Sabina Spielrein


Sabina Nikolajewna Spielrein wurde nach dem damals gültigen russischen Kalender am 25. Oktober 1885 (7. November 1885) in Rostow an der Mündung des Don ins Asowsche Meer geboren. Ihr jüdischer Vater Naftuli Moschkowitsch Spielrein – russifiziert: Nikolai Arkadjewitsch Spielrein – war in kleinbürgerlichen Verhältnissen in Warschau aufgewachsen. Nach dem Biologiestudium in Deutschland hatte er sich 1883 als Großhändler für Getreide und Kunstdünger in Rostow niedergelassen und im Jahr darauf die Tochter des Rabbiners Mark Ljublinksi geheiratet: die Zahnärztin Eva Markowna Ljublinskaja. Ihr erstes Kind war Sabina. Die Söhne Jan (Yascha), Oskar (Isaak) und Emil kamen zwei, sechs bzw. vierzehn Jahre nach Sabina auf die Welt. Die 1895 geborene Tochter Emilja starb im Alter von sechs Jahren an Typhus.

Seit ihrer Kindheit litt Sabina Spielrein an Tics und nächtlichen Angstattacken. Weil sich die Symptome im Lauf der Zeit verstärkten, brachten ihre Mutter und deren Bruder sie nach dem glänzend bestandenen Abitur zur Behandlung in die Schweiz. Am 17. August 1904 wurde Sabina Spielrein in dem seit 1898 von Eugen Bleuler (1857 – 1939) geleiteten Privatsanatorium „Burghölzli“ bei Zürich aufgenommen und dort von Carl Gustav Jung (1875 – 1961) behandelt.

Schon während der Schulzeit hatte Sabina Spielrein zum Entsetzen ihres Vaters marxistische Flugblätter und Revolutionsliteratur verteilt. In Zürich traf sie sich heimlich mit anderen Russen, die eine gesellschaftliche Umwälzung anstrebten – und erschreckte damit ihren Therapeuten.

Am 25. April 1905 begann Sabina Spielrein ihr Medizinstudium an der Universität Zürich. Im Herbst betrachtete C. G. Jung die Therapie für beendet. Einige Zeit später ließ er sich auf eine Affäre mit Sabina Spielrein ein, obwohl eine persönliche Beziehung von Therapeut und Patientin als schwer wiegender Kunstfehler galt und ihm die Mechanismen der so genannten Übertragung

geläufig waren. Durch einen anonymen – möglicherweise von Jungs Ehefrau Emma geschriebenen – Brief wurden Nikolai Arkadjewitsch und Eva Markowna Spielrein im Winter 1908/09 auf das Verhältnis ihrer Tochter aufmerksam gemacht. Entrüstet reiste die Mutter nach Zürich. Carl Gustav Jung war zwar nicht bereit, mit ihr zu sprechen, aber er beendete die Liebschaft aus Angst vor einem Skandal. Am 7. März 1909 schrieb er seinem früheren Lehrer Sigmund Freud (1856 – 1939), dem in Wien lebenden Begründer der Psychoanalyse: „Sie [Sabina Spielrein] machte mir einen wüsten Skandal ausschließlich deshalb, weil ich auf das Vergnügen verzichtete, ihr ein Kind zu zeugen.“ Die junge Frau wandte sich in ihrer Verzweiflung am 30. Mai 1909 ebenfalls an Sigmund Freud und bat ihn, sie zu empfangen, aber das lehnte er zunächst ab. Jung klagte am 4. Juni in einem weiteren Schreiben an Freud: „Sie hatte es natürlich planmäßig auf meine Verführung abgesehen, was ich für inopportun hielt. Nun sorgt sie für Rache.“ Freud versuchte ihn zu beruhigen: „Kleine Laboratoriumsexplosionen werden bei der Natur des Stoffes, mit dem wir arbeiten, nie zu vermeiden sein.“ Und am 10. Juli 1909 bedankte C. G. Jung sich bei Freud für die Unterstützung in der „Spielrein-Angelegenheit“. Dieser Briefwechsel von Sigmund Freud und Carl Gustav Jung zeugt von einer männlichen Kumpanei gegen eine verzweifelte Frau, die sich aus Liebeskummer mit Selbstmordgedanken trug.

Sabina Spielrein war eine von 611 Russinnen, die im Wintersemester 1910/11 an einer Schweizer Universität Medizin studierten. Anfang 1911 promovierte Sabina Spielrein in Zürich mit einer Dissertation „Über den psychologischen Inhalt eines Falles von Schizophrenie“. Danach schrieb sie in München über „Die Destruktion als Ursache des Werdens“, und während eines mehrmonatigen Aufenthaltes in Wien wurde sie als zweite Frau in die dortige Psychoanalytische Vereinigung aufgenommen. Sigmund Freud, den sie in dieser Zeit besuchte, bot ihr im Jahr darauf an, zur „Correktur“ ihrer Abhängigkeit von C. G. Jung noch einmal nach Wien zu kommen, aber Sabina Spielrein blieb in Berlin, wo sie inzwischen mit ihrem Ehemann Dr. Feifel Notowitsch (Pawel Naumowitsch) Scheftel lebte. Der Arzt und die fünf Jahre jüngere Psychoanalytikerin hatten sich im Winter 1911/12 kennen gelernt und am 1. Juni 1912 geheiratet. Dort kam im Dezember 1913 ihre Tochter Renata zur Welt.

