Sterbehilfe

Früher hatten die Menschen Angst vor dem Tod, heute haben sie Angst vor dem Sterben […] Die Angst vor der Hölle und dem Fegefeuer ist heute der Angst vor dem Siechtum auf Erden gewichen. Die Menschen fürchten sich, am Ende ihres Lebens an Schläuche gehängt, künstlich ernährt und entwürdigt zu werden. Es gibt niemanden, der ihnen diese Angst nimmt. Die Ars moriendi, die Kunst des Sterbens, ist verlorengegangen. (Nina von Hardenberg, Süddeutsche Zeitung, 5. Juli 2008)

Unter dem Begriff Sterbehilfe verstehen wir die Betreuung Sterbender und die Sterbehilfe im engeren Sinn, bei der sich vier Abstufungen unterscheiden lassen:

  • passive Sterbehilfe
    (Verzicht auf lebensverlängernde Maßnahmen, künstliche Beatmung usw.)
  • indirekte Sterbehilfe (medikamentöse, mit einer unbeabsichtigten Beschleunigung des Sterbens einhergehende Schmerzlinderung)
  • Beihilfe zum Suizid (zum Beispiel durch die Beschaffung eines tödlichen Giftes)
  • aktive Sterbehilfe (Tötung auf Verlangen)

Die Frage der Zulässigkeit von Sterbehilfe im engeren Sinn ist umstritten. Die christlichen Kirchen gehen von der Unantastbarkeit des gottgegebenen und deshalb auch der eigenen Verfügbarkeit entzogenen menschlichen Lebens aus. Diese Auffassung zwingt einen Arzt zwar nicht dazu, das Sterben mit allen Mitteln der modernen Apparatemedizin zu verlängern, aber sie verbietet es ihm, passiv oder aktiv Sterbehilfe zu leisten. – Das andere Extrem ist die Überzeugung, dass der Einzelne das Recht habe, über seinen eigenen Tod zu bestimmen. Diesem Selbstbestimmungsrecht wird beispielsweise in den Niederlanden durch ein am 1. April 2002 in Kraft getretenes Gesetz der Vorrang gegenüber dem Schutz des Lebens eingeräumt.

Die Problematik der Sterbehilfe ist sehr viel komplexer und berührt beispielsweise auch Befürchtungen eines Missbrauchs aufgrund finanzieller Erwägungen. Viele Menschen assoziieren damit die von den Nationalsozialisten durchgeführte Euthanasie. Für den Arzt kann die Sterbehilfe außerdem einen Konflikt mit seiner Berufsethik bedeuten, denn das Töten steht in krassem Gegensatz zu seiner Aufgabe des Heilens.

Der Wunsch eines Betroffenen nach Sterbehilfe wird häufig durch unerträgliche Schmerzen, Depressionen, das Gefühl der Sinnlosigkeit des Weiterlebens, die eigene Hilflosigkeit und/oder die Einsamkeit hervorgerufen. Hier setzt die Hospizbewegung an, die versucht, durch schmerzlindernde Mittel (palliative care), persönliche Zuwendung und menschenwürdige Begleitumstände den Wunsch nach Sterbehilfe gar nicht erst aufkommen zu lassen. Die 1967 mit der Gründung des weltweit ersten Hospizes in London entstandene Bewegung wendet sich mit ihren stationären und ambulanten Lösungen allerdings nur an Sterbende, nicht an unheilbar Kranke oder beispielsweise Querschnittgelähmte, deren Tod noch nicht abzusehen ist.

Papst Johannes Paul II. sagte am 24. März 2002: „Die Komplexität des Menschen fordert bei der Verabreichung der notwendigen Heilmethoden, dass man nicht nur seinen Körper berücksichtigt, sondern auch seinen Geist. Es wäre anmaßend, allein auf die Technik zu setzen. Und in dieser Sicht würde sich eine Intensivmedizin um jeden Preis bis zum Letzten schließlich nicht nur als unnütz erweisen. Sie würde auch nicht völlig den Kranken respektieren, der nun an sein Ende gelangt ist.“ (zit.: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21. Dezember 2006)

Juristisch hängt die Sterbehilfe im engeren Sinn mit Bestimmungen des Strafrechts (StGB) und des Standesrechts der Ärzte zusammen. In den 2004 formulierten „Grundsätzen der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung“ wurde die Aufgabe des Arztes zur Schmerzlinderung betont und hingenommen, dass es dadurch zu einer Lebensverkürzung kommen kann. Außerdem dürfte der Arzt lebensverlängernde Maßnahmen auf Wunsch eines sterbenden Patienten unterlassen, heißt es.

