"Graf Goetzen" / "Liemba"

Auf Befehl Kaiser Wilhelms II. baute die Meyer-Werft in Papenburg an der Ems 1913 ein Dampfschiff, das nach dem Ostafrikaforscher Gustav Adolf Graf von Götzen (1866 – 1910) getauft wurde: „Graf Goetzen“. (Offiziell hieß das Schiff „Graf Goetzen“, aber es trug nur die Aufschrift „Goetzen“.) Mit dem Dampfer, der für den Verkehr auf dem Tanganjikasee in der Kolonie Deutsch-Ostafrika bestimmt war, wollten die Deutschen die benachbarten belgischen Kolonialherren (Belgisch-Kongo) beeindrucken.

Die Pläne für das 67 Meter lange und 10 Meter breite Schiff stammten von dem Schiffbauer Anton Rüter. Es verfügte über sechzehn Kabinen – sechs für die erste, zehn für die zweite Klasse – und zwei Salons. Das kombinierte Passagier- und Frachtschiff war für sechzig Mann Besatzung ausgelegt.

Wie aber sollte die „Goetzen“ von der Ems auf den 1250 Kilometer vom Indischen Ozean entfernten, nicht mit der Küste über eine Wasserstraße verbundenen Tanganjikasee gelangen? Dafür hatte sich Anton Rüter etwas

Besonderes ausgedacht: Statt die Einzelteile des Schiffes zu verschweißen, nieteten die Arbeiter sie zusammen. Nachdem man die „Goetzen“ auf der Meyer-Werft zusammengebaut, auf Funktionstüchtigkeit überprüft und am 20. November 1913 getauft hatte, wurde sie wieder zerlegt und in fünftausend Holzkisten mit einem Gesamtgewicht von 1200 Tonnen verpackt. Diese wurden mit der Bahn nach Hamburg und von dort auf dem Reichspostdampfer „Feldmarschall“ durch den Suezkanal nach Daressalam gebracht. In der Hauptstadt der Kolonie Deutsch-Ostafrika ließ Anton Rüter, der den Transport mit Hermann Wendt und Rudolf Tellmann, zwei weiteren Mitarbeitern der Meyer-Werft, begleitete, die Kisten auf Eisenbahnwaggons umladen und auf der gerade erst fertiggestellten Trasse der Mittellandbahn (Tanganjikabahn) nach Kigoma am Tanganjikasee befördern.

Dort bauten mehr als zweihundertfünfzig Arbeiter unter der Anleitung der drei Deutschen den Dampfer wieder zusammen. Der Stapellauf erfolgte am 5. Februar 1915.

Anton Rüter übernahm als Kapitän das Kommando an Bord der „Goetzen“, die in Bismarckburg (Kigoma) an der Südspitze des Tanganjikasees stationiert wurde. Wegen des inzwischen ausgebrochenen Ersten Weltkriegs ließ er das Schiff am 9. Juni mit drei Geschützen bewaffnen. Dem deutschen Dampfer hatten weder Belgier noch Briten auf dem Tanganjikasee etwas entgegenzusetzen. General Paul von Lettow-Vorbeck (1870 – 1964), der Kommandeur der Schutztruppe für Deutsch-Ostafrika, verwendete ihn für Truppentransporte und Versorgungsfahrten. Am 10. Juni 1916 wurde die „Goetzen“ erstmals von belgischen Wasserflugzeugen bombardiert. Als die Deutschen Ende Juli Bismarckburg aufgeben mussten, befahl General von Lettow-Vorbeck die Versenkung der „Goetzen“. Bevor Anton Rüter die Seeventile öffnen ließ, achtete er darauf, dass das Schiff gegen den Rost dick mit Fett eingeschmiert wurde.

Noch im selben Jahr hoben die Belgier das Schiff, aber 1920 sank es während eines Sturms.

Aufgrund der Bestimmungen des Versailler Friedensvertrags wurde Deutsch-Ostafrika ab 20. Januar 1920 vom Völkerbund verwaltet. Belgien übernahm das Mandat für Burundi und Ruanda, Großbritannien das für Tanganjika.

Die Briten, die nun am Tanganjika-See das Sagen hatten, ließen die erneut gehobene „Goetzen“ instand setzen und nahmen das Schiff am 16. Mai 1927 unter dem neuen Namen „Liemba“ wieder in Betrieb.

Zu Beginn der Fünfzigerjahre benutzte John Huston die „Liemba“ für den Film „African Queen“ als Kanonenboot „Louisa“.

Tanganjika wurde am 9. Dezember 1961 vom United Kingdom in die Unabhängigkeit entlassen und bildete am 26. April 1964 mit Sansibar zusammen die Vereinigte Republik Tansania.

Anfang der Neunzigerjahre beauftragte die tansanische Regierung die Danish International Development Agency (DANIDA), das Schiff zu begutachten und ließ es restaurieren. Die weiß lackierte und mit zwei neuen Dieselmotoren versehene „Liemba“ bietet Platz für insgesamt sechshundert Passagiere, von denen weitaus die meisten an Deck bzw. in Sälen auf dem Boden schlafen, denn es gibt nur einundvierzig Kabinen (zwölf der ersten, neunundzwanzig der zweiten Klasse). Außerdem können 200 Tonnen Fracht befördert werden. Die „Liemba“ verkehrt wöchentlich zwischen Mpulungu in Sambia und Kigoma in Tansania. Die 700 Kilometer weite Fahrt dauert zwei Tage.

Stephan Lamby (Regie, Drehbuch) drehte 2001 den Dokumentarfilm „Die lange Fahrt der Graf Goetzen“ (53 Minuten). 2010 entstand ein weiterer Dokumentarfilm mit dem Titel „Liemba“ (Regie und Drehbuch: John Billingsley und Andrew Subin, 50 Minuten). Alex Capus schrieb über die „Goetzen“ den Roman „Eine Frage der Zeit“ (2007).

Literaturhinweis:
Sarah Paulus (Autorin), Rolf G. Wackenberg (Fotos): Von GOETZEN bis LIEMBA. Auf Reisen mit einem Jahrhundertschiff (artissage 2013, 255 Seiten, ISBN 978-3000420504).

© Dieter Wunderlich 2011 / 2013

Alex Capus: Eine Frage der Zeit

Leon de Winter - Place de la Bastille
Leon de Winter erzählt in der Ich-Form aus der Sicht des Protagonisten und nicht chronologisch, sondern mit sorgsam komponierten Zeitsprüngen. Trotz der tragischen Thematik ist die Lektüre des Romans "Place de la Bastille" ein anspruchsvolles Vergnügen.
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