Als der Erste Weltkrieg ausbrach, brachte Pawel Scheftel Frau und Tochter in die Schweiz und meldete sich dann bei seinem Regiment in Kiew. Sabina Spielrein blieb mit Regina bis 1921 in Lausanne. 1921 bis 1923 lebte sie in Genf. Im Februar 1923 zog sie nach Moskau, und im Jahr darauf kehrte sie an ihren Geburtsort Rostow am Don zurück. Ihre Mutter war am 26. März 1922 gestorben. Dienstboten gab es in ihrem Elternhaus seit der Russischen Revolution keine mehr, und ihr Vater war nicht mehr Unternehmer, sondern arbeitete als Geschäftsführer einer Handelsgesellschaft. Pawel Scheftel lebte inzwischen mit seiner Kollegin Olga Snetkowa zusammen, die 1924 ein Kind von ihm bekam. Aber Sabina versöhnte sich mit ihm, und am 18. Juni 1926 wurde sie von ihrer zweiten Tochter entbunden: Eva.

Als Stalin 1936 die Psychoanalyse in der Sowjetunion verbieten ließ, arbeitete Sabina Spielrein zunächst als Pädologin und schließlich als Schulärztin, aber sie veröffentlichte auch weiter Arbeiten in Fachzeitschriften, die außerhalb der UdSSR erschienen.

1937 starb Pawel Scheftel, im Jahr darauf auch Sabinas Vater (17. August 1938). Ihre Brüder wurden aus politischen Gründen festgenommen und kamen vermutlich in Lagern bzw. Gefängnissen ums Leben.

Am 22. Juni 1941 überfielen die Deutschen Russland. Ein Jahr später, am 24. Juli 1942, nahmen sie Rostow ein. Die in Rostow lebenden Juden mussten sich am 11./12. August 1942 in einem Schulgebäude versammeln und dann zur Smijowskaja Balka (Schlangenschlucht) marschieren, wo sie erschossen wurden. Darunter waren auch die fünfundfünfzigjährige Sabina Spielrein und ihre beiden Töchter Renata und Eva.

Literatur über Sabina Spielrein

  • Karsten Alnaes: Als sie mit C. G. tanzte. (Roman, Übersetzung: Gabriele Haefs, 2006)
  • Renate Höfer: Die Psychoanalytikerin Sabina Spielrein (2000)
  • André Karger (Hg.): Ich hieß Sabina Spielrein.
    Von einer, die auszog, Heilung zu suchen (2006)
  • John Kerr: Eine höchst gefährliche Methode. Freud, Jung und Sabina Spielrein (1994)
  • Wolfgang Martynkewicz: Sabina Spielrein und Carl Gustav Jung.
    Eine Fallgeschichte (1999)
  • Bernhard Minder: Sabina Spielrein. Jungs Patientin am Burghölzli. Luzifer-Amor 7,
    Heft 14, 1994, S. 55 – 127
  • Bärbel Reetz: Die russische Patientin (2006)
  • Sabine Richebächer: Sabina Spielrein. „Eine fast grausame Liebe zur Wissenschaft“ (2005)
  • Sabina Spielrein: Tagebuch einer heimlichen Symmetrie. Die Frau zwischen Jung und Freud. Hg.: Traute Hensch (2003)
  • Sabina Spielrein: Ausgewählte Schriften. Hg.: Günter Bose und Erich Brinkmann (1986)
  • Sabina Spielrein: Sämtliche Schriften (2003)

Elisabeth Márton drehte den Dokumentarfilm „Ich hieß Sabina Spielrein“.

Originaltitel: Jeg hed Sabina Spielrein / Ich hieß Sabina Spielrein – Regie: Elisabeth Márton – Drehbuch: Yolande Knobel, Signe Mähler, Elisabeth Márton, Kristina Hjertén von Gedda – Kamera: Robert Nordström (fiktive Szenen); Jan Eriksson-Tillberg, Mischa Gavrjusjov, Gunnar Källström, Andréas Lennartsson (dokumentarische Szenen) – Schnitt: Björn Engström, Yolande Knobel – Musik: Vladimir Dikanski – Sprecher: Eva Österberg, Lasse Almebäck – 2002; 90 Minuten

David Cronenberg inszenierte den Spielfilm „Eine dunkle Begierde“.

© Dieter Wunderlich 2006 / 2011

Bärbel Reetz: Die russische Patientin
David Cronenberg: Eine dunkle Begierde

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