Einem Patienten, der bei klarem Verstand ist, darf der Arzt keine Behandlung aufzwingen. Führt ein Arzt eine Maßnahme gegen den erklärten Willen des Patienten durch, kann ihm das unter Umständen als Körperverletzung ausgelegt werden. Was geschieht jedoch, wenn ein Sterbender oder gehirngeschädigter Patient nicht mehr in der Lage ist, Entscheidungen zu treffen bzw. mitzuteilen? Wie soll man in diesen Fällen mit einer eventuell vorliegenden – unter Umständen Jahre alten – Patientenverfügung umgehen? – Die von der Bundesjustizministerin eingesetzte Arbeitsgruppe „Patientenautonomie am Lebensende“ legte am 10. Juni 2004 ihren Abschlussbericht vor („Patientenautonomie am Lebensende. Ethische, rechtliche und medizinische Aspekte zur Bewertung von Patientenverfügungen“), in dem eine gesetzliche Regelung der Form und Verbindlichkeit von Patientenverfügungen empfohlen wurde. Dafür sprach sich ein Jahr später, am 2. Juni 2005, auch der Nationale Ethikrat aus. Im Koalitionsvertrag der von Angela Merkel geführten Regierung vom November 2005 hieß es: „Die Rechtssicherheit von Patientenverfügungen wird gestärkt.“ Aber erst nach jahrelangen Auseinandersetzungen beschloss der Bundestag am 18. Juni 2009 auf der Grundlage eines von Joachim Stünker (SPD) erarbeiteten Entwurfs ein neues Gesetz über die Verbindlichkeit schriftlicher Patientenverfügungen für den Arzt (Drittes Gesetz zur Änderung des Betreuungsrechts). Ziel dieser nicht auf irreversibel zum Tod führende Erkrankungen beschränkten Regelung ist es, die Selbstbestimmung des Menschen sicherzustellen.

Zur Selbstbestimmung der Person gehört die Gewissheit, dass sie ihr auch in hilfloser Lage nicht genommen wird […]
Das Recht des Patienten, in jedem Stadium einer Krankheit eine Behandlung ablehnen zu können, gilt auch dann, wenn er sich nicht mehr äußern kann. Der Arzt muss sich also klaren Patientenverfügungen beugen; er muss auf künstliche Ernährung und Beatmung verzichten, wenn der Patient sich das vorab verbeten hat […] Das neue Gesetz gibt dem Patienten Autonomie und dem Arzt Rechtssicherheit […]
Das Recht hat nicht das Recht, den Menschen das Sterben zu erschweren. Das neue Gesetz ist daher ein gutes Gesetz […] Ohne das neue Gesetz würde der gefährliche Ruf nach aktiver Sterbehilfe, nach straffreier Tötung auf Verlangen, noch lauter als bisher. Aber solche Sterbehilfe wäre der falsche Weg. Das neue Gesetz ist ein Wegweiser in die richtige Richtung: Er zeigt zur palliativen Medizin. (Heribert Prantl, Süddeutsche Zeitung, 19. Juni 2009)

Roger Kusch (* 1954), der von 2001 bis 2006 Justizsenator von Hamburg gewesen war, stellte im November 2007 eine Injektionsmaschine vor und kündigte im März 2008 an, er wolle damit das Verbot der Sterbehilfe in Deutschland unterlaufen. Die mit einem Betäubungsmittel und tödlichem Kaliumchlorid gefüllte Maschine werde intravenös mit dem Patienten verbunden, der dann selbst auf den Startknopf drücken müsse, um die Injektionen auszulösen. Das Gift wirke so schnell, dass der Straftatbestand einer unterlassenen Hilfeleistung nicht eintreten könne. – Zwei Tage nachdem sich die neunundsiebzigjährige Bettina S. am 28. Juni 2008 in ihrer Wohnung in Würzburg mit einem Medikamentencocktail das Leben genommen hatte, lud Roger Kusch zu einer Pressekonferenz ein und präsentierte Video-Aufnahmen mit Aussagen der Lebensmüden. Während ihres Suizids hatte er ihre Wohnung für einige Zeit verlassen, aber zuvor eine Kamera eingeschaltet. Die Presseberichte über den von Roger Kusch in die Öffentlichkeit getragenen Fall heizten die Debatte über die Sterbehilfe erneut an.

Einem Grundsatzurteil des Bundesgerichtshofs vom 25. Juni 2010 zufolge ist der Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen nicht strafbar, wenn er dem Willen des Patienten entspricht. Das gilt auch für nicht todkranke Patienten, denn dem Gericht zufolge darf es keine Zwangsbehandlung gegen den Willen des Betroffenen geben. Der BGH hob damit ein Urteil des Landgerichts Fulda vom 30. April 2009 auf. Der Münchner Rechtsanwalt Wolfgang Putz war damals zu einer Geld- und Bewährungsstrafe verurteilt worden, weil er seiner Mandantin Elke Gloor geraten hatte, die Magensonde ihrer seit 2002 im Wachkoma liegenden Mutter durchzuschneiden, nachdem das Pflegeheim in Bad Hersfeld sich im Dezember 2007 geweigert hatte, Sterbehilfe zu leisten. (Die Tochter war freigesprochen worden, weil sie sich in der für sie nicht überblickbaren Rechtslage von einem Anwalt hatte beraten lassen.) Die Deutsche Bischofskonferenz kritisierte, das Urteil unterscheide nicht klar genug zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe.

