Marguerite Yourcenar : Der Fangschuss

Der Fangschuss
Manuskript: 1938 Originalausgabe: Le coup de grâce, Paris 1939 Der Fangschuss Übersetzung: Richard Moering Carl Hanser Verlag, München / Wien 1968 dtv, München 2003 ISBN 978-3-423-13080-6, 162 Seiten Süddeutsche Zeitung / Bibliothek, Band 15, München 2004
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Erich von Lhomond, ein etwa 40 Jahre alter Deutscher, steht um 5 Uhr morgens in Pisa am Bahnhofsbüfett und wartet auf den Zug nach Deutschland. Dabei berichtet er den anderen Wartenden von seinen Erlebnissen im Winter 1919/20 im Baltikum ...
mehr erfahren

Kritik

In der schnörkellosen Novelle "Der Fangschuss" bilden die Kämpfe zwischen russischen Partisanen und deutschen Freischärlern im Baltikum im Winter 1919/20 den Hintergrund für eine teilweise authentische Tragödie zwischen zwei Männern und einer Frau.
mehr erfahren

Erich von Lhomond, ein etwa 40 Jahre alter Deutscher, der auf der Seite General Francos im Spanischen Bürgerkrieg gekämpft hatte, vor Saragossa am Fuss verwundet und dann auf einem italienischen Lazarettschiff behandelt worden war, steht um 5 Uhr morgens in Pisa am Bahnhofsbüfett und wartet auf den Zug nach Deutschland. Dabei berichtet er den anderen Wartenden von seinen Erlebnissen im Winter 1919/20 im Baltikum.

Sein Vater, ein Preuße mit französischen Ahnen, war bei Verdun gefallen und hatte seiner baltischen Mutter nichts als ein Eisernes Kreuz, einen Adelstitel und Schulden hinterlassen. Die Witwe zog mit ihrem 16-jährigen Jungen nach Kratovice (fiktiver Ort im Baltikum). Dort befreundete sich Erich mit Konrad von Reval, einem Balten mit russischen Vorfahren, dessen Vater in der Nähe von Dresden als Kriegsgefangener ums Leben gekommen war. Konrad wohnte mit seiner Schwester Sophie auf dem Schloss der verarmten Familie, zusammen mit seiner ledigen, halb verrückten Tante Praskovia, einer alten Bediensteten und dem Gärtner Michel. Gegen Ende des Weltkriegs überquerte Erich heimlich die Grenze und meldete sich zum deutschen Militär. Bevor er jedoch an die Front geschickt wurde, beendete ein Waffenstillstand den Krieg.

„Der geplatzte russische Dampfkessel verbreitete über ganz Europa eine Wolke angeblich neuer Ideen.“ In Kratovice quartierte sich ein Generalstab der Roten Armee ein. Dazu gehörte auch Leutnant Grigori Loew, ein junger Jude, der vor dem Krieg als Angestellter einer Buchhandlung in Riga Sophie von Reval bei der Auswahl ihrer Lektüre beraten und ihr die Ideale der Bolschewisten erklärt hatte. Sein Vater besaß einen Trödlerladen in Lilienkron und verlieh Geld zu Wucherzinsen. Die Mutter arbeitete als Hebamme und Schneiderin.

Antibolschewistische Truppen eroberten schließlich das Schloss zurück, in dem Konrad und Sophie von Reval lebten. Sie befanden sich nun mitten im Kriegsgebiet.

Erich von Lhomond tritt in das Freikorps des Generals Baron von Wirtz ein, das mit Esten und Letten gegen die Bolschewiken kämpft und versucht, die alte Ordnung der Großgrundbesitzer zu retten. Trotz seiner Orts- und Sprachkenntnisse benötigt er drei Monate, um sich von Riga hundert Kilometer weit nach Kratovice durchzuschlagen. Konrad und Sophie begrüßen den Freund in dem zerschossenen Schloss.

