weil Debierue sich auch weigerte, seine Werke an Privatpersonen oder Museen zu verkaufen, wurde zu seiner finanziellen Unterstützung eigens ein Freundeskreis ins Leben gerufen: „Les Amis de Debierue“. Vor einiger Zeit brannte das Haus ab, in dem Jacques Debierue lebte, und alle seine Werke wurden dabei zerstört. Seither gilt der französische Künstler als verschollen.

Cassidy weiß jedoch, dass Jacques Debierue unter dem falschen Namen Eugene V. Debs in Florida untergetaucht ist, denn der Rechtsanwalt hat ihm zu der neuen Identität verholfen, ein Haus besorgt und seine Rechnungen bezahlt. Er bietet Figueras an, ihm die Adresse zu verraten, damit der Kunstkritiker ein exklusives Interview mit dem weltberühmten Künstler führen kann. Das wäre ein Scoop! Figueras würde damit endgültig in den kleinen Kreis der bedeutendsten Kunstkritiker der Welt aufsteigen. Cassidy stellt jedoch eine Bedingung: Da er unbedingt der Einzige auf der Welt sein möchte, der einen Debierue besitzt, soll Figueras seinen Besuch bei dem Maler nutzen, um für Cassidy ein Werk zu stehlen.

Figueras macht sich mit Berenice zusammen auf den Weg. Er ist überwältigt, als der neunzigjährige Meister ihn aufgrund von Fotos in Kunstzeitschriften sofort erkennt. Debierue ahnt auch gleich, dass Figueras die Adresse von Cassidy bekam. Bereitwillig lässt er sich auf ein Gespräch mit Figueras im Beisein von Berenice ein – nur zeigen will er ihm nichts. Immerhin kann Figueras ihn überreden, ein Polaroid von sich machen zu lassen. Der Kunstkritiker drückt dem Greis eine Zeitung in die Hand, die er eine Sekunde, bevor er den Auslöser drückt, anzündet. Auf diese Weise entsteht ein spektakulärer Schnappschuss.

Nach dem Abendessen – Jacques Debierue lebt ausschließlich von Fertiggerichten und Orangensaft – lässt sich der Künstler von seinen Besuchern zum nahen Autokino fahren und erzählt ihnen, dass er sich dort jeden Tag mindestens einen Film anschaut.

Vom Autokino kehrt Figueras noch einmal zum Haus des Neunzigjährigen zurück. Während Berenice auf der Straße Schmiere steht, dringt er in das Gebäude ein und findet auch die Schlüssel für das Vorhängeschloss, mit dem das Atelier verschlossen ist. Er kann es kaum glauben, was er dort sieht: Leere Leinwände, verschlossene Farbtuben, unbenutzte Pinsel. Plötzlich begreift er: Jacques Debierue hat noch nie ein Bild gemalt. Was die vier europäischen Kunstkritiker beschrieben, waren deren Erfindungen.

Figueras wickelt eine Leinwand und eine Reihe von Farbtuben ein, bevor er das Atelier in Brand steckt und mit Berenice Richtung New York aufbricht.

In Valdosta halten sie vor einem Hotel. Dass er auf getrennten Zimmern besteht, erklärt Figueras mit der Notwendigkeit, an dem Artikel über Jacques Debierue arbeiten zu müssen. Nachdem er in sechsstündiger Arbeit einen umfangreichen Beitrag über die amerikanische Periode des französischen Künstlers verfasst und mehrere Gemälde beschrieben hat, malt er mit den mitgebrachten Utensilien einen blau umrandeten orangen Fleck: „Ketzerei in Orange“ heißt das Bild, von dem Figueras in seiner Analyse behauptet, es handele sich um ein Selbstporträt von Jacques Debierue. Gerade als er den letzten Buchstaben der winzigen Signatur anbringt, kommt Berenice überraschend ins Zimmer, weil sie gerade in den Nachrichten hörte, dass Debierues Haus abgebrannt ist. Figueras versucht, ihr weiszumachen, das Bild sei beschädigt gewesen und er habe es ausbessern wollen, aber an der feuchten Farbe merkt selbst Berenice, dass er lügt.

Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.

Figueras überlegt, ob er Berenice heiraten soll, damit sie schweigt und nicht versucht, ihn zu erpressen, aber er glaubt nicht an die Beständigkeit von Liebe und Ehe. Früher oder später würde es zum Streit kommen, und dann wäre er ihr doch ausgeliefert. Statt ihr einen Heiratsantrag zu machen, fährt er mit ihr auf einen Feldweg und schlägt ihr zweimal mit einem schweren Montiereisen auf den Kopf. Während er sie aus dem Wagen zerrt, kommt Berenice wieder zu sich und rennt davon. Figueras folgt ihr. Sie darf auf keinen Fall entkommen! Schließlich findet er sie. Sie ist tot zusammengebrochen. Die Leiche versteckt er am nahen Seeufer. Einen abgetrennten Finger von Berenice, den er später im Auto findet, hebt er auf.

Sein mit dem von UPI erworbenen Polaroid-Foto illustrierter Artikel über Jacques Debierue erscheint in „Fine Arts: The Americas“, „Newsweek“ und in der Kunstbeilage der „Sunday New York Times“. Der Beitrag erregt großes Aufsehen. Zwar bleibt der erträumte kometenhafte Aufstieg des Kunstkritikers aus, aber die Zahl seiner Aufträge verdoppelt sich, und seine Honorare erhöhen sich gleichfalls.

Figueras schickt dem Künstler, den Cassidy im Seniorenheim „Regal Pines“ bei Melbourne, Florida, untergebracht hat, ein Dutzend Abzüge des Fotos und die Korrekturfahnen des Beitrags, den er für die neue Ausgabe der „Internationalen Enzyklopädie der Kunst“ verfasste. Debierue antwortet nicht darauf. Ein Jahr später stirbt er. Zehn Tage nach dem Tod des Künstlers erhält Figueras ein Paket mit dem Rahmen von „No. One“, auf dem mit Tesafilm eine tote Fliege klebt. Figueras weiß, was das aus dem Mittelalter stammende Symbol bedeutet: Er soll zur Hölle fahren!

Gerührt stellt Figueras fest, dass sein Beitrag über Debierue deutlich länger ist als alle anderen Artikel in der „Internationalen Enzyklopädie der Kunst“. Damit hat Debierue Goya, El Greco und Michelangelo übertroffen. Für die Bebilderung wählte die Redaktion eine Reproduktion des Gemäldes „Ketzerei in Orange“.

Zufrieden geht Figueras mit Berenices Finger zum nächsten Polizeirevier und sagt: „ich möchte ein Verbrechen gestehen, ein Verbrechen aus Leidenschaft.“

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Der Roman „The Burnt Orange Hersey“ erschien 1971. Die deutsche Ausgabe trug zunächst den Titel „Die Kunst des Tötens“ (1991). Inzwischen lautet der Titel „Ketzerei in Orange“ (2005).

Charles Willeford hat seinen Roman „dem großen Jacques Debierue (1886 – 1970)“ gewidmet. Doch den Namen dieses französischen Künstlers sucht man in Nachschlagewerken vergeblich, denn es handelt sich um eine fiktive Figur.

„Ketzerei in Orange“ ist eine Satire auf den Kunstbetrieb. Aus dem originellen, irrwitzigen Plot hätte man – besonders in der zweiten Hälfte – vielleicht noch mehr machen können. Doch auch so ist „Ketzerei in Orange“ eine unterhaltsame Mischung aus Thriller und Künstlerroman.

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2007
Textauszüge: © Frank Nowatzki / Pulp Master

Charles Willeford (Kurzbiografie)
Charles Willeford: Miami Blues

Natalia Ginzburg - So ist es gewesen
Natalia Ginzburg erzählt in "So ist es gewesen" die trostlose Geschichte einer gescheiterten Ehe aus der Sicht der Mörderin und in deren schnörkelloser, aus lakonischen Sätzen zusammengesetzten Sprache. Gerade in der Kargheit der Gestaltung liegt die Kunst Natalia Ginzburgs.
So ist es gewesen