Der am Universitätsklinikum Brüssel praktizierende belgische Kinderarzt Gerlant van Berlaer und einige seiner Kollegen sprachen sich am 6. November 2013 in einem offenen Brief dafür aus, auch unheilbar kranken Kindern Sterbehilfe zu leisten. Sterbehilfe ist zwar in Belgien bei volljährigen Patienten erlaubt, nicht jedoch bei unmündigen. (Quelle: Lisa Riesner, Süddeutsche Zeitung, 8. November 2013)

Am 6. November 2015 entschied der Deutsche Bundestag in zweiter Lesung ohne Fraktionszwang über vier Gesetzesentwürfe zur Regelung der Sterbehilfe. Eine klare Mehrheit der abgegebenen Stimmen entfiel auf den von einer Abgeordnetengruppe um Michael Brand (CDU) und Kerstin Griese (SPD) vorgelegten Vorschlag eines Verbots der geschäftsmäßigen bzw. von einem Verein organisierten Sterbehilfe. Das bedeutet, dass niemand Sterbehilfe „zu einem dauernden oder wiederkehrenden Bestandteil seiner Tätigkeit“ machen darf. Das von dem CDU-Abgeordneten Patrick Sensburg angestrebte Verbot jeglicher Beihilfe zum Selbstmord fiel ebenso durch wie der von Renate Künast vertretene liberalste Entwurf und Peter Hintzes Empfehlung, Ärzten die Sterbehilfe ausdrücklich zu erlauben.

Die Neuregelung (§217 StGB) lautet:
(1) Wer in der Absicht, die Selbsttötung eines anderen zu fördern, diesem hierzu geschäftsmäßig die Gelegenheit gewährt, verschafft oder vermittelt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
(2) Als Teilnehmer bleibt straffrei, wer selbst nicht geschäftsmäßig handelt und entweder Angehöriger des in Absatz 1 genannten anderen ist oder diesem nahesteht.

Nachtrag (2023): Am 26. Februar 2020 erklärte das Bundesverfassungsgericht das Gesetz (§217 StGB) für verfassungswidrig und annullierte rechtliche Restriktionen für freiwillige Hilfe bei frei verantwortlichen Suiziden. Seither versucht den Politik, die Sterbehilfe zu regeln, aber der Bundestag konnte sich bisher noch auf keines der vorgeschlagenen Konzepte einigen.

Literatur zum Thema Sterbehilfe

  • Ernst Ankermann: Sterben zulassen (München 2004)
  • Svenja Flasspöhler: „Mein Wille geschehe“. Sterben in Zeiten der Freitodhilfe
    (Berlin 2007)
  • Michael Friess: „Komm süßer Tod“. Europa auf dem Weg zur Euthanasie?
    Zur theologischen Akzeptanz von assistiertem Suizid und aktiver Sterbehilfe
    (Stuttgart 2008)
  • Wolfgang Prosinger: Tanner geht. Sterbehilfe – ein Mann plant seinen Tod
    (Frankfurt/M 2008)
  • Martina Rosenberg: Anklage Sterbehilfe. Machen unsere Gesetze Angehörige zu Straftätern? (München 2015)
  • Eberhard Schockenhoff: Sterbehilfe und Menschenwürde (Regensburg 1991)
  • Rita Kielstein und Hans-Martin Saß: Die persönliche Patientenverfügung. Ein Arbeitsbuch zur Vorbereitung (Münster 2005)

© Dieter Wunderlich 2005 / 2015

Mehr zum Thema Sterbehilfe:
. Eluana Englaro
. Terri Schiavo
. Ramón Sampedro
. Piergiorgio Welby

Romane und Spielfilme zum Thema Sterbehilfe:
. Pedro Almodóvar: Sprich mit ihr
. Alejandro Amenábar: Das Meer in mir
. Clint Eastwood: Million Dollar Baby
. Milos Forman: Einer flog über das Kuckucksnest
. Matti Geschonneck: Todsünde
. Michael Haneke: Liebe
. Ricarda Huch: Der Fall Deruga
. Rainer Kaufmann: Marias letzte Reise
. Ken Kesey: Einer flog über das Kuckucksnest
. Nikolaus Leytner: Die Auslöschung
. James A. Michener: Endstation Florida
. Michela Murgia: Accabadora
. Ferdinand von Schirach: Gott. Ein Theaterstück
. Thea Sharrock: Ein ganzes halbes Jahr
. Sven Taddicken: Emmas Glück

Urs Widmer - Im Kongo
Der zum Teil höchst komische Roman "Im Kongo" ist eine Farce auf die Heuchelei der Gesellschaft und auf sinnlos gewordene Rituale des Alltags sowie eine Anklage gegen Rassismus; außerdem eine liebevolle Hommage des Autors an Joseph Conrads "Herz der Finsternis".
Im Kongo