Sophie wurde von einem betrunkenen litauischen Sergeanten vergewaltigt. Seither argwöhnt sie bei jedem Mann, er wolle nur mit ihr ins Bett. Erich fühlt sich jedoch mehr zu seinem Freund als zu dessen Schwester hingezogen. Gerade weil Sophie spürt, dass er sie nicht begehrt, verliebt sie sich in ihn. Doch Erich verspürt eine „schäbige Angst, an dem Mädchen hängenzubleiben“ und weist Sophie zurück. Eines Abends sagt er ihr brutal ins Gesicht, dass er, wenn es ihn nach einer Frau verlangen würde, zuallerletzt an sie denken würde. „Diese Frau war wie ein großes Land, das ich erobert, aber nie betreten habe“, erinnert er sich später. Aber: „Man lässt einen hinreißenden Freund von zwanzig Jahren nicht wegen eines zweifelhaften Verhältnisses mit dessen eigener Schwester fallen.“

Sophie rächt sich, indem sie Franz von Aland ihre Schlafzimmertür öffnet. Der Junge, dessen Eltern 1917 von den Bolschewiken ermordet wurden, hängt mit „hündischer Ergebenheit“ an Sophie und ist „sklavisch“ verliebt in sie, obwohl sie ihm bei jeder Gelegenheit klar macht, dass sie Erich bevorzugen würde. Einige Wochen später gerät er in Gefangenschaft und wird von den Roten getötet.

Chopin, ein Bankangestellter aus Warschau, Sohn eines polnischen Intendanten, der zu Beginn der Russischen Revolution nach Kratovice kam, macht Erich eines Tages darauf aufmerksam, dass Sophie betrunken in der Küche sitzt. Als dieser nach ihr schaut, deutet sie auf die Speisekammer, wo der zerfetzte Kadaver ihres Hundes Texas liegt. Er hatte mit seiner Schnauze nach einem Blindgänger gegraben.

Zehn Wochen nach seiner Rückkehr bemerkt Erich in einer Nacht, dass das Licht einer Petroleumlampe in Sophies Zimmer auf den Balkon fällt: Sie hat nicht verdunkelt und gefährdet damit nicht nur sich selbst, sondern auch alle anderen im Schloss. Erich schließt die Fensterläden. Ohne zu wissen warum, öffnet er sie nach einer Weile wieder, obwohl ein feindliches Flugzeug zu hören ist. Einen Steinwurf entfernt schlägt eine Bombe auf dem Wellblechdach des Stalls ein. Voller Angst wirft sich Sophie an seine Brust. Kein Erlebnis mit einer Prostituierten oder Zufallsbekannten hat ihn auf „diese furchtbare Zärtlichkeit“ vorbereitet. Das Entzücken schlägt rasch in Entsetzen um. Er reißt sich los. „Sie schlug die schweren Augenlider auf und las in meinen Zügen etwas, das ihr offenbar noch unerträglicher war als Hass oder Schrecken, denn sie bedeckte ihr Gesicht mit ihrem erhobenen Arm wie ein geohrfeigtes Kind.“

Während die anderen am Weihnachtsabend feiern, bleibt Erich von Lhomond in seinem Zimmer, angeblich um einen Bericht zu verfassen. Gegen Mitternacht geht er dann doch hinunter in den Salon. Sophie tanzt abwechselnd mit den jungen Männern und lässt sich von ihnen unter einem Mistelzweig im Kronleuchter küssen. Beim Eintreten Erichs tanzt sie gerade mit Volkmar von Plessen, einem der anderen Freikorps-Offiziere. Als sie Erich erblickt, küsst sie Volkmar gleich noch einmal — „verlockender und verlogener als nur je eine Filmschauspielerin, die noch mit den geschlossenen Augen nach der Kamera schielt“. Erich versteht, dass sie ihm mit diesem Kuss den Krieg erklärt. Er packt sie am Arm und ohrfeigt sie. Volkmar ist so verdutzt, dass es einige Zeit dauert, bis er sich auf Erich wirft und sich mit ihm prügelt.

Am nächsten Morgen marschieren Erich und Volkmar mit ihren Leuten ab, um einer eingekesselten Einheit zu Hilfe zu kommen. Als Erich nach einigen Wochen von dem gescheiterten Einsatz zurückkommt, verlässt Sophie gerade das Schloss: „Oh, wie ihr mich alle anekelt…“, stöhnt sie im Vorbeigehen.

Erich überlegt, wohin sie gegangen sein könnte. Er vermutet, dass sie die Beziehung zu Grigori Loew nie ganz abgebrochen hat, obwohl er Offizier in der Roten Armee geworden war. Unter dem Vorwand, Lebensmittel zu beschaffen, fährt er mit ein paar Männern im gepanzerten Lastwagen nach Lilienkron. Jakob Loew wurde inzwischen von einem Antibolschewisten erschlagen. Grigoris Mutter trägt über einem schwarzen Kleid Sophies Pelzjacke. Sie gesteht schließlich, dass Sophie bei ihr war, um sich einen Männeranzug zu besorgen.

