Pariser Vorort-Verträge


Am 10. September 1919 unterzeichnete die österreichische Delegation im Pariser Vorort Saint-Germain-en-Laye einen ebenfalls von den Siegermächten diktierten Friedensvertrag. Den nichtdeutschen Nationen der ehemaligen k. und k. Monarchie wurde zwar das Selbstbestimmungsrecht zugestanden, aber der sowohl von der Wiener als auch von der Weimarer Nationalversammlung angestrebte „Anschluss“ des verbliebenen österreichischen Staates an das Deutsche Reich wurde von den Siegermächten ausdrücklich untersagt (22. September 1919). Österreich musste die selbstständigen Nachfolgestaaten Polen, Tschechoslowakei, Ungarn und Jugoslawien anerkennen, Südtirol, Triest, Krain und Istrien an Italien abtreten.

Zwei Tage nach der Vertragsunterzeichnung in Saint-Germain (12. September) besetzte der italienische Dichter Gabriele D’Annunzio mit seinen Anhängern die dalmatinische Hafenstadt Rijeka (italienisch: Fiume) und „annektierte“ sie für Italien.

Die Italiener waren über die Pariser Verhandlungen tief enttäuscht, hielten die Alliierten doch kaum eines der geheimen Versprechen, die sie dem italienischen Königreich 1915 in London und zwei Jahre später in St. Jean de Maurienne gemacht hatten.

Bulgarien musste am 27. November 1919 im Friedensvertrag von Neuilly-sur-Seine südwestthrakische Gebiete an Griechenland abtreten und verlor damit erneut den Zugang zur Ägäis.

Im Waffenstillstandsvertrag hatte die ungarische Regierung Karolyi am 13. November 1918 zusagen müssen, weite Landesteile zu räumen. Am 21. März 1919 rief der Arbeiterrat in Budapest eine Räterepublik aus, die faktisch von dem Kommunisten Béla Kun (1886 – 1939) geführt wurde.

Rumänische und tschechische Angriffe brachten die ungarische Räterepublik bald in eine hoffnungslose Lage, und am 16. November 1919 zog Miklós Horthy (1868 – 1957) an der Spitze der gegenrevolutionären ungarischen Nationalarmee in Budapest ein. Die im Januar 1920 gewählte ungarische Nationalversammlung behielt die monarchische Staatsform zwar bei, berief aber keinen König, sondern setzte Horthy als Reichsverweser ein (1920 – 1944). In dem Friedensvertrag, den die ungarische Delegation am 4. Juni 1920 im Palais Grand Trianon in Versailles unterzeichnete, musste Ungarn auf rund zwei Drittel seiner Bevölkerung und seines Territoriums verzichten.

Der letzte der fünf Pariser Vorort-Verträge, der am 10. August 1920 von den Alliierten und Vertretern der türkischen Regierung in Sèvres unterzeichnete Friedensvertrag, wurde vom türkischen Parlament nicht ratifiziert und später durch die Friedensvereinbarungen von Lausanne ersetzt (24. Juni 1923).

Neun Millionen Menschen waren im Ersten Weltkrieg gefallen. Nicht nachvollzogen werden kann das Leid, das dieser Krieg verursacht hatte. Die Pariser Vorort-Verträge beendeten den Krieg. Wirklichen Frieden stifteten sie nicht.

Der ehemalige deutsche Kolonialbesitz und die osmanischen Gebiete im Nahen und Mittleren Osten wurden als Völkerbund-Mandate verteilt. Der Irak, Palästina, Tanganjika, Regionen Togos und Kameruns fielen an Großbritannien; Frankreich sicherte sich Syrien, den Libanon sowie den größeren Teil der ehemaligen deutschen Kolonien Togo und Kamerun; Ruanda-Urundi wurde Belgien zugesprochen; die Südafrikanische Union erhielt Deutsch-Südwestafrika; Nordostguinea kam an Australien, Samoa an Neuseeland, und die pazifischen Inseln nördlich des Äquators wurden Japan übertragen.

Fortsetzung

© Dieter Wunderlich 2006

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Florian Scheibe wechselt in dem Gesellschaftsroman "Kollisionen" immer wieder die Perspektive und schildert einzelne Szenen mitunter aus zwei verschiedenen, sich ergänzenden Blickwinkeln. Das ist reizvoll und betont die Spiegelungen, Parallelen und Gegensätze.
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