Der Fall Eschenau


Irmgard M. aus Eschenau südwestlich von Knetzgau am Nordrand des Steigerwalds meldete sich im Januar 2006 bei der zuständigen Polizeiinspektion in Haßfurt. 1973 sei sie als vierzehnjährige Konfirmandin in der Waschküche des evangelischen Pfarrhauses von Eschenau von dem damals neunzehnjährigen Bauernsohn Siegfried W. vergewaltigt und defloriert worden, erklärte sie. »Wir pflücken euch alle«, soll er gehöhnt haben. Trotz seiner Drohungen hatte sich Irmgard damals ihrer Mutter anvertraut, aber aus Angst, Eschenau wegen des Geredes mit ihren sieben Kindern verlassen zu müssen, hatte die Witwe sie aufgefordert, zu schweigen. Als Irmgard M. dreiunddreißig Jahre später endlich zur Polizei ging, war der Fall verjährt.

Jahrzehntelang hatte sie mit sich gerungen, ob sie Anzeige erstatten sollte oder nicht. 1975, zwei Jahre nach Irmgards Vergewaltigung, war ihre sechs Jahre jüngere Schwester im Wald von einem Exhibitionisten erschreckt worden, bei dem es sich ebenfalls um einen Eschenauer gehandelt haben soll, um den damals achtundzwanzig Jahre alten Alfred G. Damit nicht genug: Im Juli 1978 bot Alfred G. sich an, Irmgards Nichte Beate G. in seinem Wagen von einem Kinderfest nach Hause zu bringen. Unterwegs hielt er auf einen Waldweg an, zog der Siebenjährigen das Höschen aus, entblößte sich selbst und versuchte, das sich wehrende Kind zu penetrieren. Als er befürchtete, entdeckt zu werden, ließ er von Beate ab, aber ein halbes Jahr später versuchte er erneut, sie zu vergewaltigen, diesmal in seinem Gartenhäuschen. Erst zwei Jahre später, 1980, erzählte Beate ihrem eineinhalb Jahre älterem Bruder, was geschehen war. Der alarmierte die Eltern, die sich daraufhin von Beate alles schildern ließen und sich kurz darauf an Alfred G.’s mit der Familie befreundete Ehefrau wandten, die ihnen zusicherte, dass ihr Mann eine Therapie machen werde. (Tatsächlich nahm er dann aber nur zwei Termine bei einer Psychotherapeutin wahr.) Aus Mitleid verzichteten Beates Eltern auf eine Anzeige gegen den Familienvater, dessen Ehefrau als Tagesmutter in Eschenau tätig war (!).

Irmgard M.s Anzeige vom Januar 2006 blieb ebenfalls ohne Folgen – bis im März des darauffolgenden Jahres die zwei Jahre ältere Heidi Marks mit ihrem Ehemann Rick aus Fort Wayne, Indiana, für vier Wochen nach Eschenau kam, um ihren 50. Geburtstag und die Silberne Hochzeit mit den Eltern, ihren beiden Schwestern und deren Familien in ihrem Geburtsort zu feiern.

Fünf Tage vor dem geplanten Rückflug saß sie mit ihrem Mann und Irmgard M.s Schwester zusammen und erfuhr an diesem Abend von den Vorwürfen gegen Alfred G. und Siegfried W. Heidi Marks, die 1981 in die USA ausgewandert war, hatte wie Irmgard M. jahrzehntelang geschwiegen. Als sie bei ihrem Besuch in Eschenau erfuhr, dass sie nicht das einzige Opfer der beiden noch immer in Eschenau lebenden Männer gewesen war, ging sie am 28. März 2007 ebenfalls zur Polizei. Sie wusste zwar über die Verjährung Bescheid, aber sie gab zwei Tage später ihre Erinnerungen zu Protokoll: Der zehn Jahre ältere Alfred G. habe sie von ihrem vierten Lebensjahr an immer wieder missbraucht, bis er zur Bundeswehr eingezogen wurde, und der drei Jahre ältere Siegfried W. habe sie vom zehnten Lebensjahr an vergewaltigt, bis sie mit fünfzehn aus Eschenau fortkam, weil sie ihre ahnungslosen Eltern überreden konnte, sie in der diakonischen Anstalt im hundert Kilometer entfernten Neuendettelsau eine Hauswirtschaftslehre machen zu lassen.

Mit ihrer Aussage trat Heidi Marks eine Lawine los. Während sie und ihr Ehemann bereits wieder in Fort Wayne waren, ermittelte die Polizei und stieß auf weitere Anschuldigungen gegen die beiden Männer. In Eschenau kursierten Gerüchte. »Die Amerikanerin« habe einen Stein ins Rollen gebracht, hieß es, aber zunächst wusste man nicht, ob andere Frauen ähnliche Beschuldigungen erhoben hatten.

Am 6. Mai 2007 trafen sich Vertreter verschiedener Vereine und der Feuerwehr im Gemeindesaal in Eschenau, um die Vorbereitung des alljährlichen Dorffestes am 23. Juni zu besprechen. Irmgard M.s Ehemann, ein Schwager von Heidi Marks und der Ortssprecher von Eschenau plädierten dafür, das Fest ausfallen zu lassen; man könne nicht feiern, während in Eschenau wegen des Missbrauchs von Kindern ermittelt werde. In dem Gezänk gab eine der Organisatorinnen zu, ihr Ehemann Alfred habe zwar mal etwas mit einem Mädchen gehabt, aber das sei »vor siebenundzwanzig Jahren« gewesen und mit den Eltern des Kindes habe man sich damals »einvernehmlich verständigt«.

Heidi Marks erfuhr in Fort Wayne durch Telefongespräche, dass ihre Eltern beschimpft wurden und ihr achtundsiebzigjähriger Vater – ein früherer Bürgermeister von Eschenau – von einem Hof gejagt worden war, als er das kirchliche Sonntagsblatt hatte einwerfen wollen. Aus Sorge um ihre Angehörigen flog Heidi Marks erneut nach Deutschland. Diesmal konnte ihr Mann sie allerdings nicht begleiten. Am 17. Mai – dem Feiertag Christi Himmelfahrt – traf sie in Frankfurt am Main ein, wo ihr in Eschenau lebender Schwager sie abholte.

Am selben Morgen hatte sich Siegfried W. in einer Scheune seiner Tante im Nachbarort Westheim erhängt. Der Dreiundfünfzigjährige, dem klar gewesen sein musste, dass die Vorwürfe gegen ihn wegen Verjährung gerichtlich nicht hätten geklärt werden können, hinterließ einen Abschiedsbrief, in dem es hieß: »Die Familien und ihre Helfershelfer werden mit ihren Anschuldigungen und Lügen nicht aufhören. Und ich werde nicht büßen für Dinge, die ich nicht getan habe.« Das »Haßfurter Tagblatt« lehnte es zwar ab, diesen Text – wie von den Hinterbliebenen gewünscht – in die Todesanzeige aufzunehmen, aber der Inhalt des Schreibens wurde auch so bekannt. Als Siegfried W. am 23. Mai bestattet wurde, folgten dem Sarg dreihundert Trauergäste, obwohl es in ganz Eschenau nur hundertneunzig Einwohner gab: Der wohlhabende Großbauer hatte zu den angesehenen Bürgern des Dorfes gehört und war auch in der Umgebung bekannt gewesen.

Auch Alfred G., der sieben Jahre ältere andere Beschuldigte, trug sich mit Selbstmordgedanken, aber ein von seiner Ehefrau zu Hilfe gerufener Nachbar konnte sie ihm ausreden. Er wurde am 24. Mai 2007 festgenommen.

Die Stimmung in Eschenau richtete sich weniger gegen die beschuldigten Männer als gegen die Frau, die alles ins Rollen gebracht hatte. Bundesweit berichteten die Medien über die Vorkommnisse in Eschenau. Rufmord und Nestbeschmutzung warfen die Bürger Heidi Marks deshalb vor. Von Reportern erfuhr sie, was zornige Dorfbewohner über sie redeten. »Die wird schon ihren Busen rausgehängt haben«, hieß es beispielsweise in einem Leserbrief an eine Lokalzeitung. Am 27. Mai warnte sie der Wirt des Gasthofes, in dem sie sich einquartiert hatte, man habe ihm am Morgen gesagt: »Wenn die nicht sofort geht, könnte was passieren.« Daraufhin packte Heidi Marks ihre Sachen und floh zum zweiten Mal aus ihrem Heimatort, diesmal zu einer Freundin in Neuendettelsau.

Am 21. September beantwortete Heidi Marks in der vom SWF ausgestrahlten Talkshow »Nachtcafé«, die an diesem Abend unter dem Motto »Leichen im Keller« stand, die Fragen des Moderators Wieland Backes. Dabei sprach sie bewusst von einem fränkischen Dorf, ohne den Namen ihres Heimatortes zu erwähnen und betonte, dass es ihr nicht um Rache ging. »Ich will nicht mehr schweigen müssen, über das, was mir angetan wurde«, sagte sie, »Ich will verhindern, dass Ähnliches anderen Mädchen und Frauen angetan wird.«

Während die Staatsanwaltschaft Bamberg die Ermittlungen gegen den toten Großbauern eingestellt hatte, musste sich der sechzigjährige kaufmännische Angestellte Alfred G. am 10. und 11. Oktober 2007 vor dem Landgericht Bamberg verantworten: Ein »kleiner Mann mit großer Brille und gerötetem Kopf. Sein grauer Vollbart wird zum Kinn hin breiter, lässt das Gesicht kantig wirken« (Andreas Unger, »Tagesspiegel«, 13. Oktober 2007). Weil ein Teil der Vorwürfe verjährt war, ging es in dem Prozess nur noch um drei mutmaßliche Opfer aus zwei Generationen, aber Heidi Marks wurde als Zeugin geladen. Der Frau, die jahrzehntelang unter Depressionen und Panikattacken gelitten hatte, war es wichtig, dem Angeklagten gegenüberzutreten und sich selbst zu beweisen, dass er keine Macht mehr über sie ausüben konnte. Fünf Minuten bevor sie in den Gerichtssaal gerufen wurde, überreichte ihr ein Gerichtsvollzieher ein Schriftstück des Rechtsanwalts Heinz V. aus München, der inzwischen Siegfried W.’s Witwe vertrat. Heidi Marks sollte sich verpflichten, bestimmte Passagen aus dem Polizeiprotokoll, die sich gegen den Toten richteten, nicht zu wiederholen und eine entsprechende Unterlassungserklärung unterschreiben. Das tat sie jedoch nicht. Als der Verteidiger Jörg H. während der Vernehmung von Heidi Marks behauptete, ihm sei zu Ohren gekommen, dass sie es »ganz wild getrieben« habe, fragte sie rhetorisch zurück: »Mit vier Jahren?«

Das Gericht hielt es am Ende für erwiesen, dass Alfred G. sich nicht nur 1978 an Beate G., sondern Mitte der Neunzigerjahre bzw. im Herbst 2005 auch an zwei weiteren Mädchen vergangen hatte. In einem Fall streichelte er eine Siebenjährige, die bei einem Grillfest auf seinem Schoß saß, unter einer Decke an den Genitalien. Weder seine Ehefrau noch die Eltern des Mädchens merkten etwas. Im Herbst 2005 sah er sich mit dem Mädchen, das von seiner Frau als Tagesmutter betreut wurde, den Film „Harry Potter und der Gefangene von Askaban“ an. Während sie auf dem Sofa im Wohnzimmer saßen, öffnete er die Hose der Elfjährigen, griff hinein und blieb mit seiner Hand mehrere Minuten lang zwischen ihren Beinen. Nicht einmal der Gutachter Wolfgang G. konnte das Verhalten des seit kurzem geschiedenen Vaters von drei Söhnen erklären. Die Anwältin Barbara Rost-Haigis, die Vertreterin der Nebenklägerin Beate G., kommentierte das mit dem Satz: »Wir sehen also in den Abgrund der Normalität.« – Wegen zwei versuchten Vergewaltigungen der damals siebenjährigen Beate G. im Jahr 1978 und sexuellen Missbrauchs von zwei weiteren Mädchen Mitte der Neunzigerjahre bzw. 2005 wurde Alfred G. zu viereinhalb Jahren Haft verurteilt. »Es gibt kaum etwas Schlimmeres, was man einem Kind antun kann«, meinte der Richter Konrad Dengler. (Das Urteil ist seit März 2008 rechtskräftig.)

Das idyllische Dorf Eschenau kam nicht zur Ruhe. Das Kesseltreiben gegen Irmgard M. und die Angehörigen von Heidi Marks ging weiter. Heidi Marks‘ jüngste Schwester zog mit ihrer Familie fort, nachdem Autoreifen ihrer Mutter und ihres Ehemanns mit Nägeln zerstört worden waren, weil sie die Anfeindungen nicht mehr ertrug und sich Sorgen um ihre beiden kleinen Söhne machte, die im Heimatort gemieden wurden. Bei einer Bürgerversammlung am 16. Oktober 2007 in Eschenau, die von etwa hundert Personen besucht wurde, kam es zum Eklat: Der aus München angereiste Rechtsanwalt Heinz V. versuchte den Eindruck zu erwecken, die Vorwürfe gegen Siegfried W. seien haltlos, heizte die Stimmung gegen die »vermeintlichen Opfer« sexueller Übergriffe an und stellte die Hinterbliebenen des Mannes, der sich erhängt hatte, als »die eigentlichen Opfer« dar. Ein Zeuge kommentierte: »Das war ein Tribunal. Das war Mittelalter.«

Heidi Marks und Susanne Will beschrieben die Vorgänge in einem Buch mit dem Titel „‚Als der Mann kam und mich mitnahm‘. Die Geschichte eines Missbrauchs“.

Stewart O'Nan - Der Zirkusbrand
"Der Zirkusbrand" ist kein Roman, sondern "eine wahre Geschichte", so der Untertitel des Buches von Stewart O'Nan, der versuchte, den Verlauf der Katastrophe zu rekonstruieren. Was fehlt, sind Identifikationsfiguren, an deren Schicksal die Leser mitfühlend Anteil nehmen könnten.
Der Zirkusbrand