Am 30. April 1920 verlassen die deutschen Hilfstruppen Kratovice. Im Schloss bleiben nur Praskovia und ihre alte Dienerin zurück. Erich, Konrad und Chopin wollen sich mit fünfzig Männern zu den Polen durchschlagen, die im Südwesten gegen die Roten kämpfen. Kosaken überfallen den Trupp. Konrad wird von einem Schuss in den Bauch getroffen und stirbt qualvoll in der Nacht.

Anfang Juni besetzen Erich und Chopin mit ihren Männern das Dorf Kovo. Ein paar Bolschewiken haben sich in der verfallenen Spinnerei am Flussufer verschanzt. Schließlich dringt das deutsche Hilfskorps in die Gebäude vor. Einer der ersten Toten, die Erich dort findet, ist Grigori Loew. Die Männer auf dem Heuboden einer Scheune ergeben sich einer nach dem anderen. Plötzlich ruft der alte Gärtner Michel erschrocken: „Das gnädige Fräulein!“ Sophie steigt in Männerkleidern die Leiter herunter. Am nächsten Morgen ordnen Erich und Chopin die Liquidierung der Gefangenen an. Sophie verlangt, von Erich erschossen werden. (Später begreift er, dass es sich dabei nicht um einen Liebesbeweis, sondern um Rache handelte, denn er quält sich lebenslang mit seinem Gewissen. „Mit solchen Frauen endet man immer in einer Falle.“)

Ein paar Tage später treffen polnische Soldaten ein. Erschöpft kehrt Erich nach Deutschland zurück. Dann bricht er wieder auf, um in faschistischen Bewegungen zu kämpfen.

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Die belgische Autorin Marguerite Yourcenar wählte in der schnörkellosen und – vor allem in der ersten Hälfte – etwas spröden Novelle „Der Fangschuss“ bewusst die Ich-Form, um das erotische Dreieck Sophie – Erich – Konrad aus der Perspektive Erichs schildern zu können. Auf diese Weise wird deutlich, dass der Erzähler mit sich selbst nicht ins Reine kommt. Von Konrad spricht er nur selten, und seine homoerotischen Neigungen deutet er nur an – vielleicht gerade wegen der Bedeutung, die sie für ihn haben. Im Vordergrund seines Geständnisses steht die verarmte baltische Adelige Sophie, die sich nach ihrer Vergewaltigung in einen preußischen Standesgenossen verliebt, gerade weil dieser sie sexuell nicht bedroht. Als Erich ihre offen eingestandene Liebe brüsk zurückweist, reißt sie sich ihre Gefühle aus dem Herzen, indem sie sich zuerst wahllos anderen Männern hingibt und dann zum Feind überläuft. Dabei bleibt ihre Auflehnung emotional, auch wenn es sich vordergründig um eine von ihrem Jugendfreund Grigori Loew beeinflußte politische Entscheidung handelt. Mit ihren Küssen, ihrem Bekenntnis zum Bolschewismus und mit ihrer Forderung, von Erich persönlich erschossen zu werden, rächt sie sich für die Zurückweisung. Erich kann sich nicht von seiner Schuld befreien und blickt im Alter von 40 Jahren auf sein gescheitertes Leben zurück.

Marguerite Yourcenar (eigentlich: Marguerite Antoinette Jeanne de Crayencour, 1903 – 1987) stammte aus einem alten französisch-belgischen Adelsgeschlecht. Ihre Mutter, Fernande de Cartier de Marchienne, starb im Kindbett. Ihr Vater, Michel Cleenewerck de Crayencour, ein hochgebildeter, nonkonformistischer Kosmopolit, war zu diesem Zeitpunkt bereits 50. Marguerite studierte in Frankreich, England und in der Schweiz. Während des Zweiten Weltkriegs arbeitete sie als Lehrerin in den USA, und 1939 ließ sie sich auf der Insel Mount Desert (Maine) an der amerikanischen Ostküste nieder. Als erste Frau wurde sie 1980 in die Académie française aufgenommen.

Volker Schlöndorff verfilmte Marguerite Yourcenars Novelle 1976 mit Matthias Habich als Erich von Lhomond und Margarethe von Trotta als Sophie de Reval: „Der Fangschuss“.

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2002

Marguerite Yourcenar: Anna, soror …
Volker Schlöndorff: Der Fangschuss

Martin Suter - Der Koch
Offenbar kam es Martin Suter weniger auf Tempo und Spannung als auf Kulinarik an. "Der Koch" ist vor allem ein Roman für Gourmets, denen bei der Beschreibung der raffinierten Speisefolgen das Wasser im Mund zusammenlaufen dürfte.
